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Dokument 1.1: Brief von Viktor Schneider an Stalin und an die Zeitung "Prawda", April 1951 | Russlanddeutsche | bpb.de

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Dokument 1.1: Brief von Viktor Schneider an Stalin und an die Zeitung "Prawda", April 1951

/ 4 Minuten zu lesen

DEM GRÖSSTEN GENIE DER MENSCHHEIT UND
DEM VATER, Genossen STALIN, Josef Wissarionowitsch,
DEM VERANTWORTLICHEN REDAKTEUR
DER ZEITUNG "PRAWDA"

Ich habe mich wiederholt mit Briefen an die Abgeordneten des Obersten Sowjets, die Genossen Perwuchin und Schwernik mit den unten aufgelisteten Fragen gewandt, bekam aber nie die Antwort und wende mich deshalb noch einmal an Sie zu. Ich bin ein Deutscher, aber unser, sowjetischer Deutsche [d.h. kein "fremder" Reichsdeutscher, sondern ein "einheimischer" Sowjetbürger deutscher Herkunft], wurde 1911… in der ehemaligen Republik der Wolgadeutschen geboren [und] richte folgende Fragen an Sie:

  1. Warum wurde über unsere Nationalität eine militarisierte Kommandantur verhängt?


  2. Wieso haben wir, nachdem wir ähnlich anderer Bürgern einen Pass erhalten, nicht das Recht in andere Unionsrepubliken oder Gebiete zu reisen, sondern haben [folgende] Einschränkung im Pass: "Berechtigt, im Rayon Woroschilowski, Gebiet Molotow zu wohnen."


  3. Wieso ist mir, einem Sowjetdeutschen, die Übersiedlung in eine andere Unionsrepublik oder ein Gebiet verboten, weshalb bin ich schlechter als ein anderer Bürger?


  4. Ist das Kapitel X, Art. 123, der Verfassung der UdSSR noch gültig oder nicht und wenn ja, wieso hat unsere Nationalität keine autonome nationale Republik, unsere Nationalität betrug doch bei der Volkszählung 1939 etwa 5 Millionen Menschen, sie ist derzeit von der Karte getilgt, ist das gerecht? Man kann sie von der Karte tilgen, aber die Menschen von Fleisch und Blut sind noch da und werden auch da sein, man muss sie anerkennen und ihnen Gleichberechtigung mit anderen Nationalitäten gewähren.


  5. Ich möchte ein Mitglied der Partei sein, aber man nimmt mich nicht auf, offensichtlich ist der Artikel 126 der Verfassung der UdSSR außer Kraft oder er wird vor Ort entstellt. Auch habe ich kein Recht, in Ortssowjets gewählt zu werden.


  6. Ich bitte um eine Erklärung der fortbestehenden nationalen Frage, d.h. bezüglich der Verfolgung unserer ureigenen russischen Deutschen. Die DDR wird von unserem Staat anerkannt, und es ist richtig so, aber unser deutsches Volk nicht, wie ist das zu erklären?


  7. Wenn unter der ehemaligen Führung der [Wolga]Deutschen Republik Volksfeinde säßen, die angeblich einer Verschwörung mit Hitler eingingen, heißt das doch nicht, dass deswegen das fünfmillionengroße Volk büßen soll.


  8. Woran lieg die Wurzel alles Übels bei der Verfolgung der russischen Deutschen in der Sowjetunion, warum haben sie kein Vertrauen, weder bei der Arbeit noch in der Politik?


  9. Das sind Fragen, die ich persönlich nicht verstehe, deshalb wende ich mich an Sie als unser Vater und Lehrer, verehrter Genosse Stalin Joseph Wissarionowitsch, und an Sie, die Zeitung "Prawda" als Zentralorgan unserer Partei, um [mir] diese Fragen entweder durch die Presse oder persönlich unter folgender Adresse zu erläutern: Gebiet Molotow, Rajon Woroschilowsk, Siedlung Wogulka, Flössabteilung, [an] Schneider, Viktor Karlowitsch.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Brief war ohne Datum und traf am 13. April 1951 im Sondersektor des Zentralkomitees der Allsowjetischen Kommunistischen Partei (Bolschewiki) – WKP(B) ein und wurde am 18. April dem Mitglied des Politbüros, Georgi Malenkow, überreicht. Seine Reaktion auf den Brief ist nicht bekannt, für den Verfasser blieb das Schreiben, soweit ersichtlich, ohne persönliche Konsequenzen. Quelle: Sovetskaja žizn’ [Sowjetisches Leben]. 1945 – 1953. Moskva 2003, S. 466–467. Dieses Schreiben stammt aus dem Archiv von Josef Stalin und ist in russischer Urfassung auf der Seite: "Dokumente der sowjetischen Epoche" anzusehen: Externer Link: http://sovdoc.rusarchives.ru/#showunit&id=50301

