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Ein versunkenes Paradies

Momir Turudić

/ 15 Minuten zu lesen

Die Ada Kaleh war eine Insel in der Donau, auf der Christen und Moslems friedlich zusammenlebten. Sie lag am Eisernen Tor an der Grenze zwischen Serbien und Rumänien, war aber bis 1912 eine Exklave des Osmanischen Reiches. Als Rumänien und Jugoslawien 1968 den Djerdap-Stausee und das Kraftwerk am Eisernen Tor bauten, verschwand die Insel in den Fluten der Donau.

Der Geruch des Orients

Durch die Ornamente am Fenster, die die Worte Ada Kaleh umrahmen, fallen die Strahlen der Novembersonne und beleuchten einen großen Raum, in dem jedes Detail Orient atmet – die geschnitzten Stühle, die niedrigen Tische, die Fliesen mit Arabesken auf dem Boden, die Kronleuchter. Die Luft ist schwer, abgestanden, man fühlt, dass der Raum lange nicht gelüftet wurde. Emil Popesku bringt den Kaffee und gießt ihn in die Mokka-Tasse. Ein Geruch verbreitet sich, den ich kenne, der Geruch von Kaffee, der aus Bohnen gekocht wurde, die jemand selbst geröstet und in einer Handmühle gemahlen hat.

Ich habe ihn lange nicht mehr gerochen, aber ich habe ihn nach vierzig Jahren immer noch in der Nase. Ich war sieben Jahre alt, als meine Tante mich auf den Markt von Višegrad zu Besuch bei befreundeten Muslimen mitnahm. Zu Türken, wie man, damals ohne Boshaftigkeit, in den serbischen Dörfern sagte, wenn man von der anderen Seite der Donau sprach. Damals habe ich zum ersten Mal den Orient geschmeckt. Seitdem ist er in mir, dieser Geschmack. Er treibt mich dazu, ihn zu suchen, egal wo ich bin.

Das Café von Emil Popesku

Von Gerüchen spricht auch Emil Popesku: "Als ich hörte, dass mit dem Bau des Staudamms die Insel untergehen würde, wollte ich wenigstens etwas von dem retten, was uns Leute aus Turnu Severin mit diesem Ort verbindet. Ich habe nicht auf der Insel gelebt, aber als Kind bin ich oft dort gewesen, auch als junger Mann. Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen: Die Ada Kaleh war ein Korb voller Blumen in der Donau, Rosen, Feigen, Trauben, Oliven, Leute."

Popesku setzt sich. "Ich hatte dort viele Freunde, ich wollte ihnen helfen, damit sie, wenn sie sie die Insel verlassen müssen, wissen wohin. Und auch, dass sie dann tun können, was sie dort getan haben. Sie stellten Lokum her, also türkischen Honig, Marmelade aus Rosen, und diesen Kaffee. Das letzte Mal führte ich meinen Sohn dorthin, als er vier Jahre alt war. Er sagt bis heute, dass er sich an alles erinnert."

Das Café in Turnu Severin, der rumänischen Donau- und Grenzstadt zu Serbien, hat Popesku 1968 eröffnet, dem Jahr, in dem der Staudamm gebaut und die Leute auf der Insel umgesiedelt wurden. Ihr zu Ehren hat er sein Café Ada Kaleh genannt. Auch sein Café ist nicht mehr da, wo es einmal war. "Das alte Café war irgendwie schöner, aber sie haben das Haus und noch ein paar andere zerstört, als sie den Springbrunnen im Stadtzentrum gebaut haben, diesen großen aus Metall. Danach bin ich hierher umgezogen. Vier Jahre lang habe ich es eingerichtet, mich um jedes Detail gekümmert."

