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Dokument 1.2: Brief von Therese Chromowa an Nikita Chruschtschow über die Frage der Wiederherstellung der Autonomen Republik der Wolgadeutschen, 15. September 1961 | Russlanddeutsche | bpb.de

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Dokument 1.2: Brief von Therese Chromowa an Nikita Chruschtschow über die Frage der Wiederherstellung der Autonomen Republik der Wolgadeutschen, 15. September 1961

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Erste Seite des Briefes von Therese Chromowa-Schilke, 1961 (© Privatsammlung Rudolf Bender (Neu Wulmstorf))

An das ZK der KPdSU
Persönlich dem Ersten Sekretär der KPdSU
Nikita Sergejewitsch Chruschtschow
Von Chromowa, Therese Christjanowna
[Region Krasnojarsk], Jenissejsk, Proletarski [Straße] 30

Gesuch

Angesichts der am 22. Kongress der KPdSU bevorstehenden Annahme des Programms zum Aufbau des Kommunismus, wollen wir, Sowjetdeutsche, die Aufmerksamkeit der Partei- und Regierungsführung auf die schon 20 Jahre dauernde ungleichberechtigte Lage der Sowjetdeutschen lenken. Wir sehen uns genötigt die Kommunistische Partei zu ersuchen, die Frage der Rehabilitierung der Sowjetdeutschen auf die Tagesordnung des ZK der Partei oder sogar des 22. Parteitags zu stellen.

Bitte beachten Sie folgende Erklärung:

  1. Sowjetdeutsche zogen seit 1764 freiwillig nach Russland. Sie wurden von der zaristischen Regierung in der Ukraine, im Kaukasus, im Leningrader Gebiet und hauptsächlich an der Wolga angesiedelt. Sie haben den jahrhundertelang brachliegenden Boden in fruchtbares Land verwandelt.
    Seit den 80er Jahren des vergangenen [19.] Jahrhunderts fing der Zarismus an, gegen die Deutschen an der Wolga, in der Ukraine, im Kaukasus und im Leningrader Gebiet eine chauvinistische und Russifizierungspolitik zu betreiben. Nach 30–40 Jahren wurden Vorbereitungen einer für den April 1917 geplanten Verbannung aller Deutschen aus dem Wolgagebiet getroffen. Erst der Sturz der Monarchie verhinderte die Durchführung dieses barbarischen Ereignisses. Nach dem Appell der Kolonisten an die Provisorische Regierung, dieses Gesetz aufzuheben, stimmte Kerenski lediglich zu, "den Ukas vorläufig auszusetzen". Nur die Große Sozialistische Oktoberrevolution hob diesen barbarischen Erlass auf und beendete die nationale Unterdrückung und Ungleichberechtigung. Am 19. Oktober 1918 unterschrieb W.I. Lenin ein Dekret über die Autonomie der Wolgadeutschen.

  2. Zusammen mit allen Völkern der UdSSR bauten die Deutschen der Autonomen Republik von 1918 bis 1941 den Sozialismus auf, schufen ihre Kultur, national in der Form und sozialistisch im Inhalt. Es entstand eine reiche industrielle und landwirtschaftliche Basis für das [Sowjet]Land. Menschen wurden überzeugte Erbauer des Sozialismus.

  3. 1941 wurden ausnahmslos alle Wolgadeutschen durch den Erlass vom 28. August nach Sibirien verbannt, besudelt, verleumdet und sind bis heute immer noch nicht rehabilitiert. Niemand wird uns weismachen, dass dieser barbarische Ukas dem Sowjetstaat Nutzen gebracht hat.

[…]
Ab 1941 leiden die Sowjetdeutschen ununterbrochen unter chauvinistischen Angriffen, Repressionen, Gesetzlosigkeit und Verächtlichmachung; sie durften nicht in ihrem Beruf weiterarbeiten, Frauen mit Säuglingen und Kleinkindern wurden unter dem Vorwand der Mobilisierung aus Sibirien noch einmal in den Norden umgesiedelt. Ist es möglich, alle Exzesse vor Ort aufzuzählen, die die Sowjetdeutschen erdulden mussten?

