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Auf der Spur eines Leserbriefs Einblick: Leserkritik an einseitiger Berichterstattung

Meike Mittmeyer

/ 6 Minuten zu lesen

Ärger im niedersächsischen Varel. In einem offenen Brief fordern Leser die Redaktion zur unbeeinflussten Berichterstattung auf. Ein Fallbeispiel zum Konflikt "Politik - Leser - Zeitung".

Der Fall der Nordwest-Zeitung zeigt eine neue Dynamik im Verhältnis zwischen Leser und Zeitung: Was passiert, wenn sich die Leser nicht in der Zeitung repäsentiert sehen? (© photocrew/ Fotolia.com)

Weites Land, soweit das Auge reicht, nichts als Deiche, Polder und Windmühlen. Die kleine niedersächsische Stadt Varel liegt in malerischer Kulisse direkt am Jadebusen, gleich neben dem bekannten Kurort Dangast. Eine kleine Tageszeitungsredaktion, "Der Gemeinnützige", und ein wöchentliches Anzeigenblatt, der "Friesländer Bote", berichten über Land und Leute. Stabile politische Verhältnisse prägten über Jahrzehnte hinweg den Alltag. Im Jahr 2009 jedoch brachte eine Reihe von Ereignissen die scheinbare Stabilität ins Wanken. Eine zentrale Rolle in diesem Prozess spielten die Lokalredaktion und 50 ihrer treusten Leser, die gegen ihre Zeitung aufbegehrten.

Ein Brief und ein Blog

"Seit nunmehr einigen Monaten erlebt Varel politisch unruhige Zeiten. Außergewöhnliches passierte und führte schließlich dazu, dass langjährige SPD-Mehrheiten im Rat der Stadt verlorengingen. Die Ereignisse waren und sind von herausragender Bedeutung für das politische Leben in und um Varel." Mit diesen Sätzen beginnt ein offener Brief, den 50 Vareler Leser der Nordwest-Zeitung (NWZ) an die Hauptredaktion in Oldenburg sowie an die Lokalredaktion in Varel, den "Gemeinnützigen", richteten. Darin beklagen sich die Leser darüber, seitens ihrer Lokalausgabe nicht, nur unzureichend oder zu spät über wichtige kommunalpolitische Ereignisse in der Stadt informiert worden zu sein. An Vorwürfen mangelt es dabei nicht. So heißt es unter anderem: "Stellungnahmen von Politikern werden ohne jede kritische Recherche wiedergegeben. Häufig haben diese den Charakter von Leserbriefen, werden von der NWZ aber den Lesern als journalistische Beiträge dargeboten." Eingefordert wird die Einhaltung journalistischer Qualitätskriterien wie eine unabhängige, kritische und zeitnahe Berichterstattung.

Der Brief wurde namentlich von 50 Bürgern unterzeichnet: Bauingenieure sind darunter, Juristen, Lehrer, Selbstständige, Rentner und Hausfrauen. Erscheinen sollte er nach dem Willen der Unterzeichner Ende Mai 2009 als ganzseitige Anzeige im "Gemeinnützigen". Doch der Brief erschien nie im Lokalteil der Zeitung – die Chefredaktion hatte es mit der Begründung verhindert, ein direkter Konkurrent der Zeitung (nämlich das Wochenblatt "Friebo", das nicht namentlich, aber indirekt im Text genannt wird), würde in dem Schreiben lobend hervorgehoben. Der Blogger Djure Meinen (Externer Link: http://www.varelblog.de/) aus Varel veröffentlichte ihn am 10. Juni 2009 auf seiner Seite unter dem Titel "Lokalzeitung unter Druck" (Externer Link: http://50hz.de/varel-lokalzeitung-unter-druck/).

So wurde der Fall der Nordwestzeitung zu einer Fallstudie im Rahmen meiner Diplomarbeit "Lokaljournalismus im Spannungsfeld der Interessen". Sie untersucht vor dem Hintergrund der heutigen medialen Veränderungsprozesse den Einfluss von Lobbyinteressen im Lokaljournalismus. Insofern galt es, die Umstände der Auseinandersetzung in Varel zu skizzieren und die Anschuldigungen zu überprüfen. Im Untersuchungszeitraum von Februar bis März 2010 konnte durch Recherchen vor Ort, in Archiven und durch Gespräche mit Beteiligten (sowohl den Unterzeichnern der Briefe, dem Bürgermeister, als auch den Redakteuren des Anzeigenblatts "Friebo") nachgezeichnet werden, was sich hinter dem offensichtlichen Konflikt verbirgt.