Während er erzählt, zündet sich Emil eine Zigarette an und ascht in eine große, rostige Dschezva, den kleinen Topf, in dem normalerweise türkischer Kaffee gekocht wird. "Diese Dschezva", erklärt er, "benutze ich nicht mehr, aber damals wurden in ihr zehn Kaffees auf einmal gekocht. In mein Café kamen ganz unterschiedliche Gäste, sowohl wegen des Kaffees als auch wegen der Süßigkeiten und wegen alles anderen auch. Manchmal kam ein ganzer Autobus Arbeiter direkt aus der Fabrik, aber auch die Reicheren kamen, zwei Präsidenten Rumäniens waren hier, als sie Turnu Severin besuchten."

Im Café, erzählt Emil, hätten seine Freunde von der Insel gearbeitet – in türkischer Tracht, mit Fes auf dem Kopf. Dann begann das Geschäft schlechter zu laufen. "2009 habe ich schließlich zugemacht. Ich glaube nicht, dass ich wieder anfangen werde, jetzt gibt es neue Gesetze. Wenn du Kuchen machen willst, brauchst du eine Erlaubnis zur Herstellung, viele Genehmigungen. Viele Türken sind gegangen, es gibt nur noch ein paar in der Stadt, sie sind alt und krank wie ich. Die jungen suchen heute andere Dinge, sie trinken Espresso oder Nescafé. Wer trinkt schon türkischen Kaffee?"

Eine Insel, viele Namen

Die Festung auf der Ada Kaleh (Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc publicdomain/zero/1.0/deed.de

Doch noch vor dem Café verschwand die Insel, die ihm den Namen gegeben hatte. Das war zwei Jahre nachdem Emil Popesku sein Café eröffnet hatte. 1970 überflutete die Donau die 1.750 Meter lange, kaum einen halben Kilometer breite Insel, auf der sich Legenden und Geschichte für viele Generationen gesammelt hatten. Die Überlieferung besagt, dass eben dort, auf diesem Fleckchen Erde mitten in der Donau, wo das Klima so mild ist wie das ihrer Heimat weit im Süden, die Argonauten rasteten und das erste Mal Oliven sahen. Die nahmen sie von der Ada Kaleh mit in die antike Welt.

Reich an Geschichte war die Ada Kaleh schon allein wegen ihrer Lage. Wer ihr Herr war, beherrschte den unteren Lauf der Donau: Die Ada Kaleh war der Eingang zur Fahrt durch das Eiserne Tor. Erzählungen aus alten Zeiten berichten, dass der römische Kaiser Trajan an eben dieser Stelle seine Legionen über den Fluss setzte, als er in den Krieg gegen die Daker zog. Er hatte seine Boote so miteinander verbunden, dass eine Brücke entstand, mit der Insel in der Mitte. An der selben Stelle überquerten die Mongolen die zugefrorene Donau bei ihrem schrecklichen Zug nach Westen. Nach ihnen zogen durch die Jahrhunderte Westgoten, Hunnen, Slawen, Ungarn, Österreicher, Serben und Türken vorbei. Den längsten Kampf um die Kontrolle über die Ada Kaleh führten die Türkei und Österreich – er dauerte mehr als fünfhundert Jahre.

Auch der Name der Insel änderte sich. Lange hieß sie Sa’an, die Herkunft dieser Bezeichnung verliert sich irgendwo im Nebel der Geschichte. Später war sie als Karolina bekannt, nach der gleichnamigen österreichischen Festung, oder Neu Orschawa nach der Stadt Orschowa am rumänischen Flussufer. Manchmal hieß sie, in einer Mischung aus Arabisch, Persisch und Türkisch, auch Ada-i Kebir, die Große Insel. Den Namen Ada Kaleh, der so viel bedeutet wie befestigte Insel, erhielt sie nach dem Bau der großen türkischen Festung. Unter diesem Name sollte sie auch in der Donau versinken.

