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Quellentexte zur Tierethik

/ 27 Minuten zu lesen

Sind Tiere nur für den Menschen da, sind sie Sachen? Oder eigenständige fühlende Wesen, die sogar eine Seele haben? Seit über 2000 Jahren beschäftigen sich Menschen mit dem moralischen Status von Tieren.

Schweinehälften im Schlachthof Mannheim. (© picture-alliance, KUNZ / Augenk)

Der Unterschied zwischen Mensch und Tier

Barbara Brüning: Was ist Tierethik?

Bereits vor über 2000 Jahren wurde in der Ethik darüber nachgedacht, wie Menschen Tiere behandeln sollten. So war sich der chinesische Philosoph Hsiang Hsiu (ca. 227-277) nicht ganz sicher, ob Tiere eher als eine Sache gelten, die der Mensch benutzt, um seine Interessen zu befriedigen, oder ob sie vom Menschen völlig unabhängige Lebewesen mit Gefühlen und Empfindungen sind? Diese Frage bildet auch heute noch das Kernproblem der Tierethik. Bestimmen wir Menschen über Leben und Tod der Tiere, oder haben die Tiere unabhängig von uns Gefühle und eigene Bedürfnisse, ja sogar Rechte?

Die Gedanken von Hsiang Hsiu waren in der traditionellen Ethik eher eine Ausnahme, die fast 1500 Jahre lang nicht beachtet wurde. Denn bis ins 17. Jahrhundert hinein galten Tiere als eine Sache, die ähnlich wie eine Maschine funktioniert. René Descartes (1596-1650) sprach ihnen sogar jegliches Gefühlsleben und Bewusstsein ab, sodass mit ihnen Experimente bei lebendigem Leib angestellt werden durften. Und genau hier setzt auch die Tierethik im 21. Jahrhundert an. Dank der englischen Philosophin Mary Wollstonecraft (1759-1797) wurde bereits im 18. Jahrhundert die Auffassung von den Tiermaschinen kritisiert. Tiere wurden als leidensfähige Wesen eingestuft, die über Gefühle verfügen. Darauf müsse man bei Tierversuchen trotz ihrer medizinischen Notwendigkeit gerade in einer modernen rechtsstaatlichen Gesellschaft Rücksicht nehmen. Dieses Argument wird insbesondere von der deutschen Philosophin Ursula Wolf (geb. 1946) angeführt.

Der zweite Aspekt der Tierethik betrifft die artgerechte Haltung von Tieren. Nicht selten müssen Tiere unter unwürdigen Bedingungen dahin vegetieren. So haben zum Beispiel Gänse und Hühner auf Großfarmen in ihren Boxen und Käfigen oftmals nur so viel Platz wie ihr Körper einnimmt. Legehennen werden zu viert in Drahtkäfigen von bis zu 50 cm gehalten – dies entspricht nicht einmal einer DIN A 4 Seite als Lebensraum pro Tier. Kühen und Kälbern ergeht es nicht besser. Sie vegetieren in Ställen auf Lattenrosten dahin, weil die Bereitstellung von Boden mit Stroh mehr Arbeitsaufwand für das Personal und damit höhere Kosten bedeuten würde. Schmerzhafte Missbildungen der Hufe sind nicht selten die Folge dieser Massentierhaltung. Hier setzen Tierschützer sowie Philosophinnen und Philosophen auch das Argument der Leidensfähigkeit von Tieren entgegen: Tiere können fühlen und dürfen deshalb nicht während ihrer Lebenszeit unter grausamen Bedingungen gehalten werden.

Der australische Philosoph Peter Singer (geb. 1946) geht sogar noch einen Schritt weiter. Er fordert als einen dritten Aspekt der Tierethik, dass die Menschen die Würde der Tiere achten sollten. Denn Tiere sind selbständige Wesen, die unabhängig vom Menschen Interessen und Wünsche haben: unter anderem gutes Futter und einen sozialen Verbund mit ihren Artgenossen.

QuellentextTierversuche - ein Rollenspiel

Im folgenden Spiel streiten in einer ersten Phase vier Personen über Tierversuche.

