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Deutscher Fluss, tschechischer Fluss

Uwe Rada

/ 15 Minuten zu lesen

Viele Tschechen, die in Mělník zusehen, wie Elbe und Moldau zusammenfließen, fragen sich, warum der Strom im weiteren Verlauf Elbe heißt und nicht Moldau. Bis heute nämlich hält sich in Tschechien die Vorstellung des 19. Jahrhunderts von der Moldau als dem nationalen Fluss der Tschechen und der Elbe als "deutschem Fluss". Davor allerdings war ganz selbstverständlich die Elbe der große Strom Böhmens.

Über dem Zusammenfluss von Elbe und Moldau in Mělník. (© Inka Schwand)

Die geografische Sünde

Der Anblick muss ihn provoziert haben. An einem Frühsommertag des Jahres 1838 steht Franz Schuselka, ein angehender Schriftsteller aus dem südböhmischen Budweis, über den Weinbergen von Mĕlník und schaut hinab auf das, was er später eine "geografische Sünde" nennen wird. Vor seinen Augen mündet die Moldau, an der er geboren wurde, in die an Kilometern kürzere und auch weniger breite Elbe. Schuselka holt tief Luft. In seiner am 19. Juni 1838 in der Zeitschrift Bohemia abgedruckten "Standrede, gehalten an der Mündung der Moldau an die Elbe" heißt es:

"Kaum einen Topographen wird man finden, der nicht mit tiefen elegischen Seufzern das tragische Fatum anklaget, welches die königliche Moldau, nachdem sie stolz und segensreich des Landes Mitte durchfluthet, in dem kleineren, weniger berühmten Fluße untergehen läßt."

Ob der damals 27-Jährige beim Anblick des "tragischen Fatums" tatsächlich eine Standrede gehalten hat, darf bezweifelt werden. Sein Bedauern aber teilte der deutsch gesinnte Böhme mit seinen tschechischen Landsleuten.

"Der erste Platz im Herzen des Vaterlandes" gehörte der Moldau. Sie ist und bleibt der erste National-Fluß Böhmens, und eben ihrem Untergange in der Elbe verdanken wir es, dass die Moldau nur als Böhmischer Fluß genannt wird."

Der tschechische Nationalfluss

Knapp vierzig Jahre nachdem Schuselka seine "Standrede" gehalten hatte, wurde die sinfonische Dichtung Vltava, auf deutsch Die Moldau, des Komponisten Bedřich Smetana uraufgeführt. Da war aus dem nationalen Fluss der – deutschen und tschechischen – Böhmen längst der nationale Fluss der Tschechen geworden. Prag, die Hauptstadt Böhmens, stand im Zeichen des Nationalitätenkampfes zwischen Deutschen und Tschechen. Indem Smetana die Moldau zum Teil seines sinfonischen Zyklus Ma vlást (Mein Vaterland) machte, stellte er den Fluss, der so majestätisch durch Prag, die goldene Stadt, strömt, in eine Reihe mit den anderen Mythen und Symbolen der tschechischen Geschichte. Einen solchen Nachklang hat diese Liaison zwischen Tschechisch und Moldau, dass noch heute jede Ansage im Prager Hauptbahnhof von den ersten vier Klängen von Smetanas Vltava, quasi als Jingle, eingeläutet wird.

Über den Aufbau seiner sinfonischen Dichtung schrieb Smetana:

"Die Komposition schildert den Lauf der Moldau, angefangen bei den beiden kleinen Quellen, der kühlen und der warmen Moldau, über die Vereinigung der beiden kleinen Bächlein zu einem Fluss, den Lauf der Moldau durch Wälder und Fluren, durch Landschaften, wo gerade eine Bauernhochzeit gefeiert wird, beim nächtlichen Mondschein tanzen die Nymphen ihren Reigen. Auf den nahen Felsen ragen stolze Burgen, Schlösser und Ruinen empor. Die Moldau wirbelt in den Johannisstromschnellen; im breiten Zug fließt sie weiter gen Prag, am Vyšehrad vorbei, und in majestätischem Lauf entschwindet sie in der Ferne schließlich in der Elbe."

