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Selemawi M.: "Am Anfang habe ich kein Ziel gehabt." | Regionalprofil Nordafrika | bpb.de

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Selemawi M.: "Am Anfang habe ich kein Ziel gehabt."

/ 7 Minuten zu lesen

Selemawi M. kam 2018 als Flüchtling nach Deutschland. Seine Flucht war von Unsicherheit geprägt. Ein sehr persönlicher Rückblick.

Mai 2019: Vom UNHCR aus Libyen evakuierte Flüchtlinge bauen ihre neuen Unterkünfte auf. Das UNHCR hatte zahlreiche Flüchtlinge aus dem politisch instabilen Libyen evakuiert, um sie in Niger in Sicherheit zu bringen. (© picture-alliance/dpa, Esma Cakir)

Warum sind Sie aus Eritrea geflüchtet?

In Eritrea gibt es keine Menschenrechte, sie werden immer wieder verletzt. Leute kommen in die Schule und nehmen dich mit zum sogenannten Nationaldienst. Dann hast du keine Möglichkeit, weiter zur Schule zu gehen.

War Europa von Anfang an das Ziel, als Sie sich entschieden haben zu fliehen?

Am Anfang habe ich kein Ziel gehabt, also wusste ich auch nicht, dass ich nach Europa gehen oder dort landen werde. An erster Stelle stand für mich die Flucht aus Interner Link: Eritrea. Erst in Äthiopien habe ich mir überlegt, wo ich in Frieden leben kann und mich entschieden, nach Europa zu gehen.

Welche Länder haben Sie auf dem Weg nach Europa durchquert und wie haben Sie den Weg zurückgelegt?

Von Eritrea bin ich zu Fuß nach Äthiopien gelaufen. Von dort aus bin ich in den Sudan gekommen, teils mit dem Auto, teils zu Fuß. Weiter ging es mit dem Auto nach Libyen. Von dort aus bin ich mit dem Flugzeug nach Niger gekommen und später auch nach Deutschland.

Wer hat die Transporte mit dem Auto organisiert? Hatten Sie Kontakt zu Schleppern?

Also es ist so, wenn du in Äthiopien bist, gibt es sogenannte Makler, die den Kontakt zu Schleusern vermitteln. Sie rufen die Schleuser an und sagen ihnen, dass es Leute gibt, die weggehen möchten. Den Schleuser selbst siehst du nicht. Der schickt andere Personen, die dich mit dem Auto mitnehmen und so startet die Reise. Sie nehmen dafür viel Geld. Sie nehmen mehr als die vereinbarten Beträge.

Wie kann ich mir das vorstellen?

Die haben einen Trick. Am Anfang verhandelst du mit ihnen: Sie nennen dir einen Betrag und du sagst: "Nein, das ist zu teuer. Mach mir das billiger, zum Beispiel für 500 US-Dollar." Dann sagt er: "Ja, okay, komm mit!" und dann wirst du eingesperrt. Dort wird dir der richtige Preis genannt und du wirst gezwungen, ihnen das Geld zu geben, oder du wirst nicht freigelassen. So ist ihre Taktik: Am Anfang sagen sie Ja, und wenn sie dich unter Kontrolle haben, sagen sie, dass du mehr bezahlen musst.

Mit wie vielen Schleusern hatten Sie Kontakt?

Die Schleuser selbst hat Mittelsmänner, die die ganze Arbeit erledigen, sei es die Geldfrage oder auch, wenn sie einem wehtun wollen. Die Schleuser selbst geben nur die Befehle, du siehst sie nicht, du hast nur zu den Mittelsmännern Kontakt. Die Schleuser haben Kontakte in viele Länder. Du wirst von den Mittelsmännern eines Schleusers an die Leute eines anderen Schleusers weitergereicht. Sie kennen sich. Sie managen alles, bis du an dein Ziel gelangst, also in meinem Fall Libyen.

Wie haben die Mittelsmänner Sie behandelt?