Erste Spielphase:

Zunächst tritt der Patient auf und klagt über Schmerzen, Angst vor einem frühen Tod, die bisherige Unheilbarkeit seiner Krankheit; nun jedoch, so ergänzt er, könne im Tierversuch ein Medikament entwickelt werden, das mit einiger Wahrscheinlichkeit sein Leben retten würde. Es erscheint seine Ärztin, die seine Partei ergreift und erklärt, ihre Aufgabe sei, dem Patienten jede nur mögliche Hilfe zu bieten, denn dazu verpflichte sie der von ihr geleistete Eid. Hinzu kommt ein Vertreter der Pharmaindustrie, der dem Arzt zustimmt, auf die Entwicklung der Medikamente verweist und auf die vielen Menschenleben, die bereits gerettet werden konnten, und dass dies nur möglich sei, wenn in der Forschung am Tier experimentiert werden könne. Nun ergreift die Tierrechtlerin das Wort, die stillschweigend nach dem Plädoyer des Kranken ein großes Stofftier in der Mitte der Gruppe plaziert hat, und verweist auf die grundsätzlichen Rechte der Tiere auf Leben und Unversehrtheit, auf ein ebenso glückliches Leben, wie der Kranke dies anstrebe. Zuletzt erscheint ein Mediziner, der die sanfte Medizin vertritt und auf Alternativen zu Tierversuchen aufmerksam macht.

Zweite Spielphase

Nun ordnet ihr euch einer der oben aufgetretenen Interessenvertreter zu, entweder weil ihr deren Position gern vertreten möchtet oder weil ihr Argumente für diese Position ausarbeiten wollt. Die Gruppe diskutiert die Position erneut und stützt sie durch weitere Gründe.

Dritte Spielphase

Die Gruppen stellen unter der Leitung des Interessenvertreters die jeweilige Position auf einem Plakat dar und präsentieren darauf die drei überzeugendsten Gründe.

Barbara Brüning, nach einer Idee, aus: Ethik & Unterricht, Heft 1, 1997, S. 29

Menschen haben ihrerseits ein Interesse an guter Ernährung und an guter Gesundheit, und dafür sind teilweise Tierversuche notwendig. Der Konflikt könne nur gelöst werden, indem die verschiedenen Interessen in eine Waagschale geworfen und unparteiisch abgewogen werden. Und wenn die Interessen der Menschen das Übergewicht bilden, dann muss es einen Ausgleich zu den Interessen der Tiere geben. Der Wert des Lebens sollte allein der Maßstab der Abwägung sein – und nicht das Kriterium der Vernunftfähigkeit, das den Menschen einen klaren Vorteil einräumt. Peter Singer und andere Philosophen wollen deshalb den Tieren eigene Rechte zugestehen.

Ihr Hauptargument besagt, dass Babys und Kleinkinder ihre Rechte auch nicht formulieren können und trotzdem gewisse Ansprüche haben, die stellvertretend von ihren Eltern oder einem Anwalt übernommen werden, zum Beispiel bei Erbschaften. Warum könnten also die Menschen nicht die Stellvertreter der Tiere sein und ihr Recht auf gute Lebensbedingungen wahrnehmen?

Kritiker dieser Auffassung wie der amerikanische Philosoph Bernhard E. Rollin sind skeptisch, wie die Interessen von Tieren überhaupt ermittelt werden können. Das Kriterium der Schmerzfähigkeit sage nichts über Interessen von Tieren aus. Pflanzen, Bakterien, Viren und kultivierte Zellen seien auch Lebewesen, von denen man sagen könne, dass sie Bedürfnisse haben, aber es bestehe kein Grund anzunehmen, dass sie auch Interessen haben. Insofern könne das Interessen-Argument keine Gültigkeit für alle Tiere beanspruchen. Einig sind sich aber alle Vertreter der Tierethik, dass Tiere artgerecht gehalten und geschützt werden müssen.