So wurde 1941 die vom großen Lenin errichtete Autonomie der Sowjetdeutschen an der Wolga in rücksichtsloser Art und Weise liquidiert. Es sieht so aus, dass die unter dem Zarismus geplante Barbarei – die Verbannung aller Deutschen aus dem Wolgagebiet – 24 Jahre nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution stattfand.

  • Drei Jahre nach Kriegsende wurde uns, den Sowjetdeutschen, der Erlass vom 26. November 1948 bekannt gegeben, in dem stand, dass die Deutschen, Kalmücken, Finnen, Letten, Griechen, Inguschen, Tschetschenen u.a. in die entsprechenden Gegenden auf ewig [unterstrichen im Original] ausgesiedelt sind. Und dass ihre Entfernung von den Ansiedlungsorten ohne die Erlaubnis des Innenministeriums mit 20 Jahren Lagerhaft bestraft wird. […]

  • Am 13. Dezember 1955 wurde verabschiedet und von der Sonderkommandantur jedem von uns gegen Unterschrift erst im März 1956 bekannt gegeben, dass laut dem Erlass vom 13. Dezember 1955 die Sowjetdeutschen kein Recht hatten, die Rückgabe von dem [konfiszierten] Kollektiv- und Privateigentum zu fordern und sie nicht in die Orte zurückkehren dürfen, aus denen sie verbannt wurden. Auf unser geäußertes Befremden sprachen einige von der Kommandantur ganz offen: Die Deutschen sind eine in Verruf geratene Nation und ihre Konzentration an einem Ort darf nicht zugelassen werden.
    Es stellt sich heraus, dass der Erlass vom 13. Dezember 1955 die Sowjetdeutschen als gefährlichste Staatsverbrecher betrachtet (Verbot der Rückkehr in die Heimatorte, Beschlagnahme von Eigentum), d.h. sie bleiben nicht rehabilitiert. Es scheint, dass die Sowjetdeutsche[n] durch die sowjetische Verfassung in Bezug auf ihr Eigentum und nationale Rechte nicht geschützt sind.
    a) Gemäß der Verfassung hat jede Nationalität das Recht, ihre Kinder in der Muttersprache zu unterrichten. Wir haben keine nationalen Schulen, in denen unsere Kinder auf Deutsch unterrichtet werden könnten, damit wird eine der Grundvoraussetzungen der Leninschen Nationalitätenpolitik verletzt. […]

    b) Für 1 Million 620 Tausend Sowjetdeutsche wird bei uns in der UdSSR keine sowjetdeutsche Literatur herausgegeben. Was die Zeitungen "Neues Leben" und "Rote Jugend" angeht, verglichen mit dem, was vor dem Krieg im ASSR der Wolgadeutschen veröffentlicht wurde und was etwa für 350 000 Deutsche in Rumänien veröffentlicht wird, die über eine eigene Autonomie verfügen, so ist das ein Elend und befriedigt keineswegs die Bedürfnisse der deutschen Presse.
    […]
    d) Alle kleineren Nationen wie Letten, Tadschiken, Turkmenen, Esten, Kirgisen, Tschuwaschen, Mordwinen, Baschkiren, Kalmücken und andere, der [Bevölkerungs]Zahl nach geringer als Sowjetdeutsche, haben ihre [Unionsrepubliken und] autonomen nationalen Republiken und jede hat im Nationalitätenrat mehrere Dutzende von Abgeordneten. Die 1 Million 620 000 Sowjetdeutschen dagegen haben keine eigene autonome Republik und keinen einzigen Abgeordneten im Obersten Sowjet. […]

  • Am 11. Februar 1957 hat der Oberste Sowjet ein Gesetz über eine vollständige Rehabilitierung von solchen Völkern wie Kalmücken, Finnen, Tschetschenen, Inguschen und andere verabschiedet. Sie bekamen Autonomien und Territorien zurück, wo sie vor der Verbannung wohnten. Zu den Sowjetdeutsche gab es in diesem Erlass [faktisch: Gesetz] kein einziges Wort, die bleiben bis jetzt unschuldig verleumdet. Sogar in der erst vor wenigen Jahren veröffentlichten sowjetischen Enzyklopädie (S. 106–113) sind alle nationalen Minderheiten aufgeführt, nur über die Sowjetdeutschen wird ein Mantel des Schweigens gedeckt, d. h. in der offiziellen und wissenschaftlichen Presse erfährt man nichts über uns. Das ist, auf Deutsch ausgedrückt: Man will uns totschweigen.

