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Netzwerke von Migranten | bpb.de

Netzwerke von Migranten

Tim Elrick

/ 5 Minuten zu lesen

Migration ist immer ein hochinteraktiver sozialer Prozess. Angefangen bei Überlegungen, ob man überhaupt seinen Wohnort dauerhaft oder temporär verlagern möchte, über die tatsächliche Entscheidung in Bezug auf die Art und Weise der Migration, den Zielort und den eingeschlagenen Reiseweg, bis hin zu den Möglichkeiten, sich am Zielort in die unterschiedlichsten Bereiche zu integrieren: Immer spielen das Wissen von anderen Menschen und die Kontaktmöglichkeiten zu diesen eine große Rolle.

Van Luong aus Laos lebt seit 26 Jahren in Deutschland. (© Susanne Tessa Müller)

Migrationswillige Menschen versuchen dabei, ihre bestehenden und neu zu knüpfenden Kontakte zu anderen Menschen, die migrationsrelevantes Wissen und materielle Ressourcen haben, für ihr Wanderungsvorhaben zu nutzen. Die Gesamtheit aller sozialen Beziehungen mit migrationsrelevantem Wissen wird dann als soziales Netzwerk des Migranten/ der Migrantin oder Migrantennetzwerk bezeichnet. Dieses umfasst somit nicht nur Familienangehörige und Freunde, sondern auch Bekannte, Personen in Organisationen oder nützliche Fremde. Um Menschen bei ihrer Migration zu helfen, ist mittlerweile eine ganze "Migrationsindustrie" entstanden , die Dienstleistungsangebote zur Arbeitsplatzsuche am Herkunftsort (z. B. Arbeitsagenturen), Reiseangebote (von Busunternehmern bis hin zu illegal agierenden Schleusern) sowie Geschäfte und Dienstleistungen am Zielort (z. B. Lebensmittelgeschäfte, die "heimatliche" Waren anbieten) beinhaltet.

Das Wesen von Migrationsnetzwerken

Um die Wirkungsweise von Netzwerken im Kontext von Migration an sich zu analysieren, muss man die individuelle Ebene der Migranten verlassen und ihre Migrantennetzwerke zusammenfassen. Auf dieser aggregierten Ebene bietet es sich dann an, von Migrationsnetzwerken – generell oder fokussiert auf bestimmte Gruppen (z. B. eines Herkunftsortes, einer Region oder einer ethnischen Gruppe) – zu sprechen . Migrationsnetzwerke bestimmter Gruppen bauen auf dem wechselseitigen Zusammenhalt der Gruppenmitglieder auf, die dann das im Netzwerk akkumulierte Sozialkapital nutzen können. Das Sozialkapital bezeichnet die vorhandenen materiellen und immateriellen Ressourcen der Netzwerkmitglieder, auf die andere Mitglieder durch ihre Beziehungen im Netzwerk Zugriff haben. Der Zugriff wird durch unterschiedliche Mechanismen möglich . Es können altruistische Werte in der Gruppe vorherrschen, die jedes Gruppenmitglied moralisch verpflichten, den anderen Mitgliedern Ressourcen zur Verfügung zu stellen, oder Reziprozitätsüberlegungen, also der Austausch von Ressourcen in Erwartung einer Gegenleistung; es kann eine gruppengebundene Solidarität vorhanden sein, die es erfordert, den anderen Gruppenmitgliedern zu helfen; oder es gibt sogar Sanktionsmechanismen in Gruppen, die das Vorenthalten von Ressourcen bestrafen. Alle Mechanismen stellen sicher, dass die Gruppenmitglieder Zugriff auf die Netzwerkressourcen erhalten. Je mehr Kontakte ein Mensch in sein Netzwerk einbinden kann und je mehr Ressourcen die von ihm eingebundenen Kontakte besitzen, desto stärker wird sein Netzwerk. Dies gilt genauso für die Gesamtheit, also das Migrationsnetzwerk. Ein Migrationsnetzwerk wird umso stärker sein, je länger es existiert, also je länger die entsprechende Gruppe Migrationserfahrung hat. Es können sich also z. B. Bewohner eines Dorfes, in dem ein hohes Maß an Solidarität herrscht, von bereits migrierten Gemeindemitgliedern im Ausland Informationen darüber beschaffen, an welchem Ort im Zielland besonders viele Arbeitsstellen offen sind. Sie können wahrscheinlich auch auf das Wissen der Migranten darüber zurückgreifen, welche Reiseroute die günstigste ist und wo man am Zielort eine Unterkunft findet, wenn ihnen nicht sogar andere Migranten kostenlos eine Unterkunft für die ersten Tage oder Wochen anbieten.