Philosophische Fragestellungen in der Tierethik

Aristoteles: Tiere sind für den Menschen da

Pflanzen existieren um der Tiere willen, und die wilden Tiere um des Menschen willen. Haustiere sind ihm zu Nutzen, und er ernährt sich von ihnen, die wilden Tiere (oder jedenfalls die Mehrzahl davon) isst er, und er fertigt aus ihnen andere für das Leben zweckmäßige Dinge wie Kleidung oder verschiedene Werkzeuge. Da die Natur nichts Zweckloses oder Unnützes hervorbringt, so ist es unleugbar wahr, dass sie alle Tiere um des Menschen willen hervorbrachte.

Aristoteles: Politik I, 1256b

Descartes: Tiere sind Maschinen

An dieser Stelle besonders hatte ich eingehalten, um Folgendes deutlich zu machen: Wenn es Maschinen mit den Organen und der Gestalt eines Affen oder eines anderen vernunftlosen Tieres gäbe, so hätten wir gar kein Mittel, das uns nur den geringsten Unterschied erkennen ließe zwischen dem Mechanismus dieser Maschinen und dem Lebensprinzip dieser Tiere; gäbe es dagegen Maschinen, die unseren Leibern ähnelten und unsere Handlungen insoweit nachahmten, wie dies für Menschen wahrscheinlich möglich ist, so hätten wir immer zwei ganz sichere Mittel zu der Erkenntnis, dass sie deswegen keineswegs wahre Menschen sind. Erstens könnten sie nämlich niemals Worte oder andere Zeichen dadurch gebrauchen, dass sie sie zusammenstellen, wie wir es tun, um anderen unsere Gedanken bekannt zu machen. Denn man kann sich zwar vorstellen, dass eine Maschine so konstruiert ist, dass sie Worte und manche Worte sogar bei Gelegenheit körperlicher Einwirkungen hervorbringt, die gewisse Veränderungen in ihren Organen hervorrufen, wie zum Beispiel, dass sie, berührt man sie an irgendeiner Stelle, gerade nach dem fragt, was man ihr antworten will, dass sie, berührt man sie an einer anderen Stelle, schreit, man täte ihr weh und ähnliches; aber man kann sich nicht vorstellen, dass sie die Worte auf verschiedene Weisen zusammen ordnet, um auf die Bedeutung all dessen, was in ihrer Gegenwart laut werden mag, zu antworten, wie es der stumpfsinnigste Mensch kann.

Das zweite Mittel ist dies: Sollten diese Maschinen auch manches ebenso gut oder vielleicht besser verrichten als irgendeiner von uns, so würden sie doch zweifellos bei vielem anderen versagen, wodurch offen zutage tritt, dass sie nicht aus Einsicht handeln, sondern nur zufolge der Einrichtung ihrer Organe. Denn die Vernunft ist ein Universalinstrument, das bei allen Gelegenheiten zu Diensten steht, während diese Organe für jede besondere Handlung einer besonderen Einrichtung bedürfen; was es unwahrscheinlich macht, dass es in einer einzigen Maschine genügend verschiedene Organe gibt, die sie in allen Lebensfällen so handeln ließen, wie uns unsere Vernunft handeln lässt. Diese zwei Mittel kennzeichnen nun auch den Unterschied zwischen Mensch und Tier; denn es ist ganz auffällig, dass es keinen so stumpfsinnigen und dummen Menschen gibt, nicht einmal einen Verrückten ausgenommen, der nicht fähig wäre, verschiedene Worte zusammenzuordnen und daraus eine Rede aufzubauen, mit der er seine Gedanken verständlich macht; und dass es im Gegenteil kein anderes Tier gibt, so vollkommen und glücklich veranlagt es sein mag, das ähnliches leistet. Dies liegt nicht daran, dass den Tieren Organe dazu fehlten; denn man kann beobachten, dass Spechte und Papageien ebenso wie wir Worte hervorbringen können und dass sie dennoch nicht reden, d. h. zu erkennen geben können, dass sie denken, was sie sagen, wie wir. Von Geburt taubstumme Menschen dagegen müssen die Organe, die andere zum Reden gebrauchen, ebenso oder mehr noch entbehren als die Tiere und erfinden doch für gewöhnlich selbst Zeichen, mit denen sie sich Leuten ihrer gewohnten Umgebung, die Zeit haben, ihre Sprache zu lernen, verständlich machen. Dies zeigt nicht bloß, dass Tiere weniger Verstand haben als Menschen, sondern vielmehr, dass sie gar keinen haben.