Wo ist die Gleichheit, Brüderlichkeit, Freundschaft mit Sowjetdeutschen? W.I. Lenin schrieb: "Wer die Gleichberechtigung der Nationen und Sprachen nicht anerkennt und nicht verteidigt, wer nicht jede nationale Unterdrückung oder Rechtsungleichheit bekämpft, der ist kein Marxist, der ist nicht einmal ein Demokrat." Wir, Sowjetdeutsche, wollen nicht mehr minderberechtigt sein, wir fordern eine vollständige Gleichberechtigung mit allen anderen Völkern der Sowjetunion, so wie dies uns 1918 vom Großen Lenin gewährt wurde.

Im Anbetracht des oben genannten, bitten wir:

  1. Die Erlasse vom 28. August 1941, 26. November 1948 und 13. Dezember 1955 aufzuheben und die gesamte deutsche Bevölkerung in die früheren Wohnorte in der Ukraine, den Kaukasus, in die Wolgaregion und in das Leningrader Gebiet zurückzubringen. Das heißt, die Sowjetdeutschen politisch und wirtschaftlich vollständig zu rehabilitieren (einschließlich der Rückgabe des konfiszierten kollektiven und persönlichen Eigentums).

  2. Wiederherstellung der ASSRdWD als kulturelles und nationales Zentrum aller Sowjetdeutschen. […]

  3. Die Wiederherstellung der ASSRdWD und der deutschen Landkreise und Siedlungen in der Ukraine, dem Kaukasus und im Gebiet Leningrad umso schneller zu organisieren, damit die sowjetischen Deutschen im Jahr 1964 den 200. Jahrestag ihres freiwilligen Anschlusses an den russischen Staat bereits zu Hause, in ihren Heimatorten auf der Grundlage der Brüderlichkeit und nationaler Gleichheit mit allen Völkern feiern könnten.

  4. Eine ausreichende staatliche Unterstützung für die rückkehrenden Sowjetdeutschen und ihre Einrichtung in den früheren Wohnorten an der Wolga, in der Ukraine, im Kaukasus, im Gebiet Leningrad.

[…]

Inständig und nachdrücklich bitte ich Sie, Nikita Sergejewitsch, mich in dieser Frage bis Anfang des Oktobers persönlich anzuhören, noch vor dem Beginn des 22. Kongresses der KPdSU. Ich bitte schon zum zweiten Mal um einen persönlichen Empfang (das erste Mal war es im Mai 1960). Nicht nur schriftlich, sondern in einem persönlichen Gespräch möchte Ihnen ich sagen, dass wir, Sowjetdeutsche, mit den deutschen Staaten DDR und insbesondere BRD außer der Sprache nichts gemein haben. Unsere Heimat, die Heimat der Sowjetdeutschen ist hier, in Russland, in der Sowjetunion. Niemand hat das Recht uns, den Sowjetdeutschen, die Untaten Hitlers, Strausses, Adenauers und wie sie alle dort heißen, in die Schuhe zu schieben. Wir hassen sie ebenso stark und vielleicht noch mehr für all die Schrecken, die sie unseren Sowjetmenschen gebracht haben.
[…]
15 / IX-61 Unterzeichnet: Chromowa

Richtig 23.10.1961 H. Kaiser

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ursprünglich handgeschriebener hektographierter Originalbrief befindet sich im Nachlass des Schriftstellers Dominik Hollmann, der von seinem Enkel Rudolf Bender in Hamburg aufbewahrt wird. Kopie im Besitz des Übersetzers, siehe die Urfassung auf 6 Seiten (auf Russisch): Interner Link: Dok_1.2_02_Chromowa_an_ZK_KPdSU_1961_09_15.pdf

  2. Richtig: Nikita Chruschtschow (1894–1971), sowjetischer Staats- und Parteichef, war in den Jahre 1953 bis 1964 Erster Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU.

