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Die Große Koalition – Politik ohne Opposition | Jugendkulturen in Deutschland (1950-2005) | bpb.de

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Die Große Koalition – Politik ohne Opposition

Klaus Farin

/ 3 Minuten zu lesen

Die Ursachen der Revolte lagen jedoch tiefer, in einem Gefühl, dass es einfach nicht mehr weiter ging, keinen Fortschritt mehr gab, die Herrschenden – in der Universität wie in der Politik – sich nicht mehr für die Bedürfnisse der Jugend interessierten.

Westberliner Studenten protestieren 1968 in Berlin gegen die Notstandsgesetze. (© AP)

Am 1. Dezember 1966 wurde der baden-württembergische Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger1, NSDAP-Mitglied seit 1933, zum neuen Bundeskanzler gewählt. Protest erhob sich auch gegen Franz Josef Strauß2 als neuen Finanzminister, der in den Fünfzigerjahren Verteidigungsminister und verantwortlich für die Spiegel-Affäre von 1962 war – ein Alptraum nicht nur für die Linke. Der Schriftsteller Günter Grass warnte Willy Brandt, designierter Vizekanzler und Außenminister der Großen Koalition, im SPD-Organ Vorwärts vor den verhängnisvollen radikalisierenden Wirkungen, die diese "miese Ehe" bei der Jugend auslösen werde. Willy Brandt antwortete, dass es keinen "faden politischen Eintopf geben" werde und die Große Koalition "die begrenzte, heute mögliche Alternative zum bisherigen Trott" sei (Prinz 2003, S. 143f.). Die Realität sah anders aus: Dem angestrebten Wirtschaftswachstum wurden mit starrem Blick alle anderen politischen Entscheidungen untergeordnet bzw. sie wurden hinausgezögert, soweit sie auch nur eine Spur Konfliktstoff zwischen den Koalitionären enthielten. Eine nennenswerte parlamentarische Opposition existierte nicht, abweichende Positionen wurden sofort und rigide unterdrückt – eine Politik, die 1968 in der Verabschiedung der so genannten Notstandsgesetze3 ihren Höhepunkt fand. Die Bevölkerung schien nicht nur von der aktiven politischen Mitwirkung ausgeschlossen, sondern auch als Adressat politischen Handelns dem Selbstzweck der eigenen Machterhaltung gewichen zu sein.

Die außerparlamentarische Opposition entstand nicht aus dem Nichts. Schon seit den Fünfzigerjahren hatte sich aus verschiedenen "Ein-Punkt-Bewegungen", die sich zumeist mit jenen Themen beschäftigten, die von den etablierten Parteien ignoriert wurden, jedoch eine aktive Minderheit der ersten Nachkriegsgeneration zu mobilisieren vermochten, ein Netzwerk von Kooperationskontakten gebildet: 1958 hatten erstmalig 5000 Studenten und Jungsozialisten in Berlin gegen die geplante atomare Bewaffnung der Bundeswehr demonstriert, 1959 fand – ebenfalls in Berlin – der "Studentenkongress gegen Atomrüstung" statt. Wenig später veranstaltete der bereits 1946 als intellektuelle Nachwuchsorganisation der SPD gegründete Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) in Frankfurt am Main einen "Kongress für Demokratie – gegen Restauration und Militarismus", auf dem ein sofortiger Rüstungsstopp und die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht gefordert wurden. 1961 kam es in mehreren westdeutschen Großstädten zu "Sternmärschen" von etwa 10000 Atomwaffengegnern, 1962 verzeichnete der "Ostermarsch" der Atomwaffengegner schon 50000 Teilnehmende. 1963 erreichte der SDS an der Berliner Freien Universität durch eine von ihm initiierte Urabstimmung die Abwahl des Burschenschaftlers Eberhard Diepgen als AstA-Vorsitzender.

Das zentrale Thema der Protestbewegungen und -demonstrationen seit den Fünfzigerjahren war immer wieder: Frieden. So hatten Hunderttausende gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands demonstriert. "Remilitarisierung verhindert Wiedervereinigung" verkündeten die Transparente. Und in der Tat: Der russische Diktator Josef Stalin hatte am 10. März 1952 – mitten in der Schlussphase der Verhandlungen über den Deutschland-Vertrag und die Europäische Verteidigungsgemeinschaft – den Westmächten in einer Note das Angebot eines neutralen Gesamtdeutschlands sowie freie gesamtdeutsche Wahlen unterbreitet. Die Westmächte lehnten es mit ausdrücklicher Billigung Adenauers ab.

Die Träger des Widerstandes gegen die Wiederbewaffnung und Westintegrationspolitik Adenauers in den Fünfzigerjahren waren Männer und Frauen der Kriegsgeneration. Das zunehmende Entsetzen über die Kriegsgreuel in Vietnam mobilisierte ab Mitte der Sechzigerjahre vor allem die erste Nachkriegsgeneration. "Die USA, ehemals als Befreier vom Nationalsozialismus geschätzt, verloren ihre Glaubwürdigkeit als Streiter für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden." (Lindner 1996, S. 95) Während westdeutsche Politiker mit publizistischer Unterstützung der Springer-Presse unter völliger Unterschätzung oder Ignoranz gegenüber der Stimmung im eigenen Land Solidaritätsadressen an die amerikanische Regierung schickten, führte Vietnam "zu einer bislang nicht für möglich gehaltenen, weltweiten Solidarisierung kritischer Friedensanhänger, die sämtliche ideologischen Differenzen angesichts der grausamen Kriegsbilder aufhob" (a.a.O., S. 96).

Quellen / Literatur

Lindner, Werner: Jugendprotest seit den fünfziger Jahren. Dissens und kultureller Eigensinn. Opladen 1996.

Prinz, Alois: Lieber wütend als traurig. Die Lebensgeschichte der Ulrike Marie Meinhof. Weinheim 2003.

Fussnoten

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ist Fachautor, Dozent und Leiter des Externer Link: Archiv der Jugendkulturen sowie des gleichnamigen Verlages.