Den tschechischen Patrioten zeigte sich die Moldau in Prag von ihrer prächtigsten Seite, und auch Franz Schuselka sah sie in der goldenen Stadt ihrem Höhepunkt entgegenstreben:

"Jetzt erreicht die nimmer rastende Welle den Ort, wo Prags thronende Paläste prangen, wo weithin Prags stolze Thürme herrschen. Und mächtig schwellt und breitet sich der Strom, wie in hohem, freudigen Entzücken. Zum klarsten Spiegel ebnet er die Wellen, um das hohe Bild rein und glänzend zu empfangen. Er hemmet den schnellen Lauf, um länger und länger im Anschauen dieser Herrlichkeit zu schwelgen."

Doch nicht selten folgt einem Höhepunkt bald die Ernüchterung. Unterhalb Prags scheint die Moldau ihre magische Kraft verloren zu haben; ausgepowert und ohne Glanz fließt sie dem baldigen Ende zu. "Von Prag scheidend", verabschiedet sich Schuselka von seinem heimatlichen Fluss, "spiegelt die Moldau nicht mehr das Bild heiterer Kräftigkeit. Ihr Lebensmuth scheint gebrochen. In weiter, regelloser Krümmung schleicht sie fort, als wollte sie lieber zurück als vorwärts schreiten, und nach kurzem, mäßigen Laufe vollendet sie ihre Bahn in den Armen der zärtlichen Schwester, die zu ihrem Troste auf weitem Umwege herbeigeeilt ist."

Das Schauspiel von Mĕlník

Wie die Moldau ihren Lauf in den Armen der "zärtlichen Schwester" vollendet, ist Schauspiel, das alljährlich Scharen von Touristen anzieht. Zu Hunderten steigen sie in den Sommermonaten den Burgberg hoch nach Mĕlník, die alte und herrliche Stadt der böhmischen Königinnen, und blicken hinab auf den Zusammenfluss der beiden Flüsse. Großes Kino bekommen sie da geboten vor den Toren des Mĕlníker Schlosses, leider nur kein echtes. Was da unterhalb des Burgbergs in die Elbe mündet, ist nicht die Moldau, sondern ein Schifffahrtskanal.

Die eigentliche Mündung befindet sich hundert Meter elbaufwärts, im Sommer verbergen Weinreben und Bäume den Blick. Aber vielleicht ist das auch besser so. Die Trauer über das tragische Ende der Moldau will nämlich bis heute kein Ende nehmen. Fast trotzig nennen die Tschechen den Ort des Geschehens nicht potok, auf deutsch Mündung, sondern soutok, also Zusammenfluss. Potok, das wäre tatsächlich eine geografische Sünde wieder den Nationalfluss der Tschechen. Soutok immerhin suggeriert eine Begegnung von Moldau und Elbe auf Augenhöhe. Wie die Sache ausgeht, darüber wird wie schon bei Smetana und Schuselka der Mantel des Schweigens gelegt.

Welches Verhältnis aber hatten und haben die beiden großen Ströme Böhmens und später Tschechiens tatsächlich zueinander. Was hat es auf sich mit der "geografischen Sünde", die Franz Schuselka beklagt? Warum behält die Moldau, die in Mĕlník tatsächlich länger und wasserreicher ist, nach dem Zusammenfluss mit der Elbe nicht ihren Namen? Und warum ist nicht die Elbe der nationale Fluss der Böhmen und Tschechen geworden? Weil sie, wie Schuselka mutmaßt, nach der Überschreitung der sächsischen Grenze dann kein böhmischer Fluss mehr gewesen wäre? Ist die Elbe den Tschechen zu deutsch?