Die Wirkung von Migrationsnetzwerken

Wissenschaftliche Untersuchungen über die Wirkungsweise von sozialen Netzwerken im Migrationsprozess haben hauptsächlich Migration fördernde, aber auch einige hindernde Kräfte festgestellt . Die Erleichterungshypothese besagt, dass die sozialen Netzwerkkontakte am Zielort den (potenziellen) Migranten vielseitig helfen, z. B. mit lokalem Wissen um Arbeitsplätze, mit Überbrückungsgeld oder hilfreichen Kontakten. Die Ermutigungshypothese verweist auf den Umstand, dass Netzwerkmitglieder potenzielle Migranten auffordern, kurz- oder langfristig zu wandern, um bestimmte Ziele zu verwirklichen, z. B. als Strategie zur Sicherung des Haushaltseinkommens. Nach der Affinitätshypothese schließlich wird Migration durch Netzwerke am Herkunftsort verhindert, indem sie bzw. die daraus resultierenden sozialen Bindungen, z. B. zu Freunden und Verwandten, so stark sind, dass potenzielle Migranten vom Wohnortwechsel absehen. Insofern spricht man davon, dass Migrationsnetzwerke die Kosten (gleich ob ökonomische oder soziale Kosten) und Risiken im Migrationsprozess senken; dies kann man, wie in der Affinitätshypothese angedeutet, von sozialen Netzwerken an sich nicht sagen.

Generell kann festgestellt werden, dass Menschen, die Beziehungen zu anderen Menschen mit aktueller oder vergangener Migrationserfahrung unterhalten, mit höherer Wahrscheinlichkeit selbst migrieren werden . Menschen mit Migrationserfahrung, die wieder an ihren Herkunftsort zurückgekehrt sind, werden auch deutlich wahrscheinlicher ihren Wohnort (erneut) verlagern als Menschen ohne Migrationserfahrung, da Erstere bereits ein Migrationsnetzwerk aufgebaut und Migrationserfahrung gesammelt haben. Und schließlich haben wissenschaftliche Untersuchungen ergeben, dass Migrationsnetzwerke umso wichtiger werden, je mehr politische, institutionelle und ökonomische Hindernisse einem Migrationsvorhaben entgegenstehen. Die Netzwerkkontakte erleichtern somit auch ein mehr oder weniger flexibles Leben in mehr als einem nationalen Kontext. Dies wird mittlerweile als transnationale Lebensführung bezeichnet.

InfoWas ist ein Migrationsnetzwerk?

Menschen, die vorhaben, temporär oder dauerhaft ihren Wohnort zu verlagern, bedienen sich häufig der Hilfe anderer Menschen, um dieses Vorhaben zu verwirklichen. Zusammengefasst ergibt die Gesamtheit aller sozialen Beziehungen eines Menschen, die ihm bei seiner Wanderung behilflich sind, sein Migrantennetzwerk, also das soziale Netzwerk dieses (potenziellen) Migranten. Dieses Migrantennetzwerk kann Familienangehörige, Freunde, Bekannte, aber auch Kontakte zu Institutionen oder auch nur nützlichen Fremden beinhalten.

Wenn man nun die Gesamtheit aller Migrantennetzwerke einer bestimmten Gruppe betrachtet, spricht man von Migrationsnetzwerk. Diese Gruppe leitet sich häufig aus geographischen, ethnischen oder nationalen Bezügen ab (z.B. Migrationsnetzwerk einer Stadt, Region oder eines Landes).