Befestigungen gab es auf ihr schon lange, noch von den Römern, aber die letzte, die größte Festung begannen die Österreicher zu bauen. 1689 war das, 1717 wurde sie fertig gestellt. Felix Philipp Kanitz, ein österreichischer Naturforscher, Archäologe und Völkerkundler, notierte, dass es auf der Insel "eine Kaserne, ein Krankenhaus, eine Kirche und einen Tunnel unter der Donau zum serbischen Flussufer" gab. Dieser führte zur Uferfestung, "die vom österreichischen Zoll Fort Elisabeth genannte wurde".

Um die Insel wurden zahlreiche Schlachten geschlagen, mehrmals nahmen Österreicher und Türken sie sich gegenseitig weg. Das erste, was jeder Sieger unternahm, war die Markierung des Territoriums durch eine Gebetsstätte. Als die Türken 1738 die Ada Kaleh eroberten, machten sie aus dem Gebäude der österreichischen Militärkommandantur eine Moschee. Die Österreicher besetzten die Insel erneut im Frühjahr 1790 und wandelten die Moschee in ein Franziskanerkloster um. Aber nach nur einem Jahr wurde die Ada Kaleh im Friedensvertrag den Türken zurück gegeben, die das Kloster routiniert in eine Moschee zurückverwandelten. Doch die Zeit der türkischen Herrschaft ging langsam zu Ende. Als 1867 die letzten sechs türkischen Festungen auf friedlichem Wege den Serben übergeben wurden, verlor die Ada Kaleh ihre Bedeutung für die Großmächte. Fortan war sie ein völkerrechtliche Skurrilität. Die Verwaltung der Insel übernahm Österreich-Ungarn, wobei die Insulaner offiziell Bewohner des Osmanischen Reichs blieben. Sie waren jedoch von Zoll und Militärdienst befreit.

Multikulti auf der Donau

An der Donau, dieser ewigen Grenze zwischen den Welten, köchelte schon immer eine dickflüssige Mischung von Völkern und Religionen. Einen Trennungsstrich zu ziehen war da schwer. Erst recht auf der Ada Kaleh, die nach dem Ersten Weltkrieg noch einmal aufblühte. Sie hatte die schwere Last, immer wieder Kriegsbeute gewesen zu sein, von sich geschüttelt. Nach 1918 entschieden die Einwohner dafür, sich Rumänien anzuschließen. Im Frieden begann das Goldene Zeitalter der Ada Kaleh.

Noch immer wirkte die Insel wie ein vergessener Teil der Türkei in Europa, doch nicht nur Türken hatten sich dort angesiedelt. Im Dokumentarfilm Geschichten von der Ada Kaleh des Regisseurs Ismet Arasan erinnern sich in der Türkei verstreut lebende Bewohner der Insel, dass die Leute von überall herkamen, einige auch als Exilanten, Flüchtlinge und Abenteurer verschiedener Religionen und Nationen. Sie erzählen, dass sie zusammen lebten, sich vermischten, dass es nicht unüblich war, dass eine Jüdin einen Imam beerdigte oder ein Muslim einen orthodoxen Priester. An Hidrelez, einem muslimischen Feiertag, der auf Serbisch Djurdjevdan heißt, hatten alle frei. Die Insulaner waren wie eine Familie, sie achteten sich gegenseitig, trugen die selbe Kleidung, vor allem die traditionell türkische. Jeden Abend wurde getrunken, meist einheimischer Schnaps aus Maulbeeren, beim Schlafen wurden die Türen offen gelassen. Niemand konnte sich erinnern, dass jemals Diebstahl oder Streit verzeichnet worden wäre.