Allegorien von Elbe und Moldau

Allegorische Darstellungen von Elbe (links) und Moldau (rechts) vor dem Nationalmuseum in Prag. (© Inka Schwand)

Die vielleicht bedeutendste Allegorie der beiden Flüsse Böhmens ist auf dem Prager Wenzelsplatz zu sehen. Auf der Rampe zum mächtig über dem Platz thronenden tschechischen Nationalmuseum aus dem Jahre 1891 steht erhaben Antonín Pavel Wagners Skulptur der Bohemia, Böhmens Schutzgöttin, mit Krone, Wappenschild und Schwert. Ergänzt wird das Ensemble von zwei allegorischen Darstellungen der Landesteile Mähren und Schlesien.

Auch Elbe und Moldau kommen zu ihrem Recht. Sie finden sich dargestellt zu Füßen der Bohemia und könnten unterschiedlicher nicht sein: Die Elbe wird von Wagner als alter Greis dargestellt, dem die Moldau, eine junge, schöne Mutter, die Schau stiehlt. Eine Darstellung also, die hinsichtlich der böhmischen Flüssekonkurrenz keine Antwort schuldig bleibt: Wagners Moldau am Wenzelsplatz ist der Fluss, dem die Zukunft gehört, die Elbe ist ein Relikt der Vergangenheit.

Um herauszufinden, was die allegorische Darstellung von Elbe und Moldau bedeutet, meint der Geograph Adolf Karger, müsse man zunächst wissen, dass sich im Böhmen des späten 19. Jahrhunderts längst die Lesart der Elbe als deutscher und der Moldau als tschechischer Fluss eingebürgert habe. Erst diese ethnische Zuschreibung machte auch die "demografische Botschaft" deutlich, die in der Figurengruppe zu Füßen der Bohemia verkündet werde.

Worum ging es? Zwar bildeten die Deutschen in Prag um die Mitte des 19. Jahrhunderts wirtschaftlich und kulturell noch immer die Elite, demografisch aber waren sie ins Hintertreffen geraten. Nur noch in den Altprager Stadtteilen stellten die Deutschen 1848 die Hälfte der 142.600 Einwohner zählenden Stadt. In den neuen Quartieren hingegen, in Žižkov und Smíchov, waren die Tschechen in der Mehrheit. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wuchs die Bevölkerung vor allem in diesen neuen Arbeiterquartieren – die Deutschen wurden zur Minderheit. Darüber hinaus lockte die Industrialisierung immer mehr tschechische Arbeiter an. So vollzog sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein demografischer Wandel, der den tschechischen Nationalismus in Prag mehrheitsfähig machte.

Zur Symbolik der jungen und kinderreichen Moldau und der alten Greisin Elbe gehört für Karger aber nicht nur der Wanderungssaldo beider Bevölkerungsgruppen, sondern ebenso die Geburtenentwicklung. Auch da sprachen die Zahlen für sich. Während die Geburtenrate der Deutschen sank, stieg sie bei den Tschechen. Adolf Karger: "Die deutsche Interpretation kam nicht darum herum, darin (in Wagners Allegorie der Flüsse, U.R.) die furchterregende unterschiedliche Situation beider Völker zu sehen und ihr biologisches Bedrohungssyndrom auf provokative Weise bestätigt zu finden."

Stellt man aber nicht die "demografische Botschaft" Wagners in den Vordergrund, sondern die Siedlungsgeschichte an Elbe und Moldau, ist es bald vorbei mit dem Alleinvertretungsanspruch der Moldau als nationalem Fluss der Böhmen. Nicht an der Moldau begann die Geschichte Böhmens, sondern an der Elbe.

Mythos Moldau

In seinem erhellenden Essay über Prag und die nationale Identität unterteilt Adolf Karger die böhmischen Siedlungsgebiete in ein "trocken-warmes Altsiedelland" im Norden Prags und das "höher gelegene, klimatisch rauere, von Natur aus dichter bewaldete Südböhmen". Der Fluss des Altsiedellandes ist die Elbe, der Fluss der jüngeren Siedlungsgeschichte die Moldau.

