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Wohlstandsgrenze Weichsel

Agnieszka Hreczuk

/ 7 Minuten zu lesen

Die Weichsel teilt nicht nur Warschau in einen boomenden Westen und das alte Praga. Sie teilt das Land auch in Polen A und Polen B. Die Ursachen für diese Unterschiede reichen in die Adelsrepublik zurück. Verstärkt wurden sie aber während der Teilungen. Im preußischen Teilungsgebiet wuchs die Wirtschaft, im russischen und österreichischen hinkte sie hinterher. Seit der Unabhängigkeit 1918 versuchen die Regierungen dagegen anzukämpfen. Bisher vergeblich.

Blick vom Warschauer Kulturpalast über die Weichsel nach Praga. (© Inka Schwand)

Zweimal Warschau

Im Sommer ist der Blick am schönsten. Die Weichsel flimmert in der Sonne, die Strände am rechten Ufer locken die Müßiggänger. Die Altstadt am linken Ufer wirkt mit ihren Pastellfarben märchenhaft. Unten, direkt am Fluss, reihen sich die kleinen Kneipen an der Uferpromenade. Schiffe warten auf Touristen. Etwas weiter ragt der Kulturpalast, einst ein Zeichen von Modernität, aber auch der sowjetischen Hegemonie, über die Stadt hinaus. Immer noch ist er das höchste Gebäude in Warschau, doch inzwischen ist er umgeben von gläsernen Hochhäusern. Warschaus Westen orientiert sich an Frankfurt und Manhattan.

Das gegenüberliegende, rechte Ufer der Weichsel sieht deutlich ruhiger aus. Keine Promenade führt hier entlang. Zum Ufer führen Pfade durch Sträucher und Weiden. Für die alten Warschauer gibt es heute noch "Warschau" und "Praga". Zwei verschiedene Welten. Links die Metropole, rechts die Kleinstadt mit ihrer alten Bausubstanz und den Innenhöfen, die inzwischen die Künstler anziehen. Geändert hat sich bis heute wenig daran.Interner Link: Praga lebt sein eigenes Leben, jenseits von Warschau.

Polen A und Polen B

Der Osten Polens wie hier bei Suwałki ist wenig entwickelt, aber landschaftlich sehr reizvoll. (© Inka Schwand)

So, wie die Hauptstadt geteilt ist, so ist auch das Land geteilt. In einen wirtschaftlich blühenden und einen rückständigen Teil. Oder in Polen A und Polen B, wie es umgangssprachlich heißt. Zu Polen B gehören fünf der insgesamt 16 Woiwodschaften – und alle liegen sie östlich der Weichsel: Podlachien, Ermland-Masuren, Lublin, Karpatenvorland und Heiligkreuz. Insgesamt ein Drittel der Fläche des Landes nimmt Polen B ein, bewohnt von einem Viertel der Bevölkerung.

Es sind zwei Teile, die kaum etwas miteinander gemeinsam haben. Nicht nur wirtschaftlich. Die Spaltung betrifft alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Im Osten gewinnt bei den Wahlen der konservative Jarosław Kaczyński, im Westen der liberale Donald Tusk. In Westen überwiegen die Unterstützer der künstlichen Befruchtung, im Osten ihre Gegner. Im Osten gehen die meisten regelmäßig in die Kirche, im Westen säkularisiert sich die Gesellschaft. Die Trennlinie verläuft entlang der Weichsel. Es ist eine neue Teilung Polens. Nur, dass es in der Zeit der eigentlichen Teilungen drei Teilungsgebiete gab – das russische, preußische und österreichische.

Schuld ist der Adel

Doch die Kluft zwischen Polen A und Polen B reicht weiter zurück als in die Zeit der Teilungen, die 1772 begann und bis 1918 dauerte. Schon zuvor, in der polnisch-litauischen Adelsrepublik, lag der Großteil des Landes nicht westlich der Weichsel, sondern im Osten. Polen reichte bis ins heutige Litauen, Weißrussland und die Ukraine. Die Gebiete östlich der Weichsel waren dünn besiedelt. Dafür dominierten dort riesige landwirtschaftliche Güter, die den Adligen und Magnaten gehörten. Die Getreideproduktion brachte ihnen Reichtum.

Bis zum 17. Jahrhundert war Polen die Kornkammer Europas. Etwa anderthalb Millionen Tonnen Getreide wurden am Ende des 16. Jahrhunderts in Polen pro Jahr hergestellt. Mit geringen Kosten großen Gewinn erzielen, lautete die Devise des Adels. Die Produktion war extensiv, ohne Investitionen und Reformen, dafür aber mit billigen Arbeitskräften, weil die Bauern immer mehr zu Leibeigenen wurden. Hinzu kam eine ständige Vergrößerung der Ackerfläche, durch Rodung von Wäldern oder Enteignung der Bauern. Es bestand kaum Interesse am Handwerk, an der Industrialisierung sowie der Modernisierung der Landwirtschaft. So blieb es, bis die Adelsrepublik aufgeteilt wurde.

