Abitur nach der zwölften Klasse und dann ganz schnell noch ein Bachelor-Studium. Was klingt wie der schnellste Weg in ein erfolgreiches Arbeitsleben, produziert in Wahrheit Massen unzufriedener Menschen, die nie Zeit hatten, darüber nachzudenken, was sie eigentlich wirklich wollen. Sagt die Soziologin Jutta Allmendinger.
fluter: Viele Frauen werden für dieselbe Arbeit schlechter bezahlt als Männer. Würden Sie als Mann eigentlich mehr verdienen in Ihrem Job?
Jutta Allmendinger: Das weiß ich gar nicht. Ich habe vor meinen
Gehaltsverhandlungen mit Männern in ähnlichen Positionen
gesprochen, um zu erfahren, was angemessen ist. Aber das war
schwierig und unergiebig. Das Thema Geld ist ein Tabu. In den
meisten Untersuchungen reden Männer sogar lieber über ihr Sexualleben
als über ihr Gehalt.
Über Geld spricht man nicht.
Genau.
Geht es nur ums Geld, oder bedeutet Arbeit nicht noch viel mehr in unserer Gesellschaft?
Es geht um vieles. Wenn man sich mit nichterwerbstätigen Frauen
unterhält, dann sagen die: Wenn ich Arbeit hätte, hätte ich
eigenes Geld. Sie wären sogar damit zufrieden, weniger Geld zu
haben, nur eigenes muss es sein. Es geht bei der Erwerbstätigkeit
aber auch um die soziale Vernetztheit – darum, Freunde zu haben,
anderes kennen zu lernen, etwas zu tun, das einen gesellschaftlichen
Wert hat. Kurzum, es geht um Teilhabe an der Gesellschaft.
Wenn man sieht, wie sehr auch unsere Freizeit von
dem geprägt ist, was wir im Arbeitsalltag erfahren, dann ahnt
man, was Männern oder Frauen, die lange nicht auf dem Arbeitsmarkt
sind, verloren geht.
Wie erklärt man einer 15-Jährigen heutzutage, dass Frauen weniger verdienen als Männer im selben Job für dieselbe Tätigkeit?
Man erklärt ihr, dass es dabei auch um die mangelnde Vereinbarkeit
von Familie und Arbeit geht. Frauen unterbrechen ihre
Erwerbsarbeit, dann arbeiten sie Teilzeit. Beides ist für die Entwicklung
ihres Stundenlohns nicht vorteilhaft, um es mal vorsichtig
auszudrücken. Der Staat ist in der Pflicht, mehr gute Betreuungsmöglichkeiten
für Kleinkinder bereit zu stellen. Die
Arbeitgeber müssen mehr für die Vereinbarkeit tun.
Momentan erleben wir einen wirtschaftlichen Aufschwung,und dennoch gibt es so viele arbeitslose junge Menschen wie selten zuvor – darunter sogar Hochschulabsolventen. Ist eine gute Ausbildung keine Garantie mehr für einen Arbeitsplatz?
Das sind Thesen, die Journalisten produzieren, weil sie lieber
Negativ- als Positivszenarien präsentieren. Wir haben im Moment
5,6 Millionen nichterwerbstätige Frauen, aber nur knapp
eine Million arbeitslos gemeldete Frauen. Wenn man sich jetzt
diese Nichterwerbstätigen anschaut und nach deren beruflicher
Qualifikation fragt, also nach Ausbildung oder Bildungsabschluss,
dann zeigt sich, dass vor allem jene nicht erwerbstätig
sind, die keine oder eine ganz schlechte Ausbildung haben. Eine
gute Ausbildung erhöht die Chancen auf Arbeit weiterhin ungemein,
sogar noch stärker als früher. Beim Vergleich der Jobaussichten
von Niedriggebildeten, Mittelgebildeten und Hochgebildeten
sieht man, dass die Schere noch weiter aufgegangen ist.
Diejenigen mit schlechter Bildung haben heute überhaupt keine
Chance mehr. Der Abstand zu den Hochgebildeten ist viel größer
geworden.
Andererseits haben selbst Jugendliche, die brav nach zwölf Jahren Abitur und dann ganz schnell ihren Bachelor gemacht haben, Probleme, Arbeit zu finden.