Tatsächlich war die obere Elbe bereits vor der Völkerwanderung und der Zuwanderung der slawischen Stämme besiedelt. Nach dem Ende der letzten Eiszeit, weiß Karel Sklenář, der als Archäologie im tschechischen Nationalmuseum arbeitet, "zogen die fruchtbaren Lößböden an den Elbufern künftige Siedler an, die Ackerbau und Viehzucht betreiben wollten". Ihre Vorfahren waren laut Sklenář aus Nordmähren an die Elbe gekommen: "Zwischen der Böhmisch-Mährischen Senke und dem Hügelland sind die ersten Bauern in die Regionen von Königgrätz und Pardubitz eingedrungen und siedelten von dort elbabwärts." Zu den ersten Stämmen, die die obere Elbe besiedelten, gehörten die keltischen Bojer, die dem späteren Böhmen den Namen gaben, sowie germanische Markomannen und Vandalen. Die greise Elbe: Unter diesem Gesichtspunkt ist sie ein Hinweis auf die "Erstgeborene" in Böhmen.

Und die Moldau? Die tschechischen Patrioten setzten den älteren Rechten der Elbe den Gründungsmythos von Prag entgegen – versinnbildlicht in der Libussa. Dem Mythos zufolge ist Libussa, auf tschechisch Libuše, die Stammmutter der tschechischen Dynastie der Přemysliden. Dass das Herrschergeschlecht nicht ihren Namen trug, hat mit einer geschlechterpolitischen Unkorrektheit zu tun. Ihr Volk wollte sich nämlich nicht von einer Frau regieren lassen, berichtet der böhmische Chronist Cosmas von Prag in seiner Chronika Boemorum aus dem 12. Jahrhundert. Also nahm Libuše einen Bauern namens Přemysl zum Mann und begründete das gleichnamige Geschlecht, das wechselweise auf dem Vyšehrad und auf der Prager Burg herrschte.

Der Říp ist der heilige Berg der Tschechen. (© Inka Schwand)

Auch von den Vorfahren der Libussa ist bei Cosmas die Rede. Sie sei eine Nachfahrin des legendären Urvaters Tschech, der mit seinen Jüngern aus dem Nordosten ins spätere Böhmen eingewandert sein soll. Dabei sollen Tschech und sein Gefolge zunächst die Oder und dann Elbe und Moldau überquert haben. Im Böhmische Becken erblickten sie dann den 456 Meter hoch aufragenden Berg Řip und bestiegen ihn. Dort oben habe Urvater Tschech, auf tschechisch "Praotec Čech", folgende Ansprache an sein Volk gehalten:

"Seht, das ist das Land, das wir gesucht haben. So oft habe ich euch versprochen, dass ich euch hierher führen werde. Hier ist das versprochene Land, voll Wild und Vögel, in dem süßer Honig und Milch im Überfluss sind. Hier werdet ihr ohne Mangel leben und eine gute Verteidigung gegen Feinde finden."

Bis heute ist der Řip, nur dreißig Kilometer entfernt von Prag, ein Wallfahrtsort der Tschechen. Als Tschech seine Jünger fragte, wie man das Land nennen solle, das sich vor ihnen erstreckte, riefen sie der Sage nach: "Wie du." So verschmelzen also die slawische Besiedlung Böhmens zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert und die Gründung Prags zur Legende und verleihen der Moldau den nationalen Mehrwert, den sie in der Konkurrenz mit der Elbe offenbar dringend nötig hatte.

Die nationale Variante des 19. Jahrhunderts

Zweifel am Mythos Moldau sind durchaus abgebracht. In ihrer heutigen Form geht die Sage vom Urvater Tschech weniger auf die Chronik des Cosmas zurück als auf eine Nachdichtung von Alois Jirašek aus dem 19. Jahrhundert. Jirašek, ein tschechischer Volksschriftsteller, veröffentlichte die Geschichte in seinen Alttschechischen Sagen, die ebenfalls zu der Zeit erschienen, als in Prag das Nationaltheater und das Nationalmuseum eröffnet wurden. Wie sehr die Sage im Sinne der tschechischen Geschichtspolitik niedergeschrieben wurde, zeigt schon der Name des Helden. Von einem "Praotec Čech" ist bei Cosmas keine Rede, vielmehr nennt der Chronist Böhmens den Urvater beim lateinischen Namen "Bohem". Ein tschechisches Wort für Böhmen gibt es aber bis heute nicht. Ist in Tschechien von Böhmen die Rede, wird es, wie bei Jirašek, mit Česko übersetzt. Dass dabei die anderen Landesteile des historischen Böhmens – Mähren und Schlesien – unterschlagen werden, stört die Tschechen offenbar nicht.

