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1.3.2012
EU/Italien: Stärkung des Flüchtlingsschutzes auf hoher See
In einem Grundsatzurteil sprach sich der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte gegen
die bislang gängige Praxis aus, auf See aufgegriffene
Migranten ohne Prüfung eventueller
Rechtsansprüche in Drittländer zurückzuschieben.
Flüchtlingsorganisationen forderten,
Schutzsuchenden nun einen sicheren Zugang
zum europäischen Asylsystem zu garantieren.
Hintergrund
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte (EGMR) vom 23. Februar
im Fall "Hirsi Jamaa und andere gegen Italien“ (Az.
27765/09) bezieht sich auf die Rückschiebung von
etwa 230 Boatpeople im Mai 2009. Die aus Eritrea
und Somalia stammenden Migranten waren 35 Seemeilen
(65 km) vor der italienischen Mittelmeerinsel
Lampedusa vom italienischen Grenzschutz aufgegriffen
worden (vgl. MuB
7/11,
4/11). Damit fand der
Aufgriff zwar außerhalb der italienischen Hoheitsgewässer,
aber wegen der unter italienischer Flagge
fahrenden Schiffe unter der Jurisdiktion des Landes
statt. Auf der Grundlage eines umstrittenen bilateralen
Rückübernahmeabkommens waren sie anschließend
nach Libyen zurückgebracht und den dortigen
Behörden übergeben worden (vgl. MuB
5/10,
5/09,
8/04). Mit Hilfe des Hohen Flüchtlingskommissariats
der Vereinten Nationen (UNHCR) konnte der italienische
Flüchtlingsrat (CIR) einen Teil der zurückgeschobenen
Migranten in libyschen Flüchtlingslagern
ausfindig machen und von insgesamt 24 Betroffenen
Vollmachten für eine Klage einholen.
Das Mittelmeer ist eine der Hauptrouten für die
Einreise von Flüchtlingen und Migranten aus Afrika
(vgl. MuB
2/12, 10/11). Vor dem Hintergrund des
sogenannten Arabischen Frühlings stieg im Jahr 2011
die Zuwanderung über den Seeweg stark an (vgl. MuB
6/11,
4/11,
3/11). Auf der Grundlage eines libyschitalienischen
Freundschaftsabkommens führte der
italienische Grenzschutz seit Mai 2009 Rückschiebungen
von Boatpeople durch, die auf hoher See
aufgegriffen wurden (sogenannte "push-backs“). Eine
Prüfung von eventuellen Schutzansprüchen fand nicht
statt. Flüchtlingshilfsorganisationen gehen von mehreren
Tausend solcher Rückschiebungen pro Jahr aus.
Urteil
In ihrem Urteil stellten die EGMR-Richter
einstimmig fest, dass die italienischen Behörden in
vier Punkten gegen die Europäische Menschenrechtskonvention
(EMRK) verstoßen haben. Erstens stellte
die Rückführung der Boatpeople nach Libyen eine
Verletzung des Artikels 3 der EMRK dar, demzufolge
niemand "der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender
Strafe oder Behandlung unterworfen
werden“ darf. Das Gericht argumentierte, dass trotz
möglicherweise steigender Zuwanderung die Staaten
nicht von der Pflicht entbunden werden können,
eine Misshandlung der rückzuführenden Personen im
Zielland zu verhindern. Die Verhältnisse in libyschen
Flüchtlingslagern sind u. a. vom UNHCR wiederholt
kritisiert worden. Daran habe der 2011 vollzogene
Regimewechsel bisher nichts geändert.
Zweitens verstieß die Inkaufnahme einer möglichen
Weiterschiebung der Flüchtlinge durch libysche Behörden nach Eritrea und Somalia ebenso gegen
Artikel 3 der EMRK und gegen das sogenannte Rückschiebeverbot.
Laut Amnesty International droht in
ihr Heimatland zurückgeschobenen Eritreern allein
aufgrund der Tatsache Folter, dass sie ihr Land verlassen
haben.
