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Der schmale Grat

Sascha Lübbe

/ 6 Minuten zu lesen

Die Errichtung von Flüchtlingsheimen führt vielerorts zu heftigen Reaktionen. Welche Sorgen sind berechtigt? Und wo beginnt Fremdenfeindlichkeit? Vier Lokalzeitungen und ihr Umgang mit dem Thema.

Asylbewerberheime: Einige Anwohner protestieren, andere heißen die Flüchtlinge willkommen. (© picture-alliance/dpa)

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Die sächsische Stadt Freital hat es zu trauriger Berühmtheit gebracht: Vor einem in ein Asylbewerberheim umfunktionierten Hotel kam es immer wieder zu hässlichen Szenen. Die Bilder fremdenfeindliche Parolen grölender Anwohner gingen durch die Medien. Für einen Moment wurde die Stadt zum Synonym für Fremdenhass in Deutschland. Wie geht man als größte Lokalzeitung der Region damit um?

"Wie mit jeder anderen Situation auch", sagt Uwe Vetterick, Chefredakteur der Sächsischen Zeitung. "Man muss schnell vor Ort sein, genau hinschauen und schreiben, was ist." Klassische Journalistentugenden. Einerseits. Andererseits gehe es bei einem Thema wie Fremdenhass auch darum, Haltung zu zeigen. "Als Lokalzeitung suchen wir das Beste für die Region und die Menschen, die hier leben", sagt Vetterick. "Und die fremdenfeindlichen Proteste in Freital sind eben nicht gut für die Menschen hier." Sein Credo? Mit kühlem Kopf und heißem Herz arbeiten. Sachliche Berichte, eindeutige Kommentare.

Im Gegensatz zu überregionalen Zeitungen, die nur schlaglichtartig über die Ereignisse in der Stadt berichten, ist die Sächsische Zeitung immer in Freital präsent. Für den Chefredakteur bedeutet das eine besondere Verantwortung: "Wir müssen alles im Blick haben und über alles berichten." Auch kritische Stimmen müssten zu Wort kommen können. Eine Trennlinie ziehe er bei Äußerungen, die "prinzipiell fremdenfeindlich, rassistisch oder freiheitsfeindlich" seien, diesen biete seine Zeitung keine Plattform.

Die Reaktionen auf die Berichterstattung über Freital seien so unterschiedlich wie die Leser der Zeitung. "Unverstandene melden sich nur heftiger und häufiger", meint der Chefredakteur. Und noch eine Beobachtung habe er gemacht: Die Heftigkeit der Leserreaktionen stehe in keinem Verhältnis zu den Kündigungszahlen. Das sei schon bei der Berichterstattung über Pegida so gewesen: Dienstags, also einen Tag nach den Demonstrationen, seien die Verkaufszahlen immer besonders hoch gewesen – allen "Lügenpresse"-Vorwürfen zum Trotz. "Man muss als Lokalzeitung nicht opportunistisch agieren", resümiert der Chefredakteur. "Es lohnt sich, seine Grundüberzeugung publizistisch zu leben."

Uwe Vetterick ist Chefredakteur der Sächsischen Zeitung.

Die Rolle der Politik

Ein Blick von Sachsen in das Nachbarland. Ende Juli sandte das Innenministerium Sachsen-Anhalts einen Hilferuf aus: Die Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Halberstadt war vollkommen überlastet. Zwei Turnhallen sollten kurzfristig zu Notquartieren umfunktioniert werden. Die Lokalredaktion der Volksstimme erfuhr an einem Freitagabend davon. Die Zeitung berichtete in ihrem Mantel- und im entsprechenden Lokalteil. Beim Bezug der Halle am darauffolgenden Sonntag kam es dann zu einem Zwischenfall: Jugendliche bewarfen ehrenamtliche Helfer mit Steinen, eine Helferin wurde am Kopf getroffen. In der Zeitung erschienen eine Meldung über den Wurf und eine Reportage über die Situation in der Halle.

Der Anstieg der Flüchtlingszahlen ist in der Volksstimme schon seit Langem Thema. "Allumfassend, sauber und ohne jede Schärfe" wolle man berichten, sagt Redakteur Dennis Lotzmann. Zugleich werde man "berechtigte Kritik auch transportieren". So zitierte die Zeitung aus dem offenen Brief einer Anwohnerin an die Bürgermeister der betroffenen Gemeinden, in dem die Frau die fehlende Einbindung der Bürger in den Entscheidungsprozess bemängelte. Tags darauf erschien wiederum ein Appell der Bürgermeister an die Landesregierung mit der Forderung nach schnellerer Information. Und auch dem Innenstaatssekretär und dem Innenminister des Landes wurde in der Zeitung Gelegenheit gegeben, sich zu äußern.

Die politische Ebene steht im Fokus der Berichterstattung. Da seit Jahren gute Kontakte zu den Bürgermeistern, der Polizei und der Staatsanwaltschaft bestünden, ermuntere man die entsprechenden Ansprechpartner dazu, sich auch kurzfristig mit ihren Problemen an die Zeitung zu wenden, erläutert Lotzmann. "Wir sind natürlich nicht ihr Sprachrohr, bieten ihnen aber die Möglichkeit, aktuelle Themen transparent zu machen."

Die Reaktion auf die Berichterstattung sei erstaunlich positiv. Es habe keine ausfallenden Leserbriefe gegeben. Im Gegenteil: "Ein Leser hatte die hilfreiche Idee, den Weg vom Bahnhof zur Erstaufnahmeeinrichtung auszuschildern, damit die Ankommenden nicht mehr ziellos umherirren." Die Zeitung berichtete darüber. Wenig später standen die mehrsprachigen Schilder. "Es gibt insgesamt eine sehr breite Welle der Hilfsbereitschaft im Land", resümiert Lotzmann. "Aber die kann umschlagen, wenn sich die Bürger übergangen oder unzureichend informiert fühlen." Es sei wichtig, die Bürger beim Thema Asyl als Partner mitzunehmen.

