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Gothics = Satanisten? | Jugendkulturen in Deutschland (1950-2005) | bpb.de

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Gothics = Satanisten?

Klaus Farin

/ 3 Minuten zu lesen

Das Interesse an Religionen ist bei Angehörigen der Gothicszene deutlich stärker ausgeprägt als bei den meisten anderen Gleichaltrigen, ein eigenes religiöses Bekenntnis gehört jedoch nicht zur kulturellen Identität der Gothics.

Gothic Shop in Camden Town in London (CC, Hembo Pagi) Lizenz: cc by-nc-sa/2.0/de

Nicht wenige Schwarze haben sich intensiv mit der Bibel, aber auch mit grundlegenden Werken nichtchristlicher Religionen beschäftigt. Dennoch gehören nur wenige Schwarze selbst einer Kirche oder religiösen Bewegung an. Sie respektieren in der Regel jegliche Glaubensbekenntnisse anderer Menschen innerhalb und außerhalb ihrer Szene, ein eigenes religiöses Bekenntnis gehört jedoch nicht zur kulturellen Identität der Gothics.

Allerdings hat die intensive Beschäftigung mit alten heidnischen Kulturen und dem Spätmittelalter (Inquisition, Hexenprozesse, Zwangschristianisierungen) bei vielen Gothics zu einer kritischen Distanz zum institutionalisierten Christentum geführt. "Diese Haltung mündet bisweilen in eine kritiklose Annahme satanischer Doktrinen, ohne allerdings zu erkennen, dass zumindest der historische Satanismus mit seinen dem Christentum entlehnten Insignien ohne Anerkennung der christlichen Dogmen substanzlos bliebe", berichtet Arvid Dittmann, Jahrgang 1967, selbst Szene-DJ und Satanismusexperte im Berliner Archiv der Jugendkulturen. "Weitere Widersprüche ergeben sich aus der unheiligen Verbindung heidnischer oder den nordischen Naturreligionen entnommener Elemente und des Satanismus. Dieses religiöse Modell, dem innerhalb der schwarzen Szene vorzugsweise einige völkisch gesinnte Vertreter der Black-Metal-Fraktion huldigen, führt jedoch durch die Integration artfremder Elemente den Gedanken eines reinen Heidentums definitiv ad absurdum und vermag demzufolge nur den nicht allzu hoch gesteckten Ansprüchen bierseliger Freistilsatanisten zu genügen" (Dittmann 2001, S. 145). So sind es - neben den erwähnten rechtsgesinnten Szenen - vor allem die ganz Jungen, die sich von der Ästhetik und provokativen Wirkung des "Satanismus" faszinieren lassen.

Auch neosatanische Strömungen fristen trotz des hohen thematischen Interesses der Schwarzen in der Gothicgemeinde ein Randgruppen-Dasein, denn

  • anders als zum Beispiel im Black Metal gehört Satanismus nicht zum selbstgewählten stilbildenden bzw. imageprägenden Kern der Kultur & Mode, sondern es ist vor allem ein von außen - den Medien - aufgedrückter und daher ohnehin szene-intern gehasster Stempel;


  • ein Teil der Satanisten meint es ernst und begeht Taten, die von Gothics absolut verabscheut werden, etwa die Verwüstung von Grabstätten oder das Besprühen von Gruften, Ruinen, Bäumen mit "satanistischen" Symbolen - und überschreitet damit die Grenzen der Toleranz der vorwiegend auf ästhetische Provokation abzielenden Gothics.

Auch die in beiden Szenen praktizierten "Rituale" unterscheiden sich erheblich. Werden Satanisten vor allem mit recht blutrünstigen Opferritualen in Verbindung gebracht (Tieropferungen, das Ausgraben von Leichen und menschlichen Skeletten, sexualisierte Gewalt), so stellen die gängigsten "Rituale" der Gothics schlicht Meditationsübungen dar: auf den Boden setzen, Augen schließen, tief einatmen, in sich blicken...; als Opfergabe brechen manche ein Stück ihres Brotes oder Kuchens ab oder vergießen einen Schluck ihres Rotweins, sprechen dabei geheimnisvolle Macht-Worte und wünschen sich als Gegengabe Gesundheit, Glück, Liebe und Schutz vor bösen Geistern.

Studien sprechen heute von bis zu 160000 Anhängern der Gothicszene. Im Internet finden sich derzeit rund 300 Adressen für "schwarze" Partys, den Bezug von Mode, Musik und anderen Accessoires. Der Gothicmarkt boomt. Ein halbes Dutzend Hochglanzmagazine mit einer monatlichen Gesamtauflage von rund 250000 Exemplaren konkurrieren bereits am Kiosk um die Gunst der Gothicfans. Der Stil-Mix mit Teilen der Heavy-Metal-Fraktion hat dazu geführt, dass auch - zum Teil wesentlich auflagenstärkere Metalmagazine wie Rock Hard und Hammer und natürlich die Black-Metal-Zentralorgane Legacy und Ablaze verstärkt Bands aus dem Gothicbereich ins Blatt hieven. Und natürlich hat die Szene auch längst ihre eigenen Boygroups und Teenagerstars. Musiker und Produzenten anderer Genres erschließen sich den Gothicmarkt durch Übernahme simpler Text-, Themen- und Outfit-Klischees, so wie Mitte der 90er-Jahre ausgemusterte Popstars und volkstümelnde Sängerknaben ihre Uralthits noch einmal im Technosound recycelten. Eine Kultur, die einst antrat, um dem schönen Schein der Vergnügungssüchtigen die dunkle Seite ihrer Existenz vor Augen zu führen, wurde selbst zum Teil der Vergnügungsbranche.

Quellen / Literatur

Dittmann, Arvid: "Die im Lichte sieht man, die im Dunkeln nicht..." Gothics. In: Farin/Neubauer (Hrsg.) 2001, S. 126 - 149.

Fussnoten

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ist Fachautor, Dozent und Leiter des Externer Link: Archiv der Jugendkulturen sowie des gleichnamigen Verlages.