Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Vor den Toren Europas: Marokko als Einwanderungs- und Transitland | Innerafrikanische Migrationen | bpb.de

Innerafrikanische Migrationen Konsequenzen der Auslagerung der EU-Grenzen Kindermigration in Burkina Faso Flucht und Vertreibung Migranten als Akteure der Globalisierung Migrations- und Fluchtpfade Marokko Libyen Abschiebungen nach Afrika Leben nach der Abschiebung

Vor den Toren Europas: Marokko als Einwanderungs- und Transitland

Inka Stock

/ 6 Minuten zu lesen

Länder des Südens werden in der Öffentlichkeit vor allem als Herkunftsländer von Migrationsbewegungen thematisiert. Was dabei oft übersehen wird, ist die Tatsache, dass es sich hierbei auch um Einwanderungs- und Transitländer handeln kann, wie das Beispiel Marokko zeigt.

Marokkanisch-spanischer Grenzzaun bei Ceuta. Oft versuchen ganze Gruppen von mehreren hundert Personen gleichzeitig den Zaun mit Leitern und anderen Hilfsmitteln zu überwinden. (© picture-alliance/dpa)

(Zwischen-)Ziel für verschiedene Migrantengruppen

Seit den 1960er Jahren hat sich Interner Link: Marokko zu einem wichtigen Herkunftsland von Migranten in Europa entwickelt. Es ist aber, seit Ende der 1990er Jahre, auch zunehmend zu einem Einwanderungsland geworden, in dem sehr diverse Migrantengruppen leben.

Zum einen ist Marokko schon seit vielen Jahren ein attraktives Ziel für Studierende aus Staaten südlich der Sahara, da seine Universitäten und die Qualität der dortigen Ausbildung auf dem afrikanischen Kontinent generell geschätzt werden. Auch viele Europäerinnen und Europäer im Rentenalter zieht es nach Marokko, um dort ihren Lebensabend zu verbringen. Zum anderen ist Marokko aber auch für zahlreiche Migranten ein Zwischenstopp auf dem Weg nach Europa. Diese bleiben häufig über Jahre in Marokko, wenn sie es aufgrund der stetig gewachsenen Einreisebeschränkungen für Nichteuropäer nicht schaffen, nach Europa zu gelangen. Die meisten Einwanderer kommen aus Staaten südlich der Sahara, aber es sind auch zunehmend Menschen aus Asien und dem Nahen Osten (Interner Link: Irak, Interner Link: Syrien) darunter. Dabei gibt es unterschiedliche Beweggründe nach Marokko zu kommen. Zum einen finden sich unter den Migrantinnen und Migranten viele Menschen, die vor Verfolgung und Gewalt in ihren Herkunftsländern fliehen, zum anderen aber auch solche, die sich aus Mangel an wirtschaftlichen oder sozialen Perspektiven im Heimatland eine bessere Zukunft im Ausland erhoffen.

Während Studierende und Pensionäre in der Regel in Marokko einen Aufenthaltsstatus erlangen können, bleibt diese Möglichkeit anderen Migrantengruppen oft verwehrt. Viele von ihnen haben deshalb auch nur unzureichenden Zugang zu medizinischer Versorgung, sozialen Leistungen, Teilnahme am Arbeitsmarkt und nur eingeschränkte Möglichkeiten, Bildungseinrichtungen zu besuchen. Die meisten undokumentierten Migrantinnen und Migranten in Marokko leben deswegen in sehr prekären wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen und sind auf die Hilfe internationaler Organisationen oder lokaler karitativer Vereine angewiesen. Viele wohnen in überfüllten Unterkünften oder auch auf der Straβe und können nur durch Gelegenheitsjobs überleben. Oft leben Migranten über mehrere Jahre hinweg in dieser Situation. Während manche den Traum von Europa nie aufgeben, versuchen andere, trotz großer finanzieller und sozialer Benachteiligung, in Marokko ein neues Leben aufzubauen.

Restriktive Migrationspolitik

Marokkos Regierung hat als einer der ersten Interner Link: Maghreb-Staaten schon vor mehr als zehn Jahren auf diese Dynamiken mit Reformen seiner Migrationspolitik reagiert, deren Erfolg allerdings kritisch zu hinterfragen bleibt. Die Reformen, die auch in Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen der Interner Link: Europäischen Union geplant und umgesetzt worden sind, zielen vor allem auf die Verschärfung von Maßnahmen zur Verhinderung Interner Link: irregulärer Migration ab. Dazu gehören die Schulung und Ausrüstung des Grenzpersonals und der Polizei in Bezug auf Migrationsproblematiken, sowie gesetzliche und administrative Regelungen, die irreguläre Migration und Schmuggel unter Strafe stellen und diese Tatbestände dann auch administrativ verfolgen können. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die EU ein Interesse daran hat, Marokkos Migrationspolitiken mit den strategischen Ausrichtungen europäischer Politiken zu harmonisieren, da Marokko als direktem Nachbarstaat der EU eine besondere Rolle für den Erfolg der Grenzsicherungsmaβnahmen der EU zufällt. Demgegenüber gab es nur wenige politische und administrative Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen und ökonomischen Rechte der in Marokko lebenden Migrantinnen und Migranten. Erst im Jahr 2014 wurde zum Beispiel ein einmaliger, zeitlich begrenzter Regularisierungsprozess durchgeführt, der es undokumentierten Migranten ermöglichte, einen Aufenthaltsstatus zu erlangen, wenn sie zum Beispiel schwer erkrankt waren, einen fünfjährigen Aufenthalt in Marokko oder einen Arbeitsvertrag nachweisen konnten . Da allerdings kontinuierlich neue Migranten in Marokko ankommen, ist damit zu rechnen, dass die Zahl der Migranten ohne Aufenthaltserlaubnis auch in Zukunft wieder ansteigt und deren soziale und wirtschaftliche Situation weiterhin prekär bleibt. Zudem befindet sich ein nationales Asylsystem noch im Aufbau, daher können Verfahren zur Anerkennung von Flüchtlingen nur durch das Interner Link: Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) durchgeführt werden. 2015 gab es in Marokko laut UNHCR 5.473 Flüchtlinge und Asylsuchende. Das ist ein Anstieg um 80 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Flüchtlinge in Marokko kommen aus insgesamt 36 Ländern, vor allem aus Syrien.