  3. Siehe ihren ausführlichen Interner Link: Lebenslauf im Abschnitt III: (Lebensläufe der nonkonformen Aktivisten).

  4. Der 22. Kongress der KPdSU tagte vom 17. Oktober bis 31. Oktober 1961 in Moskau und war von offener Kritik an Stalin und der Verabschiedung des Programms zum Aufbau des Kommunismus gekennzeichnet. Stenographischer Bericht (in russischer Sprache): Externer Link: http://publ.lib.ru/ARCHIVES/K/KPSS/_KPSS.html#022

  5. Am 29. Juni 1764 legten russische Landvermesser und Topografen die erste Siedlung der deutschen Auswanderer an der Wolga, Nischnija Dobrinka (Moninger), an.

  6. In diesen und ähnlichen Fällen entbehrt es nicht einer gewissen Komik, wenn sowjetische Begriffe oder die in Sowjetrussland bzw. in der UdSSR stattgefundenen Umbenennungen der Orts- oder Straßennamen einfach für die Zarenzeit (vor 1917) verwendet werden: anstatt von "eingewanderten deutschen Siedler-Kolonisten" redet man von einer "freiwilligen Übersiedlung der Sowjetdeutschen", anstatt "St. Petersburg" nun "Leningrad" (die Stadt trug diesen Namen 1924–1991) usw.

  7. Alexander Kerenski (1881–1970), russischer Politiker, Rechtsanwalt und Abgeordneter des russischen Parlaments (Duma), war nach der sog. bürgerlichen Februarrevolution 1917 einige Monate Justizminister in der Provisorischen Regierung und stand seit Juli bis zum bolschewistischen Putsch im November 1917 an der Spitze der Regierung.

  8. Dieser Absatz wiederholt fast wortwörtlich die entsprechenden Stellen aus dem Lexikonartikel über die Wolgadeutsche Autonome Sozialistische Sowjetrepublik, der noch rechtzeitig kurz vor dem Kriegsausbruch erschien: Nemcev Povolž’ja Avtonomnaja Sovetskaja Socialističeskaja Respublika (N.P. ASSR), in: BSE, 1. izd., Tom 41. M. 1939, Sp. 595, vgl. den Beitrag im Lexikon (russisch): Interner Link: A_Einführung_06_ASSR_NP_BSE_Tom_41_Moskva_1939.pdf oder on-line: Externer Link: http://wolgadeutsche.net/history/BSE41.htm

  9. Uljanow, Wladimir Iljitsch (1870–1924), meistens unter seinem Pseudonym Lenin bekannt: ein herausragender russischer Politiker und radikal-linker Marxist, Gründer der Russländischen Kommunistischen Partei, der späteren WKP(B) und seit 1952 KPdSU. Er führte sie im Zuge einer putschartigen Aktion am 25. Oktober (nach dem Neuen Stil: 7. November) 1917 – selbstbezeichnet als "Oktoberrevolution" – zu einer erfolgreichen Machtergreifung. Seit 26. Oktober 1917 bis zu seinem Tod stand Lenin an der Spitze der Regierung Sowjetrusslands, d.h. des Rates der Volkskommissare (Ministerrat). In zahlreichen Schriften und Äußerungen zeigte er sich relativ liberal in Bezug auf die nationale Frage, kritisierte die Unterdrückung von nationalen Minderheiten und Kolonialvölkern im zaristischen Russland und in und durch westliche, kapitalistische Staaten insgesamt, trat öffentlichkeitswirksam für das Recht auf nationale Selbstbestimmung ein und versuchte nicht ohne Erfolg, durch Konzessionen an zahlreiche Nationalitäten und ethnische Gruppen des Zarenreiches diese für die Sache des Sozialismus und Kommunismus zu gewinnen. Er war eine der treibenden Kräften bei dem Umbau Sowjetrusslands zu einer Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), was formalrechtlich Ende Dezember 1922 auch beschlossen wurde. Das Anliegen der Wolgadeutschen unterstützte er ausdrücklich und unterschrieb in seiner Eigenschaft als Regierungschef das Autonomie-Dekret vom 19.10.1918. Das ganze brachte ihm viel Sympathie von Seiten der Wolgadeutschen, insbesondere im Vergleich zu Stalinschen Deportationen und Zwangsarbeit seit 1941 und zu der Politik seiner Nachfolger. Obwohl auch Lenins Taten ausgerechnet für die Wolgadeutschen gravierende Folgen haben konnten: man denke nur an rigorose Lebensmittel-Eintreibungen, wofür er in den Jahren des Bürgerkrieges als Partei- und Regierungschef verantwortlich zeichnete, die zu katastrophalen Auswirkungen 1921/22 für das kleine Autonomiegebiet mit zehntausenden Hungertoten führten.