Descartes, René (1990): Discours de la méthode. Hamburg : Felix Meiner Verlag, S. 32.

Nora K.: Haben Tiere eine Seele?

Lieber Vittorio,

vielen Dank für Deine beiden Briefe, Entschuldigung, dass ich so spät schreibe, aber in der letzten Woche hatte ich ziemlich viel zu tun. Na ja, als erstes werde ich Deinen ersten Brief, so gut es geht, beantworten. Also, mir hat sich eine Frage gestellt: haben Tiere wirklich keine Seele? Das war doch auch Renés Frage oder? Er ist zu dem Schluss gekommen, dass Tiere keine Seele haben, stimmt´s? Ich weiß nicht so recht, was ich dazu sagen soll, denn bei unserem Hund kann man viele Eigenschaften feststellen die eigentlich zu einer Seele gehören. Zum Beispiel: Er kann Freude, Schmerz, Trauer (wenn er jault) und auch ein bisschen Heimweh empfinden. Aber das sind ja nicht alle Eigenschaften einer Seele. Da gibt es ja noch die Liebe oder den Verstand. Huch, da fällt mir etwas auf: Etwas Verstand müssen Tiere doch auch haben, denn Tiermütter sorgen sich ja ganz zärtlich um ihre Kinder, und tadeln tun sie sie auch! Hm, das ist wirklich sehr schwer! Vielleicht haben Tiere auch eine Art Tierseele? Oder eine halbe Seele? Was meinst Du denn? Gehört Freude zum Bewusstsein? Haben Tiere vielleicht nur ein Bewusstsein, keine richtige Seele? Vielleicht haben Tiere eine Erkenntnis!? Aber eines kannst Du René sagen: Tiere sind sicherlich keine Computer!

Deine Nora

*Mit René ist der französische Philosoph René Descartes gemeint

Hösle, Vittorio (1998): Das Café der toten Philosophen. München: Verlag C. H. Beck, S. 25/26.

Sarah Tietz, Markus Wild: Was der Hund über die Katze denkt

Es gibt Tiere, die bestimmt denken, nämlich die Mitglieder unserer Spezies. Menschen denken permanent. Sie erfassen Gedanken, erwägen sie, verbinden sie zu Gedankenfolgen, bilden dadurch neue Gedanken, drücken dies bisweilen in Wort und Schrift aus und vieles mehr. Menschen denken, wenn sie Häuser bauen, wenn sie essen oder trinken. Menschen denken aber nicht nur, während sie handeln, sondern sie denken vor allem, um zu handeln. Gedanken sind die Grundlage dafür, dass Menschen bestimmte Handlungen im Gegensatz zu anderen vollziehen.

Wie aber steht es mit anderen Tierarten? Wenn ein Rabe sein Nest baut, denkt er dann, er baue ein Nest? Oder wenn eine Biene ihren Artgenossinnen mit einem Bienentanz zeigt, wo es Nektar zu finden gibt, weiß sie dann, dass sie eine Richtungsanweisung gibt? Kann ein Schimpanse überrascht sein, stutzen und einen aufsteigenden Zweifel haben? Können wir das Denken der Tiere überhaupt erfassen? Wenn ja, wie? Wenn nein, warum nicht?