Viel entscheidender für das Verhältnis zwischen Elbe und Moldau ist aber die Tatsache, das der Berg Říp und das ihm zu Füßen liegende Land, "wo Milch und Honig fließen", geologisch nicht dem Jungsiedelland an der Moldau, sondern dem Altsiedelland an der Elbe angehört, die nur fünfzehn Kilometer entfernt bei Roudnice nad Labem vorbeifließt. So schlugen, selbst der Sage nach, nicht nur Kelten und Germanen, sondern auch die slawischen Einwanderer Böhmens ihre Zelte zunächst an der oberen Elbe auf.

Zur Hauptstadt wurde Prag und mit ihm der "nationale Fluss Moldau" erst später, als sich die Přemysliden in einem slawischen Bruderkrieg gegen die an der Elbe siedelnden Slavnikiden durchgesetzt hatten. Ganz so, wie es in der allegorischen Darstellung von Antonín Pavel Wagner zu Füßen der Bohemia in Prag zu sehen ist: Die Elbe als Greis (mit den älteren Rechten) und die Moldau als junge Mutter (und ihre Nachfolgerin).

Die Tschechen und die Elbe

Wer heute in Prag durch die Buchhandlungen streift und Literatur über die Elbe sucht, wird enttäuscht sein. Eine tschechische Monografie über diesen Strom, der immerhin auf einer Strecke von 367 Kilometern durch das Land fließt, gibt es nicht, wohl aber Dutzende von Büchern über die Moldau und ihre Nebenflüsse Šárka, Berounka, Sázava. Man muss das wohl so deuten, dass die böhmische Flüssekonkurrenz, entstanden im 19. Jahrhundert mit der Zuschreibung der Moldau als tschechischem und der Elbe als deutschem Fluss, noch immer Bestand hat.

Doch nicht immer haben die Tschechen die Elbe als "deutschen Fluss" missachtet. Bis zum 17. Jahrhundert war die Elbe ganz selbstverständlich der Hauptfluss Böhmens. Das verdeutlicht eine Karte aus dem 16. Jahrhundert mit dem Titel Europa prima pars terrae in forma virginis (Die Karte Europas in Form einer Jungfrau). Auf dieser damals weit verbreiteten Darstellung ist die "Jungfrau Europa" – wegen der bereits üblichen Nordung der Karten – in der Waagerechten zu sehen. Europa wird in dieser Allegorie begrenzt vom Oceanus Germanicus, der Nordsee, dem Oceanus Sarmaticus, der Ostsee und dem Mare Mediterraneum genannten Mittelmeer.

Interessant ist vor allem das Zentrum des so umrissenen Kontinents. Das weit nach Westen reichende, gekrönte Haupt symbolisiert die Iberische Halbinsel. Das Herz des Kontinents dagegen schlägt in Böhmen. Und von den Kuppeln der Türme in Prag führt ein Fluss geradewegs zur Nordsee. Es ist der Albis f., also die Elbe, die Verbindung Böhmens mit dem Meer. Bis heute liegt ein Original dieser "Europa-Virgo"-Karte aus dem Jahre 1592 in der Klosterbibliothek von Strahov in Prag. Sie entstammt Heinrich Büntings vielgelesenem Reiseführer Itinerarium Sacrae Scripturae.