1931 besuchte der rumänische König Carol II. die Insel. Er trank Kaffee aus der Schale, aus der auch sein Vater getrunken hatte, hörte sich unter Gelächter die Legende an, nach der vor Zeiten jemand auf der Insel vorhergesagt haben soll, dass in eben diesem Jahr ein Herrscher auf die Insel kommen sollte, der den Inselbewohnern ihre Privilegien zurückgeben würde und sie zudem vom Zoll für die Einfuhr von Tabak und vier Waggons voller Zucker befreien würde und von der Steuer auf Souvenirs. Auf der Insel gab es eine Zigarrenfabrik, von deren Zigarren es hieß, sie könnten mit kubanischen konkurrieren. Sowohl Mitglieder der englischen Königsfamilie rauchten sie als auch der rumänische König selbst.

Jedes Jahr kamen zehntausende Touristen, um durch die schmalen, gepflasterten Gassen zu streifen, Ratluk mit Haselnüssen, Feigen- und Rosenmarmelade zu genießen, Halva, Wasserpfeifen. Auf einigen Schwarzweiß-Fotografien sieht man eine Fußballmannschaft, von der Kleidung her könnte es sich um die Fünfzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts handeln. Hinter dem Spielfeld schimmert die Donau. Manche sagen, das größte Problem sei gewesen, dass der Ball oft in den Fluss fiel und dass Zuschauer oder Spieler ihm hinterher schwimmen mussten.

Ansichtskarte von der Ada Kaleh (Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc publicdomain/zero/1.0/deed.de

Der Plan vom Staudamm

Auf einem Treffen in der Moschee verlas der Imam Redžep Hodža 1963 zum ersten Mal die Bekanntmachung, dass Rumänien und Jugoslawien ein Kraftwerk am Eisernen Tor und einen Stausee bauen wollen und die Insel untergehen würde.

Es gab einen Plan, die Bevölkerung, die komplette Festung und den größten Teil der Gebäude auf die Insel Șimian, die ehemalige Ada Gubavać, umzusiedeln. Șimian liegt 18 Kilometer stromabwärts, in der Nähe von Turnu Severin, wo Emil Popesku 1968 sein Café eröffnete. An dem Ort hatte vor fast zweitausend Jahren der geniale Baumeister Apollodor von Damaskus für den römischen Kaiser Trajan eine Brücke über die Donau gebaut.

Der rumänische Dokumentarfilm Der letzte Frühling auf der Ada Kaleh aus dem Jahr 1968 zeigt, wie die Festung Stein für Stein markiert und abgebaut wurde, um nach Șimian gebracht zu werden. Tatsächlich wurde auf Șimian ein großer Teil der Festung wieder errichtet, aber die Menschen gingen nicht mit. Vielleicht, weil Rumänien beschloss, dass das ganze Unterfangen zu teuer sei. Vielleicht auch, weil der Premierminister der Türkei, Süleyman Demirel, anlässlich seines Besuchs in Rumänien im Jahre 1967 den Einwohnern versprach, die Türen der Türkei stünden ihnen offen. Vielleicht aber auch, weil es für sie unvorstellbar war, ihre geliebte Insel durch eine andere zu ersetzen.

Den Leuten von der Ada Kaleh wurde freigestellt, nach Rumänien, Jugoslawien oder in die Türkei zu ziehen. Von den 600 Bewohnern zogen die meisten in die Türkei, einige wählten Jugoslawien. Manche Familien wurden zerrissen, die einen gingen auf die eine, die anderen auf die andere Seite der Donau. Wo auch immer sie hingingen: Sie nahmen die Geschichten vom verschwundenen Paradies und die Trauer über die verlorene Heimat mit.

"Eine Familie zog hierher nach Kladovo um, später gingen sie irgendwo anders hin," erzählt Brankica Joković, während sie gegenüber von Turnu Severin am serbischen Donauufer sitzt. "Hier ist wenig von der Ada geblieben, fast alle, die sich erinnern, sind gestorben. Mein Großvater hat mir erzählt, dass er und einige seiner Freunde oft auf die Insel gingen, sowohl vor als auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Heimlich, nachts, mit Booten. Dort war die Grenze, rumänische Wachposten standen an jedem der vier Tore der Festung, aber die kannten sie und ließen sie herein. Sie tauschten Blumen, Ratluk, Kuchen von der Insel, alles, was unsere Landsleute nicht zu machen wussten, gegen Getreide und Mais. Man musste Handel treiben. Hier an der Grenze gab es immer eine Tradition des Schmuggels."