Nur kurzfristig. Die Suche dauert vielleicht länger. Aber wir dürfen
doch nicht so zynisch sein, diese Gruppe mit Menschen
ohne Ausbildung gleichzusetzen. Von daher sollten Abiturienten
und Studierende auch nicht zu brav sein. Die kolossale Verkürzung
der Ausbildungszeit ist auf dem heutigen Arbeitsmarkt
nicht zwingend und oft nicht nützlich. Mit 14 Jahren Profilkurse
wählen, die dann zu Leistungskursen werden, Abi mit 17 und
dann das studieren, was man schon im Abi hatte... Das heißt
doch: Ich entscheide mit 14 über meinen weiteren Lebensweg.
Das ist absurd. Da müssen Jugendliche, die kaum wissen, was
auf sie zukommt, weitreichende Lebensentscheidungen treffen.
Das finde ich unverantwortlich.
Nach der Pisa-Studie war die Verkürzung des Abiturs doch ein Hauptpunkt der Bildungsreform.
Überall werden Globalisierung, Internationalisierung und Flexibilität
gepredigt. Aber wir domestizieren unseren Nachwuchs.
Schüler, die sich ein Jahr von der Schule abmelden, um ins Ausland
zu gehen, verlieren ein Jahr, weil sie die elfte Klasse wiederholen
müssen. Sie werden zu Sitzenbleibern. Da braucht es
schon Rückgrat, um zu sagen: Ich wiederhole einfach eine Klasse.
Der Verzicht auf Auslandserfahrung ist aber das Gegenteil
dessen, was wir brauchen. Man muss doch auch Zeit haben, herumzuschnuppern
und in Kontakt zu kommen mit ganz unterschiedlichen
Nationalitäten, Kulturen und Berufsfeldern. Ich
wüsste nicht, wie Kinder sich sonst klar darüber werden können,
welche Talente sie eigentlich haben. Denn der strikt durchgestylte
Schulunterricht macht die Beschäftigung mit ganz anderen
Gebieten – egal, ob etwa Kunst, Musik, Sport oder
gesellschaftliches Engagement – kaum möglich. Aus biografischer
Sicht ist das eine Zumutung, weil junge Menschen keine
Zeit haben, sich auszuprobieren und ihre Interessen zu entdecken.
Hinzu kommt nach wie vor die frühe Selektion im Bildungssystem
hierzulande.
Die Mehrheit der Bürger will anscheinend diese zügige Selektion. In Hamburg wollte man die Grundschule gerade von vier auf sechs Jahre erweitern, damit die Kinder länger zusammenlernen. Die Mehrheit hat sich dagegen entschieden.
Aber schauen Sie doch mal, wer da abgestimmt hat: Auf jeden
Fall nicht diejenigen, die von so einer Reform am meisten profitiert
hätten – also zum Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund.
Die durften gar nicht mit abstimmen. Gegen die Reform
haben vor allem Bürger gestimmt, die aus den besseren Hamburger
Bezirken kommen und deren Kinder sowieso alle Chancen
der Welt haben. Insofern taugt Hamburg nicht als Beispiel
für eine allgemeine Aussage, sondern allenfalls für die Feststellung,
dass Menschen aus oberen Schichten glauben, es schade
ihren Kindern, wenn sie mit Kindern aus sozial schwächeren Milieus
zusammen erzogen werden.
Und stimmt das nicht?
Es gibt meines Wissens keine einzige empirische Untersuchung,
die besagt, dass besseren Schülern das gemeinsame Lernen mit
schlechteren schadet. Die Politik darf daher über so etwas keinen
Volksentscheid abhalten, weil bekannt ist, dass eine gewisse
Klasse dafür sorgt, unter sich zu bleiben. Ich finde, es ist Aufgabe
einer Demokratie, allen vergleichbare Lebenschancen zu geben
– das steht im Übrigen auch in unserem Grundgesetz.
Werden Bildungs- und Arbeitsplatzchancen quasi von Generation zu Generation vererbt?
In unserem System ist das noch so.
Sie beraten Politik ja regelmäßig. Was raten Sie denn, um die Probleme zu beseitigen?