Das sind schwierige Fragen. Denn ihre Beantwortung hängt von verschiedenen Faktoren ab: zum einen natürlich davon, was es überhaupt heißt, zu denken und zum anderen aber auch davon, wie man bestimmtes tierisches Verhalten zu deuten hat. Um diese verwirrenden Fragen besser in den Griff zu bekommen, kann das folgende Beispiel helfen. Es stammt von dem amerikanischen Philosophen Norman Malcolm und ist sowohl in der philosophischen Diskussion als auch im Feuilleton oft benutzt worden: Nehmen wir einmal an, unser Hund jage die Nachbarskatze. Diese rast mit Volldampf auf eine Eiche zu, schwenkt aber im letzten Moment plötzlich ab und verschwindet auf einem nahen Ahorn. Der Hund sieht dieses Manöver nicht und stellt sich, bei der Eiche angekommen, auf die Hinterbeine, kratzt mit den Pfoten am Stamm, als wolle er hochklettern, und bellt aufgeregt zu den Ästen hoch. Wir, die wir die Episode vom Fenster aus beobachten, sagen: “Er denkt, die Katze sei diese Eiche hochgeklettert."

Weder ist es unverständlich noch unangemessen zu sagen, der Hund denke, dass die Katze die Eiche hoch geklettert sei. Damit können wir das Verhalten des Hundes gut erklären. Der Hund ist sozusagen auf dem Holzweg: Er denkt fälschlicherweise, dass die Katze sich auf der Eiche versteckt. Und weil er dies denkt, bellt er die Eiche empor. Wir haben dem Hund einen bestimmten Gedanken zugeschrieben. Damit haben wir auch einen besseren Zugriff auf die Frage gewonnen, ob Tiere denken. Denken scheint so etwas wie Gedanken bestimmten Inhalts vorauszusetzen. Die Frage, die wir zuerst beantworten müssen, lautet mithin: Haben Tiere Gedanken? Das Beispiel legt eine positive Antwort nahe. Der Hund hat einen Gedanken. Was er denkt, erklärt, was er tut.

Tietz, Sarah und Wild, Markus: Denken Tiere? In: Information Philosophie, Heft 3, 2006, S. 14.

Richard David Precht: Tiere können nicht moralisch sein

Der Mensch ist das einzige Tier, das sich bewusst dazu entscheiden kann, unmoralisch zu handeln! Er ist nicht das einzige Tier, das lacht - auch Schimpansen können lachen. Aber er ist das vermutlich einzige Tier, das andere auslacht. Und es ist anzunehmen, dass Menschen auch die einzigen Tiere sind, die andere Angehörige der eigenen Art hassen können: Menschen, die anders sind als sie, Menschen, die eine andere Hautfarbe haben, Menschen, die an etwas anderes glauben, Menschen, die mehr besitzen als sie, Menschen, die in anderen Ländern oder Kultur kreisen leben. Warum das so ist, ist nicht leicht zu sagen. Ein Hinweis könnte sein, dass der Mensch das Tier mit der wahrscheinlich geringsten dauerhaften Glücksfähigkeit ist.

Ein Tier, das von seinem enormen Gehirn und dessen unaufhaltsamen und nichtabstellbaren Gedanken tyrannisiert wird. Er ist das einzige Tier, das weint. Das einzige Tier, das neidet, missgönnt und bereut. Das einzige Tier, das sich schuldig fühlt. Das einzige Tier, das an sich selbst verzweifeln kann. Das einzige Tier, das sich selbst tötet. Auf der Gegenseite ist der Mensch das vermutlich einzige Tier, das sich bewusst dafür entscheiden kann, moralisch zu sein. »Menschlichkeit« - objektiv betrachtet schließt das Wort alle Eigenschaften des Menschen mit ein, seine Liebe ebenso wie seinen Hass, seine Fürsorge wie seine Selbstsucht, sein Mitgefühl wie seine Teilnahmslosigkeit am Schicksal der anderen. Subjektiv dagegen verwandelten schon die Gelehrten des 15. Jahrhunderts die Humanitas in eine positive Wertung. Nur der soziale Anteil unserer Fähigkeiten sollte ausmachen, was es heißt, ein wahrer Mensch zu sein. Von nun an konnte man sogar mehr oder weniger Mensch sein, je nachdem, wie viel Güte man in seinem Herzen versammelte. Wer die anderen achtete und liebte, sie förderte und unterstützte, war menschlicher als der, der dies nicht tat. Dass »Menschlichkeit« immer beides sein soll - die Definition unserer Art und die Fähigkeit, moralisch freundlich zu sein ist eine ziemlich angestrengte Idee. Und vielen erscheint sie geradezu bizarr angesichts der blutigen Menschheitsgeschichte. Andererseits kommen Menschen im Alltag zumeist erstaunlich gut miteinander klar.