Von den Einwohnern der Insel, die sich für Rumänien entschieden, gingen die meisten nach Constanța, Turnu Severin oder Orschowa. Ein Teppich aus der Moschee auf der Ada Kaleh wurde in die Moschee von Constanța gebracht, ein Geschenk des Sultans Abdülhamid II., 15 Meter lang und neun Meter breit.

Erinnerung an ein Paradies

Während draußen in der Sonne vom Herbst melancholische Hochzeitsgäste vorbeigleiten, erzählen Emil Popesku und sein Altersgenosse Viktor Rusu von der Insel, die ihr Leben geprägt hat. Zuerst verhalten, dann immer aufgeregter fällt der eine dem anderen ins Wort und korrigiert die Fehler in der Erinnerung. "Es gab ein Lied über eine Liebe zwischen einer jungen Türkin und einem rumänischen Flussschiffer, Ayşe und Dragomir, das wurde irgendwann in den Fünfzigern gesungen. Es hatte zwei Enden, ein glückliches und ein weniger glückliches. In einem Ende sind beide in die Donau gesprungen, weil die Familien nicht mit ihrer Liebe einverstanden waren. Beim Happy End blieben sie zusammen. Wenn rumänische Touristen mit dem Boot an der Insel vorbeifuhren, spielten wir dieses Lied immer am lautesten."

Als die Bewohner dann in die Wohnblocks umgesiedelt wurden, behielten sie vieles aus ihrem Leben bei. "Sie machten weiter das, was sie kannten", erinnert sich Rusu. "Die Blocks rochen nach Marmelade aus Rosen und Halva. Durgut, ein Freund, hat bei mir Süßigkeiten gemacht, dann ist seine Familie weggezogen. Ilmas Ombasi, ein anderer Freund, ist schon 1969 nach Istanbul gegangen."

"Vor dem Untergang wurden auch die Tiere umgesiedelt", sagt Popesku. "Es gab Schafe und Ziegen. Dann wurde alles mit Dynamit eingeebnet, wohl damit nichts stehen bleibt und die Schifffahrt gefährdet. Wir haben vom Ufer aus zugesehen, wie die Zypressen fielen und die Häuser. Es gibt eine Legende, nach der das Minarett übrig geblieben ist und immer dann zu sehen war, wenn die Donau wenig Wasser führte. Aber das entspricht nicht der Wahrheit. Ich habe gesehen, wie es fiel. Das letzte, an das ich mich erinnere, ist, dass das Wasser über die Baumkronen stieg und tausende Vogelnester auf der Wasseroberfläche schwammen. Der Fluss trug sie sanft hinweg, hinter ihnen her flogen Schwärme verwirrter Vögel." Das Schmugglernest, die Oase der Freiheit, das Paradies, in dem Kulturen, Nationen, Religionen in Frieden lebten, ist für immer im Wasser der Donau untergegangen.

Dem Djerdap-Stausee am Eisernen Tor an der Donau fiel die Insel zum Opfer. (Denis Barthel; Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc by-sa/3.0/de

Was bleibt, sind die Gräber

Die Überlieferung besagt, dass die Einwohner der Ada Kaleh geschworen hatten, dass sie, wo auch immer sie sterben, auf einer Insel beerdigt werden sollen. Die, die in Turnu Severin blieben, ließen sich auf dem Friedhof "Fähre" begraben. Dorthin kommt man, wenn man an den Mietskasernen aus sozialistischen Zeiten in den Vororten von Turnu Severin vorbeigeht, mit Balkonen voller Wäsche und Satellitenantennen, und den Weg bergauf nimmt. Um den Zaun, der den Friedhof umgibt, liegt viel Müll, aber von diesem Platz fällt der Blick auf Donau.