Drittens habe Italien gegen das Verbot der sogenannten
Kollektivausweisung verstoßen (Art. 4 des
Protokolls 4 zur EMRK). Auch auf hoher See dürfen
dem Urteil zufolge keine Rückschiebungen ohne
Einzelfallprüfungen durchgeführt werden. Die italienischen
Grenzschützer hatten weder die Personalien
der Boatpeople aufgenommen, noch deren eventuelle
Schutzbedürftigkeit geprüft. Ferner waren die Migranten
nicht auf die Möglichkeit hingewiesen worden,
Asyl zu beantragen.
Viertens stellte das Gericht fest, dass Italien das
in Artikel 13 der EMRK festgeschriebene Recht auf
wirksame Beschwerde verletzt habe, da den Boatpeople
keine Rechtsmittel gegen ihre Rückschiebung
ermöglicht wurde.
Die italienische Regierung argumentierte während
des Prozesses, dass die Rettung Schiffbrüchiger auf
hoher See zwar eine internationale Pflicht sei, bei der
jedoch keinerlei nationale Hoheitsrechte ausgeübt
werden müssten. Diesem Argument widersprachen
die Richter des EGMR. Vielmehr hätten staatliche
Hoheitsbefugnisse und Menschenrechte auch auf
hoher See zu gelten.
Reaktionen
Das UNHCR, Menschenrechts- und
Flüchtlingsorganisationen begrüßten das Urteil als
wegweisend. Amnesty International sieht dadurch
den Schutz von Flüchtlingen auf hoher See entscheidend
gestärkt und forderte die EU-Staaten
auf, "Schutzbedürftigen endlich sicheren Zugang nach Europa und Recht auf Asyl zu gewähren“, so
Amnesty-Asylrechtsexpertin Franziska Vilmar. Pro
Asyl betonte in einer Pressemitteilung, dass die
EU-Staaten nun "ihre Grenzkontroll- und Zurückweisungspolitik
grundlegend überprüfen müssen“.
UNHCR bezeichnete das Urteil als "Wendepunkt“ in
der Frage nach der Verantwortung von Staaten im
Umgang mit Flüchtlingen. EU-Innenkommissarin
Cecilia Malmström kündigte an zu prüfen, ob weitere
Maßnahmen nötig sind.
Konsequenzen
Die italienische Regierung muss
den Klägern eine Entschädigung von insgesamt
330.000 Euro auszahlen. Da von den 24 Klägern
bereits zwei bei einem weiteren Einreiseversuch nach
Europa ums Leben gekommen sind, entspricht dies
15.000 Euro pro Person. Die italienische Regierung
kündigte eine Analyse des Urteils an und versprach,
dessen Vorgaben zu folgen. Unterdessen versuchen
Italien und die EU derzeit, neue Rückübernahmeabkommen
mit den neuen Regierungen Ägyptens,
Libyens und Tunesiens auszuhandeln.
Das Urteil betrifft nicht nur Italien, sondern auch
den Umgang anderer EU-Staaten mit Flüchtlingen
und Migranten. Bei Einsätzen der EU-Grenzschutzagentur
Frontex sowie durch bilaterale Rückübernahmeabkommen
ist es gängige Praxis, auf hoher See
aufgegriffene Migranten in Transitstaaten zurückzuschieben
(vgl. MuB
10/11,
8/11).
Die innenpolitische Sprecherin der Linkspartei
Ulla Jelpke forderte eine erneute Überarbeitung der
Frontex-Verordnung. Bis dahin solle "die Bundespolizei
aus sämtlichen Frontex-Aktivitäten zurückgezogen
werden“. Auch Tom Koenigs, Vorsitzender des
Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre
Hilfe, und Josef Winkler, Sprecher für Flüchtlingspolitik
(beide Bündnis 90/Die Grünen) erklärten: "Die
Bundesregierung muss ihre Blockadehaltung beim
europäischen Flüchtlingsschutz endlich aufgeben.
Europa braucht eine Flüchtlingspolitik, die auf Solidarität
und nicht auf Abschottung beruht.“
sta
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