  10. Externer Link: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/kulturarchiv/quellen/dekret.htm

  11. Text des Deportations-Erlasses in: Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee: Deutsche in der Sowjetunion 1941 bis 1956. Hgg. von Alfred Eisfeld, Victor Herdt. Köln 1996, S. 54–55, [Dok. 36], on-line: Externer Link: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/kulturarchiv/quellen/erlass.htm. Um die 80% der Wolgadeutschen wurden nach Sibirien, v.a. in die Provinzen Altai, Omsk, Nowosibirsk und Krasnojarsk und der Rest nach Nordkasachstan verbannt.

  12. Es handelt sich wohl um die sog. Doppeldeportierten: Laut des Beschlusses des ZK der WKP (B) und der Regierung vom 6. Januar 1942 "Über die Förderung des Fischfangs in den Einzugsgebieten der Flüsse Sibiriens und im Fernen Osten" wurden Zehntausende gerade in West- und Ostsibirien eingetroffenen deutschen Sondersiedler nun weiter, in den Hohen Norden, u.a. auf die Halbinsel Narym, in der Nähe des Polarkreises, ohne jegliche Vorbereitung oder Eignung für solch schwere Arbeit unter den noch extremeren klimatischen Bedingungen weitertransportiert. Th. Chromowa hat diese zweite Deportation selbst erlebt.

  13. Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 26. November 1948 "Über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Personen, die während des Vaterländischen Krieges in ferne Regionen der UdSSR ausgesiedelt wurden, für die Flucht aus den Pflicht- und ständigen Ansiedlungsorten." Direkt wurden im Erlass folgende verbannte Nationalitäten genannt: Tschetschenen, Karatschajer, Inguschen, Balkaren, Kalmücken, Deutsche, Krimtataren. Der Wortlaut in: Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee (1996), S. 307–308 [Dok. 300], on-line: Externer Link: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/kulturarchiv/quellen/ansiedlungsort.htm

  14. Sonderkommandantur (SK) – eine Institution im Rahmen der GULag-Verwaltung des Volkskommissariats des Inneren NKWD bzw. seit 1946 des Innenministeriums MWD, die hauptsächlich im Hohen Norden, im Ural, Sibirien und Zentralasien zum Zweck der Kontrolle und der wirtschaftlichen Ausnutzung von Sondersiedlern eingerichtet wurde. Zu solchen gehörten seit Anfang der 1930er Jahre verbannte und enteignete sog. Kulaken (wohlhabende Bauern), seit Ende der 1930er Jahre hauptsächlich deportierte Völker und verschiedene "feindliche" religiöse, ethnische oder soziale Gruppen. Ende der 1940er Jahre zählte man 2 679 SKen, die in der Regel aus einem Kommandanten und seinem Gehilfen bestanden und je zwischen 300 und 1.000 erwachsene Sondersiedler "betreuten". Sie bestanden seit Ende der 1920er bis Ende der 1950er Jahre.