Die politische Vorgeschichte

Um die Vorwürfe in dem Brief zu verstehen und korrekt einordnen zu können, ist es zunächst zentral, die komplexe politische Vorgeschichte zu kennen, um die er sich dreht. Varel war seit dem Ende des zweiten Weltkriegs SPD-Terrain, die Sozialdemokraten regierten über Jahrzehnte bequem mit absoluter Mehrheit. Zudem ist Varel die politische Heimat des ehemaligen Bundeslandwirtschaftsministers Karl-Heinz Funke, der bis 2009 über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren auch die Kommunalpolitik prägte (zuletzt als Stadtratsvorsitzender). Manche Vareler sprechen in diesem Zusammenhang vom "allumfassenden System Funke".

Mit der Kommunalwahl im Jahr 2006 änderten sich die Mehrheitsverhältnisse im Stadtrat erstmals grundlegend: Die SPD verfehlte die absolute Mehrheit, kam nur noch auf genau die Hälfte der Sitze im Stadtrat. Bürgermeister wurde Gerd-Christian Wagner, der für einen Generationenwechsel innerhalb der SPD und auch für eine politische Modernisierung stand. Bereits zu dieser Zeit begann es, in der Partei gewaltig zu rumoren. Vereinfacht gesagt: Die Partei spaltete sich in zwei Lager. Eines, das den neuen Bürgermeister Wagner und seine Neuausrichtung stützte, und eines, das weiter am dominanten Karl-Heinz Funke und seinem bewährten Kurs festhielt.

Im Januar 2009 wurde das Zerwürfnis der Partei offenbar: Sechs Vareler Ratsmitglieder spalteten sich von der SPD-Fraktion ab und gründeten die "Sozialen Demokraten Varel" (SDV). Die gravierende Änderung der Mehrheitsverhältnisse zog eine Neuwahl des Stadtratsvorsitzenden nach sich: Karl-Heinz Funke wurde abgewählt und ins politische Aus katapultiert.

Die Berichterstattung der Lokalzeitung

Die politische Situation in Varel im Jahr 2009 war verzwickt, und die Vorwürfe der 50 Leser standen im Raum. Hatte der Vareler Lokalteil der Nordwest-Zeitung tatsächlich Details und Hintergründe über den politischen Umbruch außer Acht gelassen? "Der größte mediale Unfall ist eingetreten, wenn die Einwohner einer Stadt durch Hörensagen mehr erfahren als die Leser einer Zeitung", wurde der NWZ-Chefredakteur Rolf Seelheim im März 2008 in einem Externer Link: Interview zur Glaubwürdigkeit von Medien mit der Frankfurter Rundschau zitiert. War dieser größte mediale Unfall nun unter seinem eigenen Dach eingetreten?

Eine eindeutige und damit abschließende Antwort lässt sich dazu nicht treffen. Die Vareler Lokalredaktion des "Gemeinnützigen" war (trotz mehrerer Anfragen im Rahmen der Diplomarbeit) zu keiner eigenen Stellungnahme zu diesem Thema bereit, also konnten nur die Quellen ausgewertet werden, die zugänglich waren. Die ermittelten Fakten legen aber Folgendes nahe:

Bei der Auswertung von Gesprächen mit dem Blogger, den Brief-Unterzeichnern und der Redaktion des lokalen Anzeigenblattes "Friebo" sowie unzähligen Zeitungsartikeln aus dem Stadtarchiv zeigte sich, dass die Berichterstattung des "Gemeinnützigen" an einigen Stellen sehr deutlich auf Karl-Heinz Funke als "Türöffner der Region" fixiert war, Lücken aufwies oder Gegenpositionen außer Acht ließ. Insbesondere im direkten Vergleich mit Berichten aus dem "Friebo", an das aus journalistischer Sicht eigentlich nicht die gleichen redaktionellen Qualitätskriterien gestellt werden dürfen wie an eine unabhängige Tageszeitung, zeigte sich, dass es dem Blatt teilweise umfangreicher gelungen war, die komplizierten politischen Verhältnisse darzustellen und andere Seiten zu Wort kommen zu lassen. Doch zugleich stellte sich auch ganz Erstaunliches heraus: Kurz nachdem die 50 Leser vergeblich versucht hatten, ihren offenen Brief als Anzeige in die Lokalzeitung zu bringen, änderte sich die Berichterstattung der Zeitung zu diesem Thema gravierend. Es schien, als sei ein Ruck durch die Redaktion gegangen: Der Chef vom Dienst der NWZ mischte plötzlich in der Berichterstattung mit, es wurde kritisch kommentiert und umfassend berichtet.