Ich würde hierzulande vieles verpflichtender machen – etwa den Besuch von Kindergarten oder Kindertagesstätte. Ich wäre auch rigider, was die Deutschkurse anbelangt. Wir wissen nun mal, dass Integration nur über Deutschkenntnisse stattfindet.
Das müsste dann jedes Bundesland einzeln verfügen.
Der Föderalismus ist beim Thema Bildung sehr problematisch,
das Kooperationsverbot muss vom Tisch. Unsere Kleinstaaterei
behindert Mobilität und damit auch den Einstieg in den Arbeitsmarkt.
Wenn Sie in Berlin in die sechste Klasse gehen, können
Sie nicht einfach nach Bayern wechseln – da sind die Schüler
nämlich zu diesem Zeitpunkt bereits viel weiter.
Also brauchen wir eine Bundesbildungspolitik.
Unbedingt. Diese muss auch die flächendeckende Einführung
von Ganztagsschulen umfassen, mit einem breiteren Curriculum,
kleinen Klassen, individueller Hilfe durch ein Schulkollegium,
das nicht nur aus Pädagogen besteht. Wir müssen auch über
die Bildung hinaus denken und die Berufsausbildung reformieren.
Auch hier brauchen wir ein möglichst breites Curriculum,
das einem dann erlaubt, wieder aufzusetzen und neue Dinge zu
tun. Ein einjähriges studium generale etwa.
Das Ziel des Bologna-Prozesses war unter anderem eine verstärkte Internationalisierung. Ist wenigstens die eingetreten?
Leider nicht, weil nicht nur bei den Gymnasiasten der Anteil jener
gesunken ist, die ins Ausland gehen, sondern auch bei den
Studenten. Es ist dramatisch: Diese Reform sollte einen europäischen
Bildungsraum erschließen, und nun sitzen alle hier an
deutschen Schulen und an deutschen Unis und haben keine Zeit
mehr für die Ferne. Das ist ein extremer Verlust nicht nur an
Bildung, sondern auch an Kompetenzen für das Erwerbsleben.
Dabei ist es ein Mythos, dass Arbeitgeber sagen: Wenn du 22
bist, stelle ich dich ein, aber wenn du 24 bist, nicht mehr. Ich
kenne keine Arbeitgeber, die das so machen. Ich kenne nur Journalisten,
die das so schreiben.
Könnte das bedeuten, dass viele Studierende das Falsche studieren– also nicht das, was ihren eigentlichen Interessen und Talenten entspricht?
Langfristig kann das passieren. Im Moment haben wir eine Ausbildung,
die sehr stark auf eine vergleichsweise kurze Erwerbstätigkeit
zugeschnitten ist – und dann ist dieser menschliche Leistungsträger
oft ausgeblutet und merkt, dass er in einem völlig
falschen Arbeitsleben steckt.
Befürchten Sie, dass durch die Reformen im Bildungs- und Schulungsprozess vielleicht in zehn, zwölf Jahren ganz viele Leute depressiv sind und entdecken, dass sie im völlig falschen Job gelandet sind?
Es gibt auf jeden Fall viele Leute, die Fächer nur deshalb studieren,
weil diese angeblich gerade gefragt sind oder weil es für diese
Fächer Studienplätze gibt – und die anschließend Jobs machen,
die sie nicht sonderlich interessieren. Die dürften dann in
jungen Jahren ihren ersten Burn-out haben.
Sie selbst haben in den USA studiert. Was ist dort anders?
Da ist das Leben anders getaktet, mit Phasen zwischen einzelnen
Abschnitten, in denen man schlicht andere Dinge macht
und andere Interessen verfolgt, Dinge für sich ausprobiert, Familien gründet oder sich ehrenamtlich engagiert. In meinem Promotionsstudium
der Soziologie und Ökonomie waren wir zwölf
Studierende, darunter drei, die zunächst Biologie gemacht haben,
zwei ehemalige Medizinerinnen, ein Jurist, ein Chemiker,
ein Mathematiker. So etwas finden Sie bei uns nicht. Fachwechsel
zwischen Bachelor- und Master-Studiengängen sind selten,
zeitliche Unterbrechungen auch. Das ist vielleicht kurzfristig
zielführend, aber nicht auf die Länge eines Lebens und nicht auf
die langfristigen Folgen für eine Volkswirtschaft hin gesehen.