  15. Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 13. Dezember 1955 über die Aufhebung der Einschränkungen in der Rechtsstellung der Deutschen und der Mitglieder ihrer Familien, die sich in der Sondersiedlung befinden, siehe den Text: Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee (1996), S. 454–455 [Dok. 399], on-line: Externer Link: https://hatikva.de/bildungsmodul/pdf/n1/erlass_13121955.pdf

  16. Artikel 121 der Verfassung aus dem Jahr 1936: Artikel 121. Die Bürger der UdSSR haben das Recht auf Bildung. Dieses Recht wird gewährleistet durch die allgemeine Grundschulpflicht, durch die Unentgeltlichkeit der Bildung, durch das System staatlicher Stipendien für die überwiegende Mehrheit der Hochschulstudenten, durch Erteilung des Schulunterrichts in der Muttersprache, durch Organisierung unentgeltlicher Produktions-, technischer und agronomischer Schulung der Werktätigen in den Betrieben, auf den Sowjetgütern und in den Kollektivwirtschaften. Externer Link: http://www.verfassungen.net/su/udssr36.htm#x

  17. Erscheint seit dem 1. Mai 1957, zunächst dreimal wöchentlich im Kleinformat auf vier Seiten. Seit 1962 als 16-Seitige Ausgabe einmal in der Woche, mit dem Hinweis auf der ersten Seite: "Wochenschrift der sowjetdeutschen Bevölkerung".

  18. Der richtige Name ist "Rote Fahne" und diese Rayonszeitung erschien ab 15. Juni 1957 in der Stadt Slawgorod, Region Altai in Westsibirien. Seit 1991 wurde das Periodikum in die "Zeitung für Dich" umbenannt. Mehrere Jahrgänge sind inzwischen digitalisiert, so z.B. das Jahr 1957: Externer Link: http://www.bibliothek.rusdeutsch.ru/periodika/gazeti/4071?g=1957

  19. Zuletzt gab es in der Wolgarepublik für ca. 370 000 Deutsche mindestens 17 deutschsprachige Kantons(Rayons)zeitungen, teilweise zweisprachig, mit Beiträgen auf Russisch, ferner zwei täglich erschienene Republikzeitungen "Nachrichten" und "Rote Jugend" und einige Zeitschriften neben einem Staatsverlag für deutschsprachige Bücher. Frau Chromowa, geb. Schilke, studierte vor dem Krieg in Engels und arbeitete als ehrenamtliche Korrespondentin für die beiden Republikzeitungen, deshalb wohl die Namensverwechslung.