Wann haben Sie das letzte Mal jemanden geschlagen? Wie oft sind Sie in den letzten Monaten überfallen worden? Wann hat Ihnen das letzte Mal jemand das Essen geklaut oder Ihnen gewaltsam den Sexualpartner entrissen? Wir sind in der Tat eine merkwürdige Spezies: Auf der einen Seite ist der Mensch das Lebewesen, das am brutalsten und grausamsten überhaupt sein kann. Zu fast allen Zeiten gab es Folter und Mord, Pogrome und Genozid, Massaker und Krieg. Auf der anderen Seite halten es dieselben Lebewesen normalerweise recht gut miteinander aus. Sie grüßen sich, rempeln sich nicht an, sind meistens recht freundlich zueinander, und sie lachen gerne zusammen. Und sie tun all dies nicht etwa, weil sie Strafen fürchten. Fast jeder von uns bleibt gerne vor einer roten Ampel stehen, wenn kleine Kinder in der Nähe sind. Und was uns daran hindert, das Signal zu ignorieren, ist nicht die Angst vor dem Gefängnis.

Den Menschen und seine Moral wissenschaftlich objektiv zu beschreiben ist kaum möglich. Natürlich stellen wir unter den Menschen und Kulturen ein enormes Maß an Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten fest. Doch was daran genetisch fixiert und was kulturell überliefert ist, können wir fast nie sicher mit dem Skalpell trennen. Nicht alles, was allen gemeinsam scheint, muss biologisch codiert sein. Es wäre auch möglich, dass es sich aus psychologisch naheliegenden Gründen parallel entwickelt hat. In solcher Lage schlägt die US-amerikanische Philosophin Martha Nussbaum (*1947) von der Chicago Law School vor, dass es vielleicht nur ein einziges Kriterium gibt, das tatsächlich festlegt, was ein Mensch ist. Es ist, »dass wir uns über viele Unterschiede der Zeit und des Ortes hinweg gegenseitig als Menschen anerkennen «.-

Richard David Precht (2010): Die Kunst, kein Egoist zu sein. München: Goldmann, S. 88-90.

Wie verhalten sich Menschen gegenüber Tieren?

Han Yü: Wenn Menschen Tiere nicht artgerecht behandeln

Erst wenn es so ausgezeichnete Pferdekenner in der Welt gibt wie Bo Lo, wird man Pferde finden, die an einem Tag tausend Li laufen können. Solche schnellen Pferde gibt es zwar immer, doch nicht immer gibt es Männer wie Bo Lo. Darum mag es noch so edle Pferde geben, sie würden nur erniedrigt werden von der Hand elender Sklaven und jämmerlich verrecken im Stall, ohne durch ihre ungeheure Schnelligkeit und Ausdauer Ruhm erlangt zu haben. Ein Pferd, das tausend Li zu laufen vermag, frisst an einem Tag vielleicht hundert Kätti Getreide. Doch jene, die es füttern, wissen nichts von dem, was es leisten könnte, so dass ein solches Pferd, das leicht tausend Li an einem Tag zurücklegen könnte, Hunger leidet, seine Kraft verliert, bis nichts mehr von seinen Fähigkeiten und seiner Schönheit zu erkennen ist und es schließlich nicht einmal mehr das leisten kann, was man von einem ganz gewöhnlichen Pferd erwarten könnte. Wie sollte es da noch für eine Riesenstrecke von tausend Li tauglich sein.

Wenn man ein Pferd nicht nach dem Rechten Weg in Zucht hält, ihm nicht zu fressen gibt, was sein Körperbau erfordert, es nicht so ruft, wie es seinem Wesen entsprechen würde, dann aber mit erhobener Peitsche sich breitspurig hinstellt und behauptet: Es gibt keine guten Pferde mehr in der Welt! — ach, gibt es denn wirklich keine guten Pferde mehr? Oder gibt es in Wirklichkeit eben nur Menschen, die nichts von Pferden verstehen?