Unsere Gesellschaft wird immer älter. Kann nicht jeder Jugendliche beruhigt sein, weil er durch diesen demografischen Wandel sowieso Arbeit finden wird, wenn er gut genug ausgebildet ist?
Schon, wenn es nur darum geht, Arbeit zu finden oder nicht.
Wenn man sich aber die Frage stellt, ob die Menschen gern zur
Arbeit gehen, bin ich schon etwas skeptischer. Ich glaube, dass
gerade diese junge Generation unter einem extremen Druck
steht, sich genau so zu verhalten, wie es jeder von ihnen erwartet.
Die werden alle gemainstreamt, und das finde ich ganz
schrecklich.
Plädieren Sie für einen gewissen zivilen Ungehorsam?
Ich plädiere zumindest dafür, dass man die Kinder nicht diesem
Zeitdruck aussetzt, sondern ihnen sagt: Jetzt entwickelt euch
mal, wir geben euch auch die Zeit dazu. Und man sollte anerkennen,
dass Menschen unterschiedlich lange für ihre Entwicklungs-
und Entscheidungsprozesse brauchen.
Jungs scheinen da länger zu brauchen als Mädchen.
Wenn man die Noten und die Abschlüsse betrachtet, schneiden
Jungen auf allen Ebenen schlechter ab. Jungen durchlaufen andere
Entwicklungsphasen als Mädchen. Sie hinken den Mädchen
ein Jahr, manchmal auch länger, hinterher. Da wir aber
eine Kultur haben, die auf schnell erlerntes und sofort zu reproduzierendes
Wissen setzt, sind die Jungen automatisch die Verlierer,
alleine schon durch die genetischen und biologischen Voraussetzungen.
Welche Rolle spielt die Erziehung?
Da gibt es immer noch eine geschlechtsstereotype Sozialisation.
So werden Mädchen in der Familie viel stärker und viel früher
zur Mitarbeit herangezogen – und zwar gerade wegen ihrer
schnelleren Entwicklung. Mädchen bekommen im Alter von
fünf oder sechs schon mal einen 20-Euro-Schein in die Hand gedrückt
und dürfen einkaufen gehen, weil die Eltern wissen, die
erledigen diese Aufgabe gewissenhaft.
Sollen die Mädchen dankbar dafür sein, dass sie eher den Tisch abräumen müssen?
Die Verantwortung, die damit einhergeht, ist etwas, das man für
die Schule unbedingt braucht. Die Jungs machen das alles erst
Jahre später. Mädchen werden viel früher zur Verantwortung erzogen
– mit dem Effekt, dass sie sich nach der Schule besser sinnvoll
beschäftigen. Erst einmal Hausaufgaben machen und dann
rausgehen. Die Jungs hängen stattdessen vor dem Computer herum
oder auf dem Fußballplatz und sagen sich: Hausaufgaben
mache ich später. Die Zahlen sprechen ja eine deutliche Sprache:
40 Prozent der Jungs schaffen es auf eine weiterführende Schule
und 40 Prozent auch auf eine Hochschule. Bei den Mädchen
sind es 60 Prozent. Wir verlieren vor allem am unteren Rand viel
zu viele Jungs. Schauen Sie sich diese 15-Jährigen an – da gehört
fast jeder Vierte zur Risikogruppe der Bildungsarmen.
So viele?
Ja, und bei den Mädchen sind es unter zehn Prozent. Diese Jungs
gehen uns dauerhaft verloren. Und zwar nicht nur im Beruf, sondern
auch in Beziehungen, im privaten und gesellschaftlichen
Leben. Viele Frauen wollen lieber einen nichterwerbstätigen
Akademiker als jemanden, der keine Bildung hat. Das finden sie
ganz furchtbar. Vielleicht bekommt man in solchen Beziehungen
noch ein Kind, aber dann sagen sich viele Frauen: Erziehen
werde ich es lieber alleine.
Was folgt daraus, dass Jungen ständig den Mädchen hinterherhinken?
