Urbanisierungsprozesse in Flüchtlingslagern
Luftbild von IFO 3, einer Erweiterung des Flüchtlingscamps Dadaab in Kenia, das eines der größten Flüchtlingslager der Welt ist. Flüchtlingslager
sind als temporäre Räume für die Aufnahme und den Schutz von Flüchtlingen konzipiert. In der Praxis bestehen sie jedoch für immer längere Zeiträume, insbesondere im Globalen Süden. Sie beherbergen unterschiedlichste Bevölkerungsgruppen, während die humanitäre Verwaltung und die Infrastruktur in den Lagern expandieren. Deshalb werden Flüchtlingslager auch mit sich im Entstehen befindenden Städten verglichen. Von Urbanisierung im Zusammenhang mit Flüchtlingslagern zu sprechen, vermag die Langlebigkeit und Normalisierung von Ausnahmezuständen anzuzeigen.
Ausgabe von Gutscheinen für Essenspakete im Flüchtlingslager Zaatari in Jordanien. Manche Lagerbewohner verkaufen die Gutscheine, um von dem Geld
Güter zu erwerben, die von humanitären Organisationen nicht zur Verfügung gestellt werden, oder eine eigene Geschäftsidee zu realisieren. So werden die Essensmarken Teil der Lagerwirtschaft.
Autokennzeichen aus aller Welt im Flüchtlingslager Boujdour, in Tindouf, Algerien. Auch wenn Flüchtlingslager die Funktion haben, ihre
Bewohner/-innen von der Bevölkerung im Aufnahmeland zu trennen – Integration ist nicht das Ziel der Lagerpolitik –, stehen sie doch mit ihrer Umwelt in Austauschbeziehungen. Sie werden im Laufe der Zeit regional eingebettet und können so auch zur Entwicklung der regionalen Volkswirtschaften beitragen. In jüngerer Zeit werden Flüchtlingslager als Orte für Investitionen oder buchstäblich als Markt positioniert.
Im Flüchtlingscamp Zaatari in Jordanien wird ein Wohncontainer angeliefert. Zelte und Container symbolisieren, dass Flüchtlingslager als
vorübergehende Einrichtungen konzipiert sind und sollen zeigen, dass sie durch eine entsprechende politische Entscheidung sofort aufgelöst werden können. In der Praxis existieren sie allerdings oft über lange Zeiträume. Die Bewohner/-innen eignen sie sich an und verwandeln etwa die ihnen zugewiesenen Unterkünfte in Lebensräume, indem sie sie nach ihren eigenen Wünschen, Normen und Nutzungsvorstellungen umgestalten.
Palästinensisches Flüchtlingslager Ain-el-Hilwe in Sidon, Libanon. Infolge der Staatsgründung Israels 1948 und des damit einhergehenden
Angriffskrieges der arabischen Länder Syrien, Libanon, Jordanien, Ägypten und Irak, der Suezkrise 1956 und des Sechstagekriegs 1967 flüchteten viele Palästinenser/-innen u.a. in den Libanon. Viele ihrer Flüchtlingslager kann man heute auf den ersten Blick kaum noch als ursprünglich temporär eingerichtete Lager erkennen. Sie gleichen Städten, nicht zuletzt, weil über die Jahrzehnte hinweg Zelte durch feste Bausubstanz ersetzt wurden.
Im jordanischen Flüchtlingslager Zaatari werden Hochzeitskleider zum Verkauf angeboten. Dies zeigt: Im Flüchtlingslager kommt das Leben nicht zum
Stillstand. Menschen werden im Lager geboren, wachsen dort auf, heiraten vielleicht. Einige verbringen ihr gesamtes Leben im Lager, sterben dort und werden dort begraben. Die Ausnahmesituation wird zur Normalität.
Marktplatz im Balukhali Flüchtlingslager in Cox's Bazar, Bangladesch. Bereits unmittelbar nach Eröffnung eines Flüchtlingslagers fangen die
Bewohner/-innen an, Handwerk, Tauschhandel und Unternehmertum zu betreiben. Es entwickelt sich eine Lagerwirtschaft, die zum Gefühl der Normalität beiträgt – wenn auch in einem humanitären Kontext. Auch wenn formelle Beschäftigung oder Handel in den meisten Fällen illegal sind, lässt der informelle Charakter der Lagerwirtschaft genau dies zu und ist gleichzeitig davon abhängig.
Empowerment-Aktivitäten für geflüchtete Rohingya Frauen in einem Flüchtlingslager in Cox's Bazar, Bangladesch. Das Lager als Ort sozialen Wandels:
Im Flüchtlingslager treffen Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft aufeinander und werden mit einer Vielzahl verschiedener Lebensvorstellungen, Weltanschauungen und Praktiken konfrontiert. Dadurch können sich tradierte kulturelle Normen und Vorstellungen verändern. Dazu tragen auch Empowerment-Programme humanitärer Organisationen bei, die u.a. Kinder-, Frauen- und Minderheitenrechte stärken wollen.