Zur Rückständigkeit im Osten gehörten auch die Städte. Zwar erlebten die Städte an der Weichsel – Krakau, Sandomierz, Kazimierz Dolny, Warschau, Włocławek, Graudenz, Thorn und Danzig – eine Blüte. Doch viele von ihnen sind, wie Krakau, Thorn, Kazimierz oder sogar Danzig, von der Weichsel getrennt. Wie in Warschau ist auch dort die Entwicklung ungleich verlaufen.

Im Gegensatz zu den Städten an der Weichsel entwickelten sich die anderen Städte im Osten nur zögernd. Es fehlten Zuzügler vom Land, weil die Bauern als Arbeitskräfte ans Land und ihre Grundherrn gebunden waren. Auch das ist ein Grund für die heutige Ungleichheit an der Wohlstandsgrenze Weichsel.

Westen, das war Preußen

Nach den Teilungen wandelte sich die Rolle der Weichsel. Zwar floss der Strom noch immer durch das ganze Land, aber dieses Land gab es nicht mehr. Es gehörte nun zu Österreich am Oberlauf, zu Russland am Mittellauf und zu Preußen am Unterlauf der Weichsel.

Die Entwicklung der Teilungsgebiete war nun abhängig von der Entwicklung der Teilungsmächte. Auch die war ungleich. Während die westlichen und nördlichen Gebiete die preußische Industrialisierung erlebten, blieben die zentralen und östlichen Teile, unter russischer Herrschaft, sowie der Süden, unter der österreichischen Herrschaft, deutlich hinterher.

Im russischen Teilungsgebiet gehörte Łódź zu den Boomstädten. Heute tut sich Polens zweitgrößte Stadt schwer. (© Inka Schwand)

Allerdings entwickelte sich im westlichen Gebiet des russischen Teilungsgebiets, dem so genannten Kongresspolen mit Warschau und Łódź, das eine Weile lang Autonomie genoss, die Industrie etwas schneller. In Łódź erstarkte die Textilindustrie, die bis zur Wende 1989 erhalten blieb, in Kielce entstanden Bergbau- und Hüttenindustrie. Die industrielle Produktion richtete sich hier vor allem auf den russischen Markt.

Am Unterlauf der Weichsel erreichte die Industrialisierung auch das preußische Teilungsgebiet. Um weniger von der Landwirtschaft abhängig zu sein, setzten die Behörden auf die gezielte Entwicklung der Verarbeitungsindustrie, der Lebensmittelindustrie sowie auf Maschinenbau, der der Landwirtschaft und Verarbeitung diente. Die polnische Bevölkerung unterstützte den Boom auf ihre Weise. Polen gründeten eigene Fabriken und Banken. 45 Prozent aller Firmen gehörten den Polen, trotz der Hürden, die die preußische Bürokratie den Polen auferlegten.

Laut Bodenreform durften die Bauernhöfe nicht mehr unter den Erben geteilt werden, die Regierung forderte die Konsolidierung des Landes. Infolgedessen dominierten effektive große und mittelgroße Landwirtschaften, die modern ausgestattet waren. Sie gehörten nicht nur den Adligen, sondern auch den Bauern, die im preußischen Teil als erste von allen Teilungsgebieten befreit wurden und denen das Land übertragen wurde. Der Anteil der kleinen Bauernhöfe, die nur für den eigenen Bedarf produzierten, war gering. Landlose Bauern flüchteten in die Städte und arbeiteten in den Fabriken.

Aufstände statt Aufschwung

Ganz anders in Osten. Die Polen im russischen Teilungsgebiet setzen nicht auf Aufschwung, sondern auf Aufstände. Die Landwirtschaft war nach wie vor rückständig, eine Bodenreform, die den Name verdiente, gab es nicht. Die Bauern wurden zwar befreit, aber weil die Übernahme des Landes mit hohen Kosten verbunden war, änderte sich in der Praxis nur wenig. Stattdessen wurden die Höfe immer kleiner, weil sie bei der Erbschaft weiterhin geteilt werden durften. Oft reichte der Ertrag nicht mehr für den eigenen Bedarf.