Dennis Lotzmann ist Reporter der Volksstimme, Redaktion Halberstadt.

Umgang mit Rechtsextremen

Im Verbreitungsgebiet der Rheinpfalz kam es in den vergangenen Monaten gleich zu zwei Zwischenfällen: Auf einer Bürgerversammlung zu einer geplanten Asylunterkunft in Ludwigshafen gab es offen fremdenfeindliche Äußerungen. Größeres mediales Echo erregte jedoch der mutmaßlich fremdenfeindlich motivierte Brandanschlag auf ein geplantes Heim in der Gemeinde Limburgerhof. Ein Redakteur der Zeitung schrieb eine Reportage über den Ort des Geschehens. Über den Stand der Ermittlungen wird auch weiterhin berichtet.

"Zahlreiche Politiker besuchten in den Folgetagen den Ort", sagt Michael Schmid, stellvertretender Leiter der Lokalredaktion Ludwigshafen. Ihre Stellungnahmen wurden in einem separaten Artikel veröffentlicht. Zudem habe es zwei Demonstrationen in der Gemeinde gegeben – eine von rund 700 besorgten Bürgern und eine von Rechtsextremen, die unter dem Vorwand auftraten, sich nicht kriminalisieren lassen zu wollen. Auch darüber wurde berichtet. "Es ist wichtig, zwischen normalen, besorgten Bürgern und den teilweise gut organisierten Neonazis zu unterscheiden", sagt Schmid. Letztere seien meist in der Stadt und bei der Polizei bekannt. Diesen Personengruppen werde in der Berichterstattung so wenig Platz wie möglich eingeräumt. Berichte über ihre Demonstrationen würden beispielsweise mit Aufnahmen von Gegendemonstranten bebildert.

Grundsätzlich gehe es darum, "normal und sachlich" zu informieren. Schmid selbst war bei dem oben erwähnten Bürgergespräch anwesend. Seine Eindrücke schilderte er in einem Bericht, in einem Kommentar bezog er aber auch persönlich Stellung zu den Ereignissen. Im weiteren Verlauf der Berichterstattung erschienen zudem ein kritisches Interview mit dem Vertreter einer Bürgerinitiative, die sich um den Werteverfall der Grundstücke in Nähe des geplanten Heims sorgt.

Die Redaktion erhalte zahlreiche Leserbriefe zu dem Thema, sagt Schmid. Bei der Auswahl versuche man stets, beide Lager zu berücksichtigen: die besorgten Bürger, aber auch Menschen, die sich in Willkommensinitiativen engagieren. "Das Thema Asylbewerber bestimmt inzwischen die öffentliche Diskussion", sagt der Redakteur. Die Aufgabe der Zeitung sieht er darin, eine Plattform für die Diskussion zu bieten. Dazu zähle auch, positive Beispiele aufzugreifen – etwa, wenn sich Menschen für die Neuankömmlinge einsetzen.

Michael Schmid ist stellvertretender Leiter der Lokalredaktion Ludwigshafen der Rheinpfalz.

Anwohner im Fokus

Es geschah in den frühen Morgenstunden des 16. Juli. Oliver Konze, Redakteur des Donaukuriers, war auf dem Weg in die Redaktion, als er im Radio vom Brandanschlag auf das geplante Asylbewerberheim im oberbayerischen Winden erfuhr. Kurz entschlossen nahm er seinen Fotoapparat und fuhr zum Ort des Geschehens.

"Die Anwohner waren schockiert", sagt er. Die Gemeinde Reichertshofen, zu der Winden gehört, sei bekannt für ihre Willkommenskultur. Es gebe viele Bürger, die sich für die Flüchtlinge engagierten, das schlage sich auch in der Zeitung nieder.

Als vor einigen Jahren eine größere Anzahl von Asylbewerbern in die Gemeinde kam, begleitete die Zeitung die Neuankömmlinge an ihren ersten Tagen. Gemeinsam mit einem Fotografen besuchte Konze die Familien und verfasste Porträts. Danach habe man das Thema ruhen lassen, um Rechtsextreme nicht zu sehr darauf aufmerksam zu machen. Akuter wurde es in diesem Jahr, als die Pläne zur Errichtung des Heims in Winden bekannt wurden. Viele Bürger der 820-Einwohner-Gemeinde seien der Meinung, dass die 135 Asylbewerber, die kommen sollten, zu viel für den Ort seien, sagt Konze. Es habe regelmäßig Demonstrationen "besorgter Bürger" gegeben. Die Zeitung berichtete darüber, immer um einen "sachlichen Ton" bemüht. Schließlich kam es zu einer Einigung: Statt der geplanten 135 Flüchtlinge sollten nur noch 67 kommen. Es wurde wieder ruhiger um das Thema. Für den Moment.

Mit dem Brandanschlag vom 16. Juli änderte sich das: Zwei Tage nach dem Zwischenfall brachte der Donaukurier auf den Seiten 1 und 3 Reportagen vom Ort des Geschehens. In den folgenden Tagen erschien das Thema im Lokal- und dann im Oberbayern-Teil der Zeitung. Zu Wort kamen der Bürgermeister und Vertreter von Polizei und Feuerwehr. Im Fokus der Berichterstattung standen und stehen jedoch die Anwohner. "Wir fahren immer noch bis zu drei Mal die Woche an dem Heim vorbei und reden mit den Bürgern", sagt Konze. Diese seien zu Gesprächen bereit, bestünden aber häufig auf Anonymisierung.

Oliver Konze ist Redakteur des Donaukuriers.

Fussnoten