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11.9.2012
Frankreich: Neustart in der Einwanderungspolitik
Nach dem Antritt der neuen Regierung zeichnet sich ein vorsichtiger Kurswechsel in der
Einwanderungs- und Integrationspolitik ab. Im
August gab es erneut Streit um die Auflösung
illegaler Roma-Siedlungen. Inzwischen gibt es
dazu einen Kompromiss. Eine zentrale Herausforderung bleibt die Lage in den Vorstädten.
Im Mai und Juni gab es in Frankreich einen Regierungswechsel. Nach der Wahl von François Hollande
(Sozialisten, PS) zum Staatspräsidenten errangen die
Sozialisten auch im Parlament die Mehrheit. Zusammen mit den Grünen und den beiden Linksparteien
Divers Gauche und Parti Radical de Gauche bilden
sie seit Juni die Regierung. Es ist das erste Mal seit
2002, dass Frankreich eine Mitte-Links-Regierung
hat. Dass sowohl das Präsidentenamt als auch das
Parlament in sozialistischer Hand sind, gab es zuletzt
1988 bis 1993 unter François Mitterand.
Der bisherige konservative Präsident Nicolas Sarkozy (UMP, 2007 bis 2012) und seine Regierung waren
in den vergangenen Jahren im In- und Ausland immer wieder für ihre restriktive und populistische Einwanderungs- und Integrationspolitik kritisiert worden. In
die Präsidentschaft Sarkozys fallen u. a. das Burkaverbot (vgl. MuB
8/11,
6/10,
6/09), eine restriktive
Abschiebepolitik (vgl. MuB
4/09) und die Erschwerung
des Familiennachzugs (vgl. MuB
8/07). International
waren Sarkozy und seine Regierung besonders scharf
für den Umgang mit Roma aus Südosteuropa kritisiert
worden (vgl. MuB
8/10,
7/10). In den Vororten gab es zudem immer wieder Konflikte, für die Sarkozy durch
sein teilweise provokatives Auftreten mitverantwortlich gemacht wurde (
2/08,
10/06,
10/05).
Neue Leitlinien
Der Neustart in der Einwanderungs- und Integrationspolitik wird nicht so radikal ausfallen, wie dies viele in Frankreich erhofft haben.
Schon im Wahlkampf hatte Hollande nur für einen
vorsichtigen Kurswechsel geworben (vgl. MuB
10/11).
Große Veränderungen sind auch wegen der anhaltenden
Wirtschaftskrise nicht zu erwarten. Vor diesem Hintergrund hatte Hollande betont, dass die Einwanderung
aus ökonomischen Gründen reduziert werden müsse.
Zentrales Wahlversprechen der Sozialisten im Feld der Integrationspolitik ist die Einführung des kommunalen Wahlrechts auch für Nicht-EU-Ausländer, die seit mindestens fünf Jahren in Frankreich leben. Hierfür muss allerdings die Verfassung geändert werden.
Zuständig für Einwanderungsfragen im neuen Kabinett ist der in Spanien geborene Innenminister Manuel
Valls (PS), der zum rechten Flügel der Partei zählt. Die
Grundzüge seiner künftigen Einwanderungs- und Integrationspolitik hat er Ende Juni in einem Zeitungsinterview dargelegt. Valls betonte wiederholt, es gehe ihm
darum, in seiner Politik Strenge und Menschlichkeit zu
vereinen (fermeté et humanité). Die Regeln der Legalisierung von Personen ohne legalen Aufenthalt sollen
präzisiert werden. Eine Massenlegalisierung – die viele
erhofft hatten – soll es jedoch nicht geben (vgl. MuB
5/08,
6/06,
6/98). Familien werden künftig nicht mehr
in Abschiebehaft genommen.
Die Zahl der Einbürgerungen soll wieder steigen.
Sie war zuletzt 2011 gegenüber 2010 um 40 % gesunken. Ferner kündigte der Minister die Einführung
eines dreijährigen Aufenthaltstitels an. Bisher gibt es
in Frankreich nur Aufenthaltstitel für ein Jahr oder für
zehn Jahre, wobei Letzterer selten vergeben wird.
Mit der "Dreijahreskarte“ sollen zum einen Ausländer
mehr Planungssicherheit bekommen und zum anderen die Behörden entlastet werden. Während linke
Parteien und Ausländerrechtsorganisationen diese
Vorschläge als nicht weitgehend genug kritisierten
und Valls vorwarfen, die Politik von Sarkozy fortzusetzen, bezeichneten Vertreter der konservativen UMP
die Pläne als gefährlich und zu "lasch".
Umgang mit Roma
Im Wahlkampf hatte Hollande
auch versprochen, mit illegalen Roma-Siedlungen anders umzugehen. Im August wurden erneut mehrere
Siedlungen aufgelöst, u. a. in Lyon, Lille und Paris. Den
Räumungen gingen jeweils Gerichtsurteile voraus, die
die Auflösung mit baulicher Unsicherheit und mangelnder Hygiene begründeten. Seit dem Regierungswechsel
verloren so etwa 3.000 Roma ihre Unterkunft.
Auch unter der neuen Regierung wurde die bisherige
Praxis fortgesetzt, die Betroffenen mit der Zahlung einer
geringen Geldsumme – 300 Euro für jeden Erwachsenen – zur freiwilligen Rückkehr in ihr Herkunftsland
zu bewegen. Hollande und seine Regierung wurden
daraufhin im In- und Ausland scharf kritisiert. Vertreter
des UN-Menschenrechtsbüros (OHCHR) forderten die
französische Regierung auf, europäisches und internationales Recht zu respektieren, insbesondere das Verbot
kollektiver Abschiebungen. Die EU-Kommission stellte
Frankreich wie schon 2010 unter Beobachtung.
Ende August beschloss die Regierung eine Kompromisslösung, die in Form eines Rundschreibens
an alle Präfekturen verschickt wurde. Diese werden
angehalten, frühzeitig und proaktiv zu handeln:
Sobald eine Roma-Siedlung entdeckt wird, soll die
individuelle Situation der Bewohner geprüft und nach
entsprechenden Lösungen für Unterkunft, Gesundheitsversorgung und Schulbesuch der Kinder gesucht
werden. Um die Arbeitsmarktintegration der Roma
zu erleichtern, entfällt die bisher bestehende Gebühr
von 700 Euro, die ein potenzieller Arbeitgeber bei der
Einstellung von Rumänen und Bulgaren zahlen muss.
Zudem soll die Liste der zurzeit 150 Berufe, in denen
Bürger Rumäniens und Bulgariens uneingeschränkt
arbeiten können, erweitert werden.
Situation in der Banlieue
Eine weitere Herausforderung für die neue Regierung bleibt die
Lage in den Vororten, in denen viele Migranten und
deren Nachfahren leben. Die Arbeitslosigkeit ist hier
besonders hoch, viele Jugendliche erleben ihre Situation als ausweglos. Alle bisherigen Versuche, daran
etwas zu ändern, sind gescheitert. Immer wieder
kommt es zu Ausschreitungen. Mitte August kam es
in einem Vorort der nordfranzösischen Stadt Amiens
zu besonders gewaltsamen Auseinandersetzungen
zwischen Jugendlichen und der Polizei, die zwei Tage
andauerten.
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