Sie sind die Befehlsausführer. Wenn der Schleuser sagt, sie sollen uns schlagen, damit wir das Geld bezahlen, dann wirst du von den Mittelsmännern geschlagen. Die Schleuser bestimmen auch, ob wir etwas essen dürfen oder nicht. Die Mittelsmänner haben alle Befehle nur ausgeführt, aber sie waren auch nicht freundlich.

Haben Sie auf dem Weg bis nach Libyen auch Kontakt zum Militär oder zur Polizei gehabt?

Im Sudan wurden wir einmal von der Polizei festgenommen, aber die Schleuser haben denen Geld gegeben und die haben uns freigelassen.

Mussten Sie den Schleusern das Geld zurückzahlen oder war das sozusagen "im Preis inbegriffen"?

Das haben wir selbst bezahlt. Weil die Polizei uns festgenommen hat, mussten wir auch das Geld aufbringen, was sie an die Polizei gezahlt haben. Also die Summe, die ich mit dem Schleuser vereinbart hatte, waren 3.800 Dollar. Am Ende habe ich 5.500 Dollar bezahlt.

Bis Libyen?

Bis nach Italien, so war die Vereinbarung.

Nach Italien sind Sie aber gar nicht gekommen. Stattdessen saßen Sie lange in Libyen fest. Welche Erfahrungen haben Sie dort gemacht?

Interner Link: Die Situation dort war schrecklich und ich möchte am liebsten gar nicht darüber reden, aber zum Glück bin ich ja heile aus der Situation herausgekommen. Viele andere sind gestorben, das Elend war so schlimm. Als wir in Niger ankamen, fühlten wir uns wie eine Art Leiche.

Was ist in Libyen passiert?

Einige Mittelsmänner haben Kontakt zu libyschen Milizen. Die haben uns verhaftet und in eine große Halle gesperrt. Ich habe dort ein Jahr verbracht, bis ich die kompletten 3.800 Dollar bezahlt hatte. Der Schleuser nimmt Kontakt zu deinen Familienangehörigen auf und die sollen das Geld überweisen. Irgendwann sagte meine Mutter: "Das war mein letztes Geld, ich kann nichts mehr für meinen Sohn tun. Wenn er stirbt, dann ist das so." Danach hat man mich freigelassen und in den Hafen gebracht, wo ich nochmal sieben Monate in einer Art Gefängnis verbracht habe.

Wie viele Menschen waren mit Ihnen eingesperrt?

An dem Ort, wo ich ein Jahr verbracht habe, waren zwischenzeitlich bis zu 800 Leute untergebracht. Die Leute, die bezahlt haben, kommen raus und dann kommt Nachschub. Das ist ein Kommen und Gehen. An dem Ort, wo ich zuletzt sieben Monate verbracht habe, waren wir 200 bis 300 Leute.

Wer hat Sie bewacht?

Es gab an der Tür Männer mit Kalaschnikows. Die haben dafür gesorgt, dass keiner rauskommt.

Haben diese Männer Sie auch mit Nahrungsmitteln versorgt?

Die Nahrungsmittelversorgung lief so: Es gab eine große Lieferung Makkaroni und Salz. Dann haben die Aufseher jemanden ausgesucht, der das für alle anderen kochen musste. Ein Jahr lang haben wir nur Makkaroni mit Salz gegessen.

Jeden Tag?

Das Essen ist genau wie die Laune des Schleusers. Wenn er sein Geld bekam und gut gelaunt war, dann gab es zweimal am Tag etwas zu essen. Aber es gab auch so viele Zeiten, wo er sauer war und dann hat es zwei, drei Tage lang kein Essen gegeben.

Wie sah die Versorgung mit Trinkwasser aus?

Es gab einen Wasserhahn, der aber nur nachts funktionierte. Dann musstest du mit der Hand von diesem Wasserhahn trinken. Ab und zu haben wir Flaschen gehabt, die wir voll machen konnten. Der Wasserhahn war in einer Art Badezimmer, wo wir auch unser Geschäft verrichtet haben.

Sie haben gesagt, dass Sie die große Halle nicht verlassen durften.