Auf dem christlich-orthodoxen Friedhof ist ein Stück für Mitbürger anderen Glaubens reserviert. Einen Zaun zwischen diesen Teilen gibt es nicht. Das einzige, was sie unterscheidet, ist das Kreuz auf dem einen und der Halbmond auf dem anderen Grab. Auf manchen Gräbern der Türken sind Bilder der Verstorbenen. Das ist nicht eben üblich in der islamischen Welt, aber auf der Ada Kaleh gab es diese sinnlosen Grenzen zwischen den Welten ohnehin nicht. So hat sich der Geist der Insel bis auf den Friedhof gerettet.

Die Gräber von der Ada selbst wurden nach Șimian umgezogen. Unter ihnen ist auch das Grab von Misčo Baba, über dessen Leben schwer zu sagen ist, ob es eher Mythos oder Wahrheit ist, wie so vieles, das mit der Insel zusammenhängt. Die Erzählung besagt, dass Baba ein Prinz im fernen Buchara war, der im Jahr 1786 abdankte, weil er im Traum mit heiligen Worten geheißen wurde, auf eine Insel zu ziehen. Also kam der Prinz auf die Ada Kaleh, wo er bis zu seinem Tod blieb. Die Insulaner erinnerten sich an ihn wegen seiner Bescheidenheit, die Legende besagt, dass er Wunderheilungen vollbrachte und Wasser in Wein verwandeln konnte. Er starb im 95. Lebensjahr, sein Grab wurde eine Pilgerstätte für viele Muslime und Christen.

Eiserner Vorhang am Eisernen Tor

Viele Jahre konnten die Bewohner der Ada Kaleh ihre Toten auf Šimijan nicht besuchen. Bis 1989 durfte nur das Militär die Insel betreten. Die Donau war eine Grenze zwischen den Welten, über ihr lag der Eiserne Vorhang, der Rumänien vom Westen trennte, der zu dieser Zeit in Jugoslawien begann.

Davon erzählen die zahllosen namenlosen Gräber auf der jugoslawischen Seite, die Gräber derer, die erfolglos versucht hatten, von Rumänien nach Jugoslawien zu schwimmen. Manche sind ertrunken, manche wurden erschossen, bevor sie die erdachte Grenze in der Mitte des Flusses erreicht hatten. Aus dieser Zeit stammt auch die Legende vom "rumänischen Torpedo", einer Flasche mit komprimierter Luft und angeschweißten Griffen, die, wenn man sie an einer Seite durchstach, den Flüchtenden zur anderen Seite des Flusses tragen würde.

Die ersten Besucher, die nach der rumänischen Revolution Șimian besuchten, fanden eine Festung vor, die von Sträuchern und Unkraut bewachsen war. Viele Grabsteine waren von Kugeln beschädigt worden, die wohl die Grenzposten zum Spaß abgefeuert hatten.

Trauer um eine Insel

Diejenigen, die für immer das Land oder den Ort, an dem sie geboren wurden, verloren haben, haben etwas gemeinsam. Es ist nicht nur der Verlust der Kindheit und der Jugend, jener Zeit, als jedem das Gras grüner zu sein schien als später, als alles noch unschuldig war und unendlich schön. Eher ist es eine Behinderung der Seele, das Gefühl, das etwas fehlt, etwas, das noch da ist, obwohl man weiß, dass das falsch ist. Ein Phantomschmerz. "Als wäre auch dieses Land und dieses Belgrad, dass ich einmal kannte, von der Donau fortgetragen worden," schreibt aus weiter Ferne ein Freund, der vor langem weggegangen ist.