  20. Gemeint ist die national-kulturelle Autonomie der Rumäniendeutschen.

  21. Entsprechend der Verfassung aus dem Jahr 1936 galt der Oberste Sowjet (OS) der UdSSR als höchstes Organ der Staatsgewalt. Er bestand aus zwei Kammern: dem Unionsrat bzw. -sowjet und dem Nationalitätenrat bzw. -sowjet. In den Unionsrat wurden Deputierten nach territorialen Wahlkreisen gewählt; ein Abgeordneter von ca. 300.000 Einwohnern. Die zweite Kammer, der Nationalitätenrat, bestand aus Vertretern der Unions- und autonomen Republiken, der autonomen Gebieten und Kreisen, wobei jedes nationale Territorium über eine abgestufte Quote an Abgeordneten verfügte: eine Unionsrepublik durfte 32 Deputierte in den Nationalitätenrat wählen, eine autonome Republik – elf Abgeordnete usw. In den Obersten Sowjet der UdSSR der ersten Einberufung (1938–1946), gewählt am 12. Dezember 1937, wurden von der Wolgadeutschen Republik zwei in den Unionsrat und elf in den Nationalitätenrat, insgesamt 13 Abgeordneten gewählt, davon neun Deutsche:
    -Wladimir (Woldemar) Dallinger, in leitenden Positionen im Geheimdienst GPU–NKWD; 1937–1938 Regierungschef der Republik, d.h. Vorsitzender des Rates der Volkskommissare des ASSRdWD;
    -Adolf Dehning, in der ganzen Sowjetunion bekannter Stoßarbeiter, Mähdrescherführer aus Mariental, war mit Orden ausgezeichnet. Er leitete 1938-1941 das Vollzugskomitee des gleichnamigen Kantons;
    -Anna Grünemeier, Dorfpropagandistin, Mathematiklehrerin und Leiterin des Lehrkörpers in einer Musterschule des Kantons Eckheim. Sie diente als "Beispiel der befreiten deutschen Frau".
    -Karl Göbel, Direktor eines der größten Betriebe in der Wolgarepublik, der Karl-Liebknecht-Weberei in der Stadt Balzer;
    -Katharina Grauberger, in der ganzen Sowjetunion bekannte, beste Melkerin in der Republik, traf sich persönlich mit Stalin, war mit Orden ausgezeichnet. Soll 1936 mehr als 7.000 Liter Milch pro Kuh gemolken haben;
    -Alexander Heckmann, seit Juli 1938 der Regierungschef der Wolgadeutschen Republik, zusätzlich noch Abgeordneter der Obersten Sowjets der RSFSR, Stellvertreter des Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der RSFSR;
    -Konrad Hoffmann, vom Beruf her Eisenbahnarbeiter, letztes Staatsoberhaupt der Wolgadeutschen Republik, d.h. Vorsitzender des Präsidiums des OS der ASSRdWD (1938–1941);
    -David Rosenberger, Partei- und Staatsfunktionär, bis 1938 Vorsitzender des Zentralexekutivkomitees der Wolgadeutschen Republik, des Vorläufers des Präsidiums des OS der ASSRdWD
    -Friedrich Scherer, langjähriger Vorsitzender einer wirtschaftlich erfolgreichen Kollektivwirtschaft, der Woroschilow-Kolchose im Kanton Marxstadt.
    In all den Jahren der Existenz der UdSSR bis zur Reform des Wahlsystems 1989 waren in diesem obersten Staatsorgan der legislativen Gewalt auch annähernd nie so viele Vertreter der Minderheit anzutreffen. Trotz ihres offiziellen Status wurden die deutschen Abgeordneten des OS der UdSSR zusammen mit ihren Landsleuten 1941 in den asiatischen Teil des Landes verbannt und einige Monate später in Zwangsarbeitslager ausgehoben. Einige waren zusätzlich strafrechtlichen Verfolgungen ausgesetzt wie Alexander Heckmann oder Adolf Dehning (gestorben 1946 im Straflager). Am 27. März 1944 verfügte das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR über die Entmachtung aller 13 Abgeordneten mit der Begründung: "Wegen der Liquidierung der ASSR der Wolgadeutschen", vgl.: Nachrichten (Engels), Nr. 288 vom 14. Dezember 1937 und online: Externer Link: http://www.verfassungen.net/su/udssr36-index.htm (Höchste Organe der Staatsgewalt, Verfassung 1936) Externer Link: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/BV019787907/ft/bsb00043000?page=1140 (S. 1140ff.) Externer Link: http://lexikon.wolgadeutsche.net/article/48 (Beschluss des Präsidiums, russisch)

  22. Der erste und eine Zeitlang der einzige Abgeordnete der Nachkriegszeit im OS der UdSSR war Alexander Becker (1922–1978), Brigadier der Komplexbrigade der Kolchose "Strana Sowetow" (Sowjetland) des Rayons Rubzowsk, Region Altai. Er war Held der Sozialistischen Arbeit (1961) und Abgeordneter des OS der UdSSR der 6. Einberufung in den Jahren 1962–1966.

  23. Bereits am 24. November 1956 erschien der Beschluss des ZK der KPdSU "Über die Wiederherstellung der nationalen Autonomien des kalmückischen, karatschaischen, balkarischen, tschetschenischen und inguschischen Volkes". Daraufhin reagierte das Präsidium des OS der UdSSR mit vier Ukasen vom 9. Januar 1957 über die Neugründung der nationalen Territorien dieser Kaukasusvölker. Und als höchste legislative Gewalt bestätigte der Oberste Sowjet auf seiner Sitzung am 11. Februar 1957 die rechtliche Gültigkeit dieser Beschlüsse in Form eines Gesetzes. Text des Gesetzes etwa in: Prawda, Nr. 43 vom 12. Februar 1957, S. 1.