Als Polen 1918 nach 123 Jahren der Teilung seine Unabhängigkeit zurückbekam, Interner Link: war das Land also tief gespalten. Dem modernen Westen, aber auch Masowien und dem Gebiet rund um Łódź, standen die rückständigen, landwirtschaftlichen Gebiete im Osten und Südosten gegenüber. Schon damals wurde das als Problem erkannt. Die Regierung der Zweiten Republik setzte deshalb auf Industrialisierung. Mit dem so genanntem ZOP – dem zentralen Industriegebiet, das die Region in der Flussgabelung von der Weichsel und San umfasste – sollte innerhalb von 15 Jahren ein neues wirtschaftliches Gleichgewicht zwischen Westen und Osten hergestellt werden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Polens Grenzen nach Westen verschoben. Nicht mehr die Weichsel lag nun im Westen des Landes, sondern die Oder wie hier mit Breslau. (© Inka Schwand)

Der Krieg zerstörte den Plan. Es entstanden nur einige Fabriken, die überwiegend bis heute existieren und oft die einzigen großen Arbeitgeber in der Gegend sind. Unter anderem wurden damals Auto-, Flugzeug-, und Rüstungsfabriken geschaffen. Nach wie vor dominierten im Osten Bauernhöfe und sehr kleine Landwirtschaften, die nur für den eigenen Bedarf der jeweiligen Familie ausreichten. Als Folge herrschte östlich der Weichsel unter der Dorf- und Kleinstadtbevölkerung große Armut und hohe Arbeitslosigkeit. Die Bodenreform wurde bis 1939 nicht vollendet.

Und dann änderte die Weichsel ihre Rolle ein nächstes Mal. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Grenze Polens westwärts verschoben. Zwar verlor Polen im Osten mehr Land, als es im Westen zugesprochen bekam. Doch nun lag der größte Teil des Landes westlich der Weichsel. Polen A war größer geworden als Polen B. Die Weichsel, die früher eher im Westen des Landes lag, wurde auf einmal ein Fluss, der zentral verlief, in einigen Gebieten kam er der Grenze im Osten sogar näher als der im Westen.

Wilder Osten, schöner Osten

Das ist also die Vorgeschichte. Und es ist die Gegenwart.
Der Osten ist heute nur in einem Bereich dem Westen überlegen: in der Zahl der Naturschutzgebiete. In allen anderen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen hinkt er deutlich hinterher. Die Arbeitslosenquote ist in Polen B deutlich höher als westlich der Weichsel und in Masowien. Dafür sind das Bruttoinlandsprodukt, die Höhe des Einkommens, das Bildungsniveau, die Straßendichte, sogar die Geburtenrate deutlich niedriger als in Polen A.

In Masowien ist das Bruttoinlandsprodukt um zweieinhalb Mal größer als in den Vorkarpaten oder der Woiwodschaft Lublin. Die EU-Gelder kurbeln zwar in Polen B die infrastrukturelle Entwicklung proportional stärker an als in Polen A. Doch der Grund dafür ist das niedrige Ausgangsniveau. Untersuchungen zeigen, dass sich die Kluft zwischen den beiden Regionen weiterhin vergrößert, anstatt sich zu schließen. Heute wohnen in Ostpolen etwa acht Millionen Menschen. Laut Prognosen sollen es in 15 Jahren um eine Million weniger sein. Ältere Menschen sterben, junge emigrieren. Ins Ausland, nach Warschau, nach Westeuropa. Das hat der Osten Polens mit dem Osten Deutschlands gemein.

Manchmal allerdings siedeln sich "Pioniere" in den ausgestorbenen Dörfern an: Künstler, die nach Ruhe suchen oder auf "Biotourismus" setzen. So gründeten ehemalige Mitarbeiter der staatlichen Landwirtschaftsbetriebe im Ermland-Masuren so genannte "thematische Dörfer". Dort können Touristen zum Beispiel alte Methoden der Kräutertherapie kennenlernen.

Mithilfe eines Sonderprogramms und EU-Geldern versucht die Regierung in Warschau, die Unterschiede zu beseitigen. In den letzten Jahren standen den fünf Woiwodschaften des Ostens etwa 2,8 Milliarden Euro für den Ausbau der Infrastruktur, die Bildung, die Entwicklung von Tourismus, innovativen Geschäftsideen und der Wissenschaft zur Verfügung. Das Programm soll bis 2020 fortgesetzt werden.

Dass die Wohlstandsgrenze zwischen Polen A und Polen B beseitigt werden kann, glaubt dennoch niemand mehr. Auch nicht in Warschau. Das politische Ziel heißt nun, die ungleiche Entwicklung zu verzögern. Der Osten bleibt arm und aussichtslos. Die Weichsel bleibt die Wohlstandgrenze.

Fussnoten

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Agnieszka Hreczuk, geboren in Gdynia, aufgewachsen in Warschau, studierte internationale Beziehungen in Warschau und Skandinavien. Sie ist Mittelosteuropa-Reporterin des Tagesspiegels und der Berliner Zeitung sowie der polnischen Wochenmagazine Polityka und Przeglad. Außerdem ist sie Korrespondentin des Journalistennetzwerks n-ost.