Migrationsnetzwerke haben ihre quantitativ größte Wirkung im Bereich der internationalen Wanderung niedrig qualifizierter und unqualifizierter Arbeitskräfte, da es in den entsprechenden Wirtschaftssegmenten immer schon eine hohe Nachfrage nach Arbeitskräften gab, die häufig nicht durch den Binnenarbeitsmarkt befriedigt werden konnte. Insbesondere die ökonomischen Anreize in Form von Einkommensunterschieden zwischen Herkunfts- und Zielland tragen dazu bei, dass mit Hilfe dieser Netzwerke eine Kettenmigration ausgelöst werden kann und sich dadurch die Migrationsströme verstetigen.

Migrationsnetzwerke und Migrationspolitik

Welchen Einfluss haben nun die Migrationsnetzwerke auf die Migrationspolitik? Als Migrationspolitik werden hier die politischen Maßnahmen einzelner Staaten oder Staatenbündnisse (wie die EU) zur Steuerung der Zu- und Abwanderung verstanden. Diese Maßnahmen umfassen die Steuerung der faktischen Ein-/Ausreise sowie die Regelung des Aufenthaltes im Zielland. Netzwerke können unterschiedliche Auswirkungen auf neu eingeführte Migrationspolitiken haben: Sie können die Politikziele unterstützen, neutralisieren oder durchkreuzen.

Eine Migration fördernde Politik, z. B. bei einem Mangel an günstigen Arbeitskräften in einem Wirtschaftssektor, wird durch Migrationsnetzwerke unterstützt, wenn bereits ein etabliertes Netzwerk zwischen einigen Herkunftsregionen und dem Zielland besteht. Dann können die Netzwerkkontakte die Migration zusätzlich erleichtern und es wird zu einer verstärkten Wanderungstätigkeit kommen, mitunter stärker, als die Entscheidungsträger in der Politik beabsichtigt hatten. Bestehen aber bereits starke Migrationsnetzwerke zwischen einer Herkunftsregion und einem Zielland A, und ein Zielland B beschließt eine zuwanderungsfördernde Politik einzuführen, so ist es möglich, dass trotz ökonomischer und politisch-institutioneller Anreize die Wanderungsströme nicht von A nach B umgelenkt werden. Die Vorteile der Kontakte im bestehenden Migrationsnetzwerk sind stärker, und die Migrationspolitik des Ziellandes B wird somit zum Teil neutralisiert.

Schließlich kann das Bestehen starker Migrationsnetzwerke den Politikzielen sogar direkt entgegenlaufen. Wenn die Einkommensunterschiede zwischen Herkunfts- und Zielort groß genug sind, setzen Migranten ihre Netzwerke ein, um die ihnen entgegenstehenden Hindernisse zu umgehen. Dass die Migranten hierbei nicht nur Politiken, sondern auch Regelungen und Gesetze umgehen, kann einerseits als Ausdruck ihrer (vor allem ökonomischen) Not angesehen werden. Es kann aber auch als Zeichen dafür gelten, dass einige der hauptsächlichen Herkunftsstaaten unqualifizierter Arbeitsmigration von deren Bürgern als ineffizient und korrupt angesehen werden. Dies führt dazu, dass die Bewohner dieser Staaten grundsätzlich weniger Bedenken haben, staatliche Verordnungen und Gesetze zu umgehen, die ihnen bei der Erreichung ihrer Ziele im Weg stehen .

Fussnoten

Fußnoten

  1. Salt 2001; Hernández-León 2005.

  2. vgl. Elrick, Ciobanu 2007.

  3. Portes 1998.

  4. vgl. z. B. Haug 2000.

  5. Massey et al. 1993.

  6. Castles 2004b; Doomernik et al. Februar 2005.

Tim Elrick ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im EU Marie Curie Excellence Grant Projekt "KNOWMIG" an der Universität Edinburgh, Schottland.