  24. Es handelt sich um folgende Ausgabe: Bolšaja sovetskaja enciklopedija. Tom 50. Sojuz Sovetskich Socialističeskich Respublik. 2-je isd. [Große sowjetische Enzyklopädie. Band 50. Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. 2-te Aufl.]. Moskva 1957, S. 106–114 (Bevölkerung. Ethnische Zusammensetzung), online (russisch): Externer Link: https://www.twirpx.com/file/423112/

  25. Der Satz in Kursiv ist im Originaltext auf Deutsch geschrieben.

  26. Zitiert nach: Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in: W.I. Lenin: Werke. Band 20. Dezember 1913 – August 1914. Berlin (Ost) 1961, S. 13, online: Externer Link: http://www.red-channel.de/LeninWerke/LW20.pdf

  27. In der Sowjetunion wurde der Mythos des "freiwilligen Anschlusses bzw. der Angliederung" [russ. dobrowoljnoje wchoshdenije ili prisojedinenije] nichtrussischer Völker ins Russische Reich intensiv gepflegt. Diese gängige propagandistische Floskel in Bezug auf Kasachen, Baschkiren, Ukrainer, Kalmücken u.a. Völker diente dem Zweck, die nicht selten brutale Eroberung oder gewaltsame Eingliederung in der Vergangenheit zu kaschieren, um das Konzept der "Völkerfreundschaft" und der "fortschrittlichen Rolle" Russlands und des russischen Volkes zu untermauern. Im Jahr 1954 fanden z.B. landesweite Feierlichkeiten anlässlich des 300jährigen Jubiläums der Wiedervereinigung der Ukraine mit Russland, im Jahr 1957 – der "400. Jahrestag des freiwilligen Anschlusses Baschkiriens an den russischen Staat" oder 1959 – "350 Jahre freiwilligen Einzugs des kalmückischen Volkes nach Russland".
    Solche Jubiläen wurden in der Sowjetpresse mit viel propagandistischem Getöse öffentlich gefeiert und die entsprechenden Nationalitäten als vertrauensvoll, "eingewurzelt", d.h. heimisch und als "gleichberechtigter Teilnehmer der Erbauung des Kommunismus" gepriesen. Nach dem gleichen Muster versucht man auch die Geschichte der (Wolga)Deutschen ähnlich zu deuten, um sie ebenso als autochthon, loyal und deshalb autonomiewürdig zu präsentieren.

  28. Solche Unterstützungsprogramme hat man für andere einst deportierte Völker verabschiedet: so etwa nahm bereits am 22. Februar 1957 der Ministerrat der RSFSR das erste Sofortprogramm des Aufbaues der Autonomie des kalmückischen Volkes an, mit einer detaillierten Maßnahmenbeschreibung zur Unterstützung der Übersiedlung der ersten 8.000 zurückkehrenden Familien aus Sibirien, mit einer fest zugesicherten Finanzierung zahlreicher infrastruktureller Vorhaben, in: Reabilitacija: kak eto bylo. Dokumenty Prezidiuma CK KPSS i drugie materialy. Tom II. Fevral’ 1956 – načalo 80-ch godov. Moskva 2003 [Rehabilitierung: wie es war. Dokumente des Präsidiums des ZK der KPdSU und andere Materialien. Band II. Februar 1956 – Anfang der 1980er Jahre], S. 227–233, online (russisch): Externer Link: https://rabkrin.org/reabilitatsiya-kak-eto-byilo-tom-ii-kniga/

  29. In der Sowjetpropaganda der 1950er–1960er Jahre wurden solche konservativen Politiker der Bundesrepublik wie Konrad Adenauer oder Franz Josef Strauß in der Kontinuität der Hitlerschen Politik dargestellt und sie praktisch auf eine Stufe mit "ihrem" Vorgänger gestellt.

  30. Dieser Vermerk ist auf Deutsch angegeben. Heinrich Kaiser (1900–1967), Aktivist der Autonomiebewegung, seit Ende der 1950er Jahre Verfasser mehrerer Protestschreiben an höhere Staats-, Partei- und Presseorgane bezüglich der Wiederherstellung der Wolgarepublik. Teilnehmer der 1. und 2. Delegation der Vertreter der deutschen Bevölkerung, die 1965 in Moskau die vollständige Rehabilitierung der deutschen Minderheit und die Wiederherstellung der Autonomen Republik forderten. War u.a. für sein unermüdliches Abschreiben, Vervielfältigung und Verbreitung von Briefen und verschiedenen Schriften unter den Autonomieanhängern bekannt.