Migrationsrouten und Grenzschutz

Die Migrationsrouten in und durch Marokko werden durch die geographische Lage des Landes beeinflusst. Marokkos Küste ist durch die Meerenge von Gibraltar weniger als 20 Kilometer von der spanischen Küste entfernt. Wegen der intensiveren Kontrollen haben in den letzten Jahren viele Migranten versucht, auf alternative Routen auszuweichen. Eine bedeutende, allerdings sehr risikoreiche Möglichkeit des Grenzübertritts bieten hier die zwei spanischen Exklaven auf dem marokkanischen Festland, die Städte Ceuta und Melilla. Sie gehören seit dem Mittelalter zu Interner Link: Spanien und sind vom Rest des marokkanischen Hoheitsgebiets durch eine Landgrenze und das Meer getrennt. In den vergangenen Jahrzehnten sind massive Grenzsicherungsanlagen aufgebaut worden, um Menschen daran zu hindern, die Grenzen irregulär zu übertreten. 1999 errichtete die spanische Regierung doppelte, mehrere Kilometer lange Grenzzäune um Ceuta und Melilla. Die Grenzen sind außerdem mit festen und mobilen Infrarotkameras ausgestattet. Teile der Kosten für die Sicherungsanlagen wurden von der Europäischen Union übernommen. Die Migranten reagierten auf diese Verschärfung der Grenzkontrollen vermehrt mit einer veränderten Migrationstaktik: Oft versuchen ganze Gruppen von mehreren hundert Personen gleichzeitig den Zaun mit Leitern und anderen Hilfsmitteln zu überwinden. Dies führt regelmäßig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Grenzbeamten und Migranten auf spanischer und marokkanischer Seite. Viele Migrantinnen und Migranten sind dabei verletzt worden oder ums Leben gekommen.

Migration als gesellschaftliche Realität

Die lange Geschichte der Arbeitsmigration in Marokko, die oft dramatischen Ereignisse an der Grenze zu Ceuta und Melilla und die immer sichtbarer werdende Präsenz der Migranten in den großen Städten des Landes hat auch dazu geführt, dass das Thema Migration nach Marokko sowohl innenpolitisch als auch international an Bedeutung gewonnen hat. Nicht nur die Regierung, sondern auch die Zivilbevölkerung in Marokko und in Europa ist mit dem Thema befasst. Während es in den 2000er Jahren vor allem internationale Hilfsorganisationen waren, die auf die Situation von Migranten aufmerksam machten, sind es heute auch Gewerkschaften, lokale Menschenrechtorganisationen und gemeinnützige Vereine, die sich aktiv mit der Flüchtlings- und Migrationspolitik Marokkos auseinandersetzen. So sind viele Projekte und Kampagnen mithilfe dieser Organisationen durchgeführt worden, die sich für die Menschenrechte der Migranten eingesetzt haben. Auch Migrantinnen und Migranten selbst sind in den letzten Jahren öfter in der Öffentlichkeit aufgetreten, um ihre Interessen zu vertreten. Sie waren an Koordinationsmechanismen der Migrationspolitik zusammen mit staatlichen und nicht-staatlichen Institutionen beteiligt und bei öffendlichen Diskussionsforen anwesend. Auch mehrere Proteste wurden von Migrantenorganisationen organisiert. Diese Entwicklungen deuten darauf hin, dass Migration und Flucht mittlerweile wichtige Themen in der marokkanischen gesellschaftlichen Realität darstellen. Für den marokkanischen Staat liegen die Herausforderungen der Einwanderung vor allem in der Schaffung von besseren Möglichkeiten zur sozialen, wirtschaftlichen und politischen Teilnahme der Migranten, da dies auch mit groβer Wahrscheinlichkeit höhere staatliche Investitionen in die Sozialsysteme wie Gesundheit, Bildung, Arbeitsmarkt und soziale Absicherung bedeuten würde. Diese Aufgabe kann allerdings nur teilweise auf nationalstaatlicher Ebene gelöst werden und benötigt die Einbindung internationaler Akteure der Entwicklungspolitik, wenn nachhaltige Lösungen gefunden werden sollen, die allen Bürgern Marokkos zugutekommen. Das Beispiel Marokkos zeigt also, dass der soziale Wandel, den diese Migrationsdynamiken in Staaten außerhalb der Europäischen Union auslösen, auch die europäische Entwicklungs- und Außenpolitik beeinflussen kann.

Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: Innerafrikanische Migrationen.

Zum Thema

Weitere Inhalte

Inka Stock ist Lehrkraft für besondere Aufgaben in der Arbeitsgruppe Migration, Transnationalisierung und Entwicklung an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Ihre Forschungsinteressen liegen bei den sozialen Auswirkungen neuer Migrationregime auf das Leben von Migranten in Staaten des Globalen Südens. Sie hat auch langjährige Erfahrung in der Entwicklungs- und Migrationsarbeit in verschiedenen Ländern des Globalen Südens, mit Schwerpunkt Afrika und Südamerika.