  2. Michail Perwuchin (1904–1978), sowjetischer Politiker und hochrangiger Wirtschaftsfunktionär, Abgeordneter des Obersten Sowjets der UdSSR in den Jahren 1946-1958; Nikolaj Schwernik (1888–1970), sowjetischer Politiker, in den Jahren 1946–1953 war er formell Staatsoberhaupt der Sowjetunion, d.h. Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR.

  3. Die heutige Stadt und das Gebiet Perm im Ural trugen in den Jahren 1940–1957 den Namen des führenden sowjetischen Politikers, des Außenministers Wjatscheslaw Molotow.

  4. Zu den Begriffen "Sowjetdeutsche", "Russland- bzw. Wolgadeutsche", Kolonisten usw. siehe das Kapitel "Im Definitionsdschungel" auf dem Portal der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: Externer Link: http://www.landeskunde-baden-wuerttemberg.de/russlanddeutsche_baden_wuerttemb.html

  5. Die sog. Stalin-Verfassung wurde am 5. Dezember 1936 angenommen und galt bis zur Verabschiedung eines neuen Grundgesetzes im Jahr 1977 (Breschnew–Verfassung). Artikel 123 der 1951 gültigen Konstitution lautete: Die Gleichberechtigung der Bürger der UdSSR auf sämtlichen Gebiete des wirtschaftlichen, staatlichen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Lebens, unabhängig von ihrer Nationalität und Rasse, ist unverbrüchliches Gesetz. Jede wie immer geartete direkte oder indirekte Beschränkung der Rechte oder umgekehrt eine Festlegung direkter oder indirekter Bevorzugung von Bürgern mit Rücksicht auf ihre Zugehörigkeit zu einer Rasse oder Nationalität ebenso wie jegliche Propagierung eines rassenmäßigen oder nationalen Ausschließlichkeitsanspruchs oder eines Rasse- oder Nationalitätenhasses und der Missachtung einer Rasse oder einer Nationalität werden gesetzlich geahndet. Externer Link: http://www.verfassungen.net/su/udssr36-index.htm

  6. Das ist eine stark übertriebene Zahl. Die Volkszählung 1939 registrierte 1 427 232 Deutsche, siehe Tabelle 1: Deutsche Bevölkerung der UdSSR bzw. der GUS: regionale Verteilung und zeitliche Dynamik, absolut und in Prozent, aus Viktor Krieger: Vom Kolonisten in Russland zum Bundesbürger, 12.09.2017, on-line: Interner Link: http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/russlanddeutsche/255396/vom-kolonisten-in-russland-zum-bundesbuerger?type=galerie&show=image&i=255475

  7. Art. 126 der Verfassung von 1936: In Übereinstimmung mit den Interessen der Werktätigen und zur Entwicklung der organisatorischen Selbsttätigkeit und politischer Aktivität der Volksmassen wird den Bürgern der UdSSR das Recht gewährleistet, sich in gesellschaftlichen Organisationen zu vereinigen: in den Gewerkschaften, genossenschaftlichen Vereinigungen, Jugendorganisationen, Sport- und Verteidigungsorganisationen, Kulturvereinigungen, technischen und wissenschaftlichen Gesellschaften; die aktivsten und bewusstesten Bürger aus den Reihen der Arbeiterklasse, vereinigen sich freiwillig in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, die der Vortrupp der Werktätigen in ihrem Kampf für den Aufbau der kommunistischen Gesellschaft ist und den leitenden Kern aller Organisationen der Werktätigen, der gesellschaftlichen sowohl wie der staatlichen, bildet. Externer Link: http://www.verfassungen.net/su/udssr36-index.htm

  8. Vgl. zu solchen Gerüchten über das Schicksal der letzten Regierung der Autonomen Republik der Wolgadeutschen: Viktor Krieger: Secret Criminal Proceedings Against the Last Volga German Government During the Years 1944–46. Lincoln 2005.

  9. Zahlenmäßig eine starke Übertreibung. Zum Zeitpunkt der Verfassung des Briefes gab es max. 1,5 Mio. Deutsche in der UdSSR