Dieser Schmerz entweicht aus jedem Wort der Geschichten von der Ada Kaleh. "Die Insel hatte einen besonderen Geruch, er war an jeder Seite anders. Vom Fluss kam der fast meerähnliche Geruch des Wassers, um die Häuser herum verbreitete sich der Geruch der Früchte oder der Marmelade, die zubereitet wurde. Ging man auf den Basar, traf einen der Geruch das Tabaks. Im Frühjahr ergrünte die ganze Insel, und am Abend, sobald die Dämmerung fiel, begann ein richtiges Orchester quakender Fröschen. Alle haben eine Heimat, jeder kann seinen Herkunftsort besuchen, jeder kann irgendwohin zurück. Ich kann den Ort, an dem ich aufgewachsen bin, nicht meinem Mann und meinen Kindern zeigen", erzählt eine Frau.

Ein anderer trauert: "Für die Kinder war es besonders paradiesisch. Dort haben wir gelernt, mit anderen zu teilen. Die Feiertage waren besonders, in der Türkei haben wir eine solche Atmosphäre, solche Feiern nicht erlebt. Wir hatten einen Strand, aber wir konnten nicht weit vom Ufer fortschwimmen, wegen der Wirbel und Strudel. Die Leute lebten lang, sie aßen das, was sie selbst angebaut hatten, an der frischen Luft, es gab keine Automobile, keinen Stress. Ich danke Gott, dass ich meine Kindheit und Jugend in dieser paradiesischen Ecke der Welt erlebt habe. Wenn es irgendwo einen solchen Ort gäbe, ich würde alles aufgeben und dort leben."

Und noch ein anderer: "Ich habe die vier Ecken des Hauses geküsst, die Tür offen gelassen und bin mit Tränen in den Augen gegangen. Nachdem sie endgültig überschwemmt war, konnten die Leute noch lange Zeit Vögel sehen wie sie über der Donau flogen, dort, wo einmal die Ada Kaleh gewesen war."

Übersetzung aus dem Serbischen von Rüdiger Rossig

Chronologie

1717: Österreich errichtet auf der Ada Kaleh seine Festung Karolina. Am Ufer entstand das Fort Elisabeth. Beide Festungen gehörten zur so genannten Militärgrenze, mit der das Habsburgerreich seine Grenze gegen das Osmanische Reich sicherte.

1735: Österreich erobert Bosnien. Die Türken erobern Teile Serbiens.

1738: Die Türken erobern die Ada Kaleh und errichten eine Moschee.

1790: Österreich erobert die Donauinsel zurück.

1861: Nach der Gründung des Königreichs Rumänien ist Turnu Severin die Grenzstadt zu Österreich. Die Insel Ada Kaleh bleibt aber bis 1912 beim Osmanischen Reich.

1918: Nach dem Ersten Weltkrieg wird die Insel Rumänisch. Am südlichen Donauufer beginnt das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, aus dem später das Königreich Jugoslawien wird.

1945: Die Donau markiert die Grenze zwischen dem kommunistischen Rumänien und Titos Jugoslawien.

1968: Beide Staaten beginnen mit dem Bau des Djerdap-Stausees und den Kraftwerken Eisernes Tor I und II

1970: Umsiedlung der 600 Bewohner der Ada Kaleh. Viele gehen in die Türkei.

1974: Gründung des Nationalparks Djerdap am Donaudurchbruch am Eisernen Tor.

1989: Demokratische Wende in Rumänien. Der Eiserne Vorhang verschwindet.

2011: Konferenz zwischen Serbien, Rumänien und Bulgarien im Dreiländereck an der Donau. Im Rahmen der Donaustrategie der EU soll der Tourismus gestärkt werden.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Momir Turudić, geboren 1964 im serbischen Čačak, lebt in Belgrad und arbeitet für die serbische Wochenzeitung Vreme. Seine Berichterstattung über die Probleme der Roma ist international anerkannt worden. Er ist einer der führenden Autoren auf dem Gebiet des Mittleren und Nahen Ostens und Nordafrikas.