Die Macht der (missachteten) Leser

Aus den Ereignissen in Varel lässt sich vor allem eine wichtige Schlussfolgerung ziehen: Guter Lokaljournalismus braucht Wachsamkeit gegenüber der eigenen Haltung und gegenüber seinem Umfeld. Keine einfache Aufgabe. Besonders dann, wenn der journalistische Alltag über Jahrzehnte hinweg von Kontinuität und einer allgegenwärtigen politischen Lichtgestalt geprägt ist. Wenn sich die äußeren Umstände dann ganz langsam, aber gravierend ändern, kann es sein, dass die Lokalzeitung – fest eingebettet in das "System" um sie herum – diesen schleichenden Wandlungsprozess nicht früh genug erfasst und umsetzt.

Die Erkenntnisse in Varel sollen niemanden an den Pranger stellen, ganz im Gegenteil: Sie sollen zeigen, dass es gelingen kann, aus der Starre und dem Stillstand herauszukommen. In diesem Fall geschah es durch den Einsatz engagierter, kritischer Leser, die ihre Zeitung nicht etwa erpresst, sondern an ihren wichtigen Informations- und Meinungsbildungsauftrag erinnert haben. Eine fortwährende Aufgabe - auch nach dem Ende der wissenschaftlichen im April 2010 beschäftigt die "Funke-Affäre" die Lokaljournalisten in Varel. Anfang 2011 wurde gegen den ehemaligen Bundeslandwirtschaftsminister ein Verfahren wegen des Verdachts auf Untreue eingeleitet, im selben Jahr wurde er mit neuer Partei zurück in den Kreistag und den Stadtrat gewählt. Für die Grünen zog zudem der Vareler Blogger in den Stadtrat ein, der den Leser- Brief einst öffentlich machte. Das Beispiel macht deutlich, wie komplex aber auch wie spannend Politik und die Berichterstattung darüber im Lokalen sein können. Und es zeigt: Die Herausforderungen an Wachsamkeit und Unabhängigkeit bleiben stets - und nicht nur zu diesem Thema - aktuell.

Denn Varel ist letztlich überall: Politische Verhältnisse verkomplizieren sich, die Gesellschaft wird vielschichtiger. Der Lokaljournalismus muss mit diesem Wandel Schritt halten. Schließlich ist es nun gerade der von vielen Journalisten selbst häufig geringgeschätzte und ungeliebte Lokaljournalismus, auf den es in einer digitalisierten, vernetzten Welt ankommt: Es bedarf der räumlichen Nähe und der lokalen Kompetenz einer Lokalredaktion, die die Zeichen der Zeit erkannt hat.

Zum Weiterlesen

Externer Link: http://www.drehscheibe.org/leseranwalt.html
Einige Zeitungen haben die Position des "Leseranwalts" eingerichtet. Diese Ansprechpartner kümmern sich um Anliegen der Leser und vertreten sie gegenüber der Zeitung und vermitteln zwischen den Parteien. Die drehscheibe stellt einige Fälle aus der Praxis vor.

Mittmeyer, Meike (2011): Lokaljournalismus im Spannungsfeld der Interessen: Berichterstattung zwischen Instrumentalisierung und Informationsauftrag, München.

Meike Mittmeyer, Jahrgang 1987, hat Online-Journalismus an der Hochschule Darmstadt studiert. Erfahrungen sammelte sie in verschiedenen Print- und Onlineredaktionen in Deutschland und den USA. Derzeit absolviert sie ein Volontariat beim "Darmstädter Echo". Ihre Diplomarbeit behandelt zum großen Teil die Fallstudie in Varel und ist unter dem Titel "Lokaljournalismus im Spannungsfeld der Interessen" erschienen.