Es ist nicht schön, wenn man im Kollektiv erlebt, schlechter abzuschneiden.
Da entwickeln sich kollektive Reflexe: Alle Lehrer
bevorzugen Mädchen, heißt es dann, oder: Alle Jungs sind genauso
schlecht wie ich. Diese jungen Männer richten sich in einer
Jungmänner-Kultur maximal ein.
Wie kann man diese Kulturen auflösen?
Indem schon die Schule mehr von dem anbietet, woran Männer
Interesse haben. Damit sie auch mal Hand anlegen und draußen
praktisch etwas machen können.
Aber handwerkliche Fähigkeiten werden doch in einer modernen Dienstleistungsgesellschaft gar nicht mehr nachgefragt.
Es ist in der Tat ein Problem, dass diese traditionellen Männerarbeiten
im industriellen Sektor immer weniger nachgefragt werden.
Wir müssen also diese jungen Männer von heute schon in
der Schule viel mehr auf so genannte Mädchenjobs vorbereiten.
Es gibt zwar viele Programme, um Frauen in von Männern dominierten
Berufen Fuß fassen zu lassen, aber komischerweise
ganz wenige Programme für Männer in Frauenfächern – die
aber die Fächer der Zukunft sind. Wir werden in einer alternden
Gesellschaft zum Beispiel mit Sicherheit viel mehr Pflegepersonal
brauchen. Aber wer schult bitte junge Männer, damit sie solche
Arbeiten übernehmen können?
Pflege gilt als völlig unterbezahlter Frauenberuf.
Insbesondere bei uns. In anderen Ländern sind auch dies akademische
Berufe. Das wertet ein Berufsbild auf. Man muss die Bezahlung
dieser Arbeiten verbessern. Die psychische Belastung
bei der Pflege ist enorm, und von der körperlichen Belastung her
würde ich Pflegeberufe Jobs auf dem Bau gleichstellen. Es wird
in Zukunft auch um die Betreuung von kleinen Kindern gehen,
weil es in der Zukunft mehr gut ausgebildete Frauen geben wird,
die erwerbstätig sind – was ja auch zu wünschen ist. Momentan
sind sehr viele Berufe im Dienstleistungssektor Frauenberufe.
Das muss sich ändern.
Von den Chefärzten in deutschen Kliniken oder Klinikdirektoren sind geschätzte 90 Prozent Männer. Wie kommt's?
Weil wir in Deutschland bei den Frauen das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht im Griff haben. Viele Frauen
bekommen irgendwann ein Kind, und dann gibt es nicht genügend
Betreuungsplätze, damit die Frau weiter arbeiten kann.
Und der Vater übernimmt seinen Anteil an Betreuung und Erziehung
nicht. Man muss sich mal vorstellen, dass es schon als
extrem ehrgeiziges und nicht zu erreichendes Ziel gilt, jedem
dritten Kind in Deutschland einen Kitaplatz zu besorgen. Im
Schnitt gelingt das bei weniger als jedem sechsten Kind. Im Vergleich
zu Frankreich oder Norwegen ist das läppisch.
Sind Frauen nicht gewollt in der Arbeitswelt?
Sagen wir mal so: Ich glaube, es hat sich noch nicht richtig bei
allen die Erkenntnis durchgesetzt, dass Frauen nicht nur gewollt
sein sollten – sondern dringend benötigt werden. Nicht nur aus
demographischen Gründen. Untersuchungen in den USA zeigen,
dass Teams von Männern und Frauen im Arbeitsprozess
sehr gewinnbringend sind, in jeder Hinsicht. Das machen sich
deutsche Unternehmen zu wenig klar. Dadurch sind auch so wenige
Frauen in den Netzwerken, die einen letztlich in höhere
Positionen bringen. Daher sind es immer noch die Männer, die
Chefs werden.
Sind Sie für eine Frauenquote?
Ich bin zumindest für Anschub- beziehungsweise Einführungsquoten,
weil ein gewisser Anteil von Frauen gebraucht wird, um
ein allgemeines Umdenken anzustoßen.
Wie schwer haben es denn berufstätige Frauen, nach dem Kinderkriegen wieder in den Job zu kommen?