Knapp dreißig Jahre nachdem Erscheinen des Reiseführers brach der Dreißigjährige Krieg über Böhmen herein. Der zweite Prager Fenstersturz, der Auslöser des Krieges, war der Versuch, die katholische Herrschaft im seit 1526 zu Habsburg gehörenden Böhmen abzuschütteln. Doch der Aufstand der protestantischen Stände Böhmens scheiterte. Mit der Niederlage in der Schlacht am Weißen Berg 1620 misslang auch der Versuch, sich von Österreich loszusagen und die Tradition einer eigenständigen böhmischen Krone wiederzubeleben. Das temno, das "Dunkel" in der tschechischen Geschichte, das der Niederlage folgte, war die Zeit der Gegenreformation. Nirgendwo in Europa fand die Rekatholisierung mit solcher Wucht statt wie in Böhmen. Österreichs König Ferdinand II., der die Gegenreformation an der oberen Elbe und der Moldau energisch vorantrieb, wurde für seine Politik ausdrücklich belohnt. 1619 wurde er Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation.

Die Elbe spielte im temno für die Unterlegenen eine wichtige Rolle. Aus Preußen wurden protestantische Schriften, die im rekatholisierten Böhmen verboten waren, ins Land geschmuggelt. Der Weg, den die Bücherschmuggler nahmen, führte über Schlesien und den Riesengebirgskamm zur Interner Link: Elbquelle und von dort stromabwärts über Königgrätz nach Prag. In die entgegengesetzte Richtung zog es die Flüchtlinge. Johann Amos Comenius, der Gründer der protestantischen Brüdergemeinde und Begründer der modernen Pädagogik, floh über die Elbe nach Schlesien und schließlich nach Preußen. Ihm folgten die böhmischen Glaubensflüchtlinge, die in Berlin aufgenommen wurden und in Rixdorf, heute Neukölln, das Böhmische Dorf gründeten. Es gibt also durchaus eine nationale Erzählung der Tschechen über die Elbe.

Böhmens europäischer Fluss

Tangermünde war einst die zweite Residenz von Kaiser Karl IV. Für ihn verband die Elbe Prag mit der Welt. (Matthäus Merian der Ältere; Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc publicdomain/zero/1.0/deed.de

Und es gibt eine europäische. Jährlich im September findet in Mĕlník das große Weinfest statt. Bei dem Umzug durch die Stadt darf natürlich auch Karl IV., der große Kaiser Europas, nicht fehlen. Die Tschechen verehren den Luxemburger, der fließend deutsch und tschechisch sprach, weil er Prag in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zum unumstrittenen Zentrum des Reiches und zur – nach Paris, Gent und Brügge – viertgrößten europäischen Stadt nördlich der Alpen gemacht hat.

Das Wirken Karls in Prag ist tatsächlich ohnegleichen: Schon vor seiner Krönung zum römisch-deutschen König 1346 und zum König von Böhmen 1347 hatte Karl 1333 die abgebrannte Burg am Hradschin wieder aufbauen lassen. Nachdem Prag zum Erzbistum erhoben worden war, begann der Bau der Sankt-Veits-Kathedrale als Zeichen der neuen Unabhängigkeit vom Erzbistum in Mainz. Zu seinem Antritt als böhmischer König gründete Karl 1348 die Alma Mater Carolina, die erste Universität Mitteleuropas.

Seine wohl berühmteste Hinterlassenschaft ist die nach ihm benannte Brücke. Zwei Jahre nach der Krönung zum Kaiser 1355 ließ er die prächtige, 500 Meter lange Karlsbrücke an der Stelle einer alten, ebenfalls schon steinernen Vorgängerbrücke errichten. Es folgte die Gründung der Neustadt, so dass Prag bald auf 40.000 Einwohner wuchs. Praga caput regni – Prag, die Hauptstadt des Reichs – so lautet eine Inschrift am Altstädter Rathaus.