Wenn sie dich rausgeholt haben, dann musstest du Zwangsarbeit verrichten, z.B. Holz sammeln oder andere Aufgaben für die Aufseher erledigen. Ich selbst bin nicht rausgekommen und habe keine Zwangsarbeit verrichten müssen. Aber es gab auch Leute, die mitgenommen wurden und nie wieder zurückgekommen sind. Man weiß nicht, was mit denen passiert ist.

Was haben Sie den ganzen Tag lang gemacht?

Wir haben gewartet und gehofft. Aber je länger man dort gefangen war, desto mehr haben wir die Hoffnung verloren und den Gedanken, in ein anderes Land zu kommen, begraben. Stattdessen gab es nur zwei wichtige Fragen: Überlebe ich heute oder sterbe ich? Bekomme ich heute Essen oder nicht? Wenn Leute Widerstand geleistet haben, dann wurde auf sie auch geschossen. Es gab viele, die gestorben sind.

Ging die Gewalt von den Aufsehern aus?

Ja, aber die Aufseher führen nur die Befehle des Schleusers aus, der die Kontrolle über das Lager hat. Wenn er denen sagt, dass sie die Leute im Lager schlagen oder quälen sollen, dann tun sie das.

Wie ging Ihre Reise weiter?

Nach sieben Monaten im Gefängnis im Hafen sind wir in der Nacht gestartet. Wir waren etwa viereinhalb Stunden auf dem Meer. In den frühen Morgenstunden haben uns dann libysche Marinesoldaten festgenommen.

Und was ist dann passiert?

Die Soldaten haben uns zur Küste gebracht und da sind dann Leute vom UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) gekommen. Sie haben Kleidung mit dem Schriftzug des UNHCR getragen und haben uns gesagt: "Jetzt seid ihr frei von den Schleusern. Wir sind vom UNHCR und wir bringen euch an einen sicheren Ort." Sie haben uns aufs Polizeirevier gebracht und uns ein Verpflegungspaket gegeben, z.B. Shampoo, Handtücher und auch eine neue Bettdecke. Als die Leute vom UNHCR weg waren, haben uns die libyschen Polizisten all diese Sachen wieder weggenommen.

Wie lange haben Sie auf dem Polizeirevier verbracht?

Ich war insgesamt drei Wochen auf dem Polizeirevier. Die Leute, die verheiratet waren und Kinder hatten, wurden bereits nach fünf Tagen vom UNHCR evakuiert und nach Italien geflogen.

Was geschah nach den drei Wochen auf dem Polizeirevier?

Die Leute vom UNHCR sind mit einem Bus gekommen, haben uns zum Flughafen gebracht und in den Niger geflogen. Dort waren wir in der Hauptstadt Niamey in einem Haus untergebracht. Wir waren ungefähr 70 Leute, immer etwa zehn pro Zimmer. Im Vergleich zu Libyen war es dort viel besser. Wir wurden gut versorgt und die Leute waren sehr nett.

Hat UNHCR Sie darüber informiert, wie es mit Ihnen weitergeht?

Sie haben uns informiert, dass wir etwa sechs Monate im Niger bleiben werden, wir uns frei bewegen können und in Sicherheit sind. Während dieser Zeit haben sie ein Interview mit mir geführt und geschaut, welches Land mich aufnehmen würde. Dann kamen Vertreter vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aus Deutschland und haben mit mir nochmal zwei Interviews geführt. Danach haben sie noch einen Gesundheitscheck gemacht und dann bin ich nach Deutschland ausgeflogen worden.

Wie lange waren Sie also unterwegs, bis sie in Deutschland angekommen sind?

An einem Sonntag im März 2015 habe ich mich in Eritrea auf den Weg gemacht und im Oktober 2018 bin ich in Deutschland angekommen. Meine Flucht hat also dreieinhalb Jahre gedauert.

Wie geht es Ihnen heute in Deutschland?

Gut, aber es ist auch schwer, weil meine Familie nicht hier ist.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Dass mein Leben geregelter wird und ich irgendwann einen höheren Lebensstandard haben werde. Ich werde die Sprachschule zu Ende bringen und möchte dann eine Ausbildung machen.

Das Interview führte Laura Hartmann. Mündliche Übersetzung aus dem Tigrinischen: Frezghi Akalu.

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