Sehr schwer. Und je länger man unterbricht, desto schwerer
wird es. Am Anfang spürt man es nicht so stark, man hat genug
zu tun, wenn die Kinder klein sind. Das soziale Umfeld ist voller
anderer Mütter, es gibt Aktivitäten rund um die Schule. Später
aber, wenn das Kind von der Schule geht, bricht das alles weg.
Selbst hoch gebildete, studierte Frauen leiden in diesen Phasen
unter starken Selbstwertproblemen. Sie glauben, dass sie eigentlich
gar keine Fähigkeiten haben. Dabei haben diese Frauen Kinder
erzogen und in der Schule als Elternsprecherin gewirkt – alles
Qualifikationen, die man gut ins Arbeitsleben einbringen
könnte. Wer aber über viele Jahre vom Arbeitsprozess abgekoppelt
ist, traut sich schlichtweg nichts mehr zu – das ist auch bei
vielen Langzeitarbeitslosen so.
Ist "Bürgerarbeit" eine Lösung? Also die Chance, für gemeinnützige Tätigkeit eine Art Lohn zu bekommen?
Ja. Erwerbstätigkeit gibt Menschen auch Würde, sie baut Selbstbewusstsein
auf, bringt neue Kontakte. Würde erlangt aber nur,
wer in der Lage ist, nicht nur unter Zwang tätig zu sein, sondern
aufgrund eigenen Wollens. Das halte ich für absolut notwendig.
Sind Sie auch für Grundeinkommen?
Es ist die Frage, inwieweit wirklich alle Menschen ein Grundeinkommen
bekommen sollen. Warum sollen Menschen, die das
gar nicht nötig haben, eines beziehen können? Ich bin aber für
einen Mindestlohn und für einkommensabhängige Transferleistungen.
Warum bekomme ich etwa Kindergeld? Das haben andere
viel nötiger.
Sehen Sie eigentlich durch die technologische Entwicklung wie das Internet mehr Chancen auf ein selbstbestimmtes Arbeiten? Dass man also nicht von neun bis fünf ins Büro gehen muss, sondern auch am Strand oder im Café seine Arbeit am Laptop erledigen kann.
Das ist eine virtuelle Mobilität, die aber ohne eine vorherige Interaktion
mit realen Menschen nicht möglich ist. Man muss die
Menschen, mit denen man per E-Mail vernetzt ist, schon kennen
gelernt haben. Dann aber ist diese Mobilität hervorragend und
kann vieles erleichtern.
Sozialforscher trauen sich manchmal Prognosen zu. In welche Richtung entwickelt sich unsere Arbeitswelt?
Weil ich keine wirklich ernst gemeinten Vorstöße zum Abbau
von Bildungsarmut sehe, werden wir dauerhaft eine Schicht von
mehr als zehn Prozent der Bevölkerung bekommen, die keine
Möglichkeit hat, kurz-, mittel- und langfristig an der Gesellschaft
teilzuhaben. Bei den Frauen befürchte ich einen weiteren
Geburtenrückgang. Denn wenn sie aufgrund ihrer Bildung in
gute Positionen kommen und feststellen, dass sich das mit Kindern
nicht realisieren lässt, werden sie eher auf Kinder als auf die
Karriere verzichten. Wir haben dann viele gut ausgebildete Frauen,
die Karriere machen, aber keine Kinder haben, und auf der
anderen Seite Frauen mit schlechter Ausbildung und Kindern.
Es sei denn, wir legen ein höheres Tempo vor: beim Ausbau der
Möglichkeiten zur Kinderbetreuung, dabei, Väter in die Erziehung
einzubinden – und dabei, Vorurteile abzubauen wie jenes,
dass eine Rabenmutter ist, wer seine Kinder von anderen betreut
lässt. Daran müssen wir dringend arbeiten.
Prof. Dr. Jutta Allmendinger hat das, was immer noch viel zu vielen Frauen verwehrt bleibt: Eine Führungsposition. Sie war Professorin für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, später Direktorin des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Seit 2006 ist sie Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, eine international renommierte Forschungseinrichtung auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften. Allmendinger forscht unter anderem über die Ungleichheit der Geschlechter am Arbeitsmarkt.
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