Karl IV., den der Historiker Ferdinand Seibt in seiner großen Biografie als einen Wegbereiter der Politik in die Neuzeit bezeichnete, war ein Freund der Elbe – und von Mĕlník, wo Moldau und Elbe zusammenfließen. Immer wieder hat er die im 9. Jahrhundert gegründete Stadt besucht, die 1274 vom böhmischen König Ottokar II. Přemysl zur Königstadt mit Magdeburger Stadtrecht erklärt worden war. Seine Ehre erwies der Kaiser Mĕlník mit der Anlage eines Weinbergs, den man schon von weitem sieht, wenn man mit der Eisenbahn von Prag nach Dresden fährt. "Vinohrady Karla IV." steht auf einer Tafel am Weg zum Burgberg. Es waren Burgunderreben, die Karl an dieser Stelle pflanzen ließ. Er begründete damit eine große Tradition, denn bis heute ist Mĕlník das größte Weinanbaugebiet Böhmens.

Beim Blick hinab auf den Zusammenfluss von Elbe und Moldau wäre Karl nie in den Sinn gekommen, von einem "tragischen Fatum" oder einer "geografischen Sünde" zu sprechen. Für Karl war die Moldau der Strom Prags, die Elbe hingegen war die Verbindung Böhmens zu Europa und zum Meer. Auch deshalb hat er 1373 die Burg Tangermünde an der mittleren Elbe zu seiner Nebenresidenz erkoren. Nach dem Aussterben der Askanier war die Landesherrschaft über Brandenburg vakant geworden, eine Gelegenheit, die sich der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches nicht entgehen ließ. Im kaiserlichen Lager zu Fürstenwalde wurde Karl am 15. August 1373 mit der Mark Brandenburg belehnt. Am 7. September ritt er mit Gefolge in Tangermünde ein, wo die Bevölkerung ihm huldigte. Nachdem ihm Brandenburg zugefallen war, lag der gesamte obere und mittlere Lauf der Elbe im Blick des Kaisers. Doch Karl wollte den Einfluss Böhmens bis Interner Link: Hamburg ausdehnen. Also ordnete er an, in der Hafenstadt alljährlich einen Pfingstmarkt abzuhalten. Dort sollten Waren aus allen Elbanrainerstaaten feilgeboten werden. Die Elbe war also nicht erst in der Karte von Heinrich Bünting aus dem 16. Jahrhundert die Nabelschnur des Reiches, sondern bereits im 14. Jahrhundert.

Prag, Moldau und Elbe, das hätte eine böhmische und europäische Erfolgsgeschichte werden können. Doch in den Hussitenkriegen des 15. Jahrhunderts, nach dem Prager Fenstersturz und der Niederlage am Weißen Berg, nach der Gegenreformation und der Unterordnung der böhmischen Krone unter Wien, war das historische Wissen über die Elbe in Böhmen und später in Tschechien verloren gegangen.

Verloren gegangen ist auch das Wissen um die Benennung der Flüsse. Bis heute streiten Hydrologen, Kulturwissenschaftler, Namensforscher und Historiker darüber, warum die Aare beim Zusammenfluss mit dem Rhein ihren Namen verliert. Wie die Moldau in Mĕlník hat auch sie mehr Kilometer auf dem Buckel und Wasser im Gepäck. Gleiches gilt für die Warthe und die Oder oder die Havel und die Spree. Doch das hydrologische Argument, so die neueste Forschung, ist nicht das entscheidende. Viel wichtiger ist die Siedlungsgeschichte und die Bedeutung eines Flusslaufs für Handel und Wirtschaft. Vor allem aber wurden die bis heute gängigen Namen der Flüsse in der Antike von der Mündung stromaufwärts vergeben.

So sollten sich die, die bis heute in Mĕlník über das "tragische Fatum" klagen, vornehm zurückhalten. Denn die "geografische Sünde" könnte schnell zur "geografischen Katastrophe" werden. Würden die Karten in Mělník nämlich neu gemischt, läge nicht Hamburg an der Moldau, sondern Prag an der Elbe.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Uwe Rada ist Journalist und Publizist. Er koordiniert das Onlinedossier "Geschichte im Fluss" der Bundeszentrale für politische Bildung. 2013 erschien bei Siedler sein Buch Die Elbe. Europas Geschichte im Fluss, aus dem wir dieses Kapitel, stark gekürzt, entnehmen.