In: Ernst Schwarz (Hrsg.) (1981): So sprach der Weise. Chinesisches Gedankengut aus drei Jahrtausenden. Berlin: Rütten & Loening, S. 419.

Mary Wollstonecraft: Gegenüber Tieren nicht grausam sein

Wer Eltern und Geschwister oder auch nur Haustiere nicht lieben gelernt hat, findet selten zu großer Menschenliebe (…). Der menschliche Umgang mit dem Tier sollte ein wichtiger Teil der staatlichen Erziehung sein, gehört er doch im Augenblick nicht zu unseren nationalen Tugenden. Eine mitfühlende Gesinnung gegen die stummen Haustiere bei den unteren Schichten trifft man in einem wilden Staatswesen häufiger als in einem zivilisierten, denn die Zivilisation hindert die Menschen an dem Austausch, der in der roh gezimmerten Hütte oder dem Lehmbau zu liebevoller Zuneigung führt…

Gewohnheitsmäßige Grausamkeit gegenüber Tieren wird meist in der Schule erworben, wo die Knaben in ihrer kargen Freizeit die armen Kreaturen quälen… Gerechtigkeit oder auch Güte können nur ein Maßstab des Handelns sein, wenn sie sich auf die ganze Schöpfung beziehen. Meiner Meinung nach ist es fast schon ein Grundsatz, dass ein Mensch, der das Leiden anderer ungerührt mit ansehen kann, auch bald lernen wird, Leid zuzufügen…

Wollstonecraft, Mary (1999): Über den Umgang mit Tieren. In: Dies., Plädoyer für die Rechte der Frau. Weimar: Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, S. 223 und 237.

Rosa Luxemburg: Tiere können fühlen

Ach, Sonitschka, ich habe hier einen scharfen Schmerz erlebt; auf dem Hof, wo ich spaziere, kommen oft Wagen vom Militär, voll bepackt mit Säcken oder alten Soldatenröcken und Hemden, oft mit Blutflecken ..., die werden hier abgeladen, in die Zellen verteilt, geflickt, dann wieder aufgeladen und ans Militär abgeliefert. Neulich kam so ein Wagen, bespannt statt mit Pferden mit Büffeln. Ich sah die Tiere zum erstenmal in der Nähe. Sie sind kräftiger und breiter gebaut als unsere Rinder, mit flachen Köpfen und flach abgebogenen Hörnern, die Schädel also unseren Schafen ähnlicher, ganz schwarz mit großen sanften Augen. Sie stammen aus Rumänien, sind Kriegstrophäen ... die Soldaten, die den Wagen führen, erzählen, dass es sehr mühsam war, diese wilden Tiere zu fangen und noch schwerer, sie, die an die Freiheit gewöhnt waren, zum Lastdienst zu benutzen. Sie wurden furchtbar geprügelt (...)

An hundert Stück der Tiere sollen in Breslau allein sein; dazu bekommen sie, die an die üppige rumänische Weide gewöhnt waren, elendes und karges Futter. Sie werden schonungslos ausgenutzt, um alle möglichen Lastwagen zu schleppen, und gehen dabei rasch zugrunde. Vor einigen Tagen kam also ein Wagen mit Säcken hereingefahren, die Last war so hoch aufgetürmt, dass die Büffel nicht über die Schwelle bei der Toreinfahrt konnten. Der begleitende Soldat, ein brutaler Kerl, fing an, derart auf die Tiere mit dem dicken Ende des Peitschenstieles loszuschlagen, dass die Aufseherin ihn empört zur Rede stellte, ob er denn kein Mitleid mit den Tieren hätte! "Mit uns Menschen hat auch niemand Mitleid!" antwortete er mit bösem Lächeln und hieb noch kräftiger ein ... Die Tiere zogen schließlich an und kamen über den Berg, aber eins blutete ...

Sonitschka, die Büffelhaut ist sprichwörtlich an Dicke und Zähigkeit, und die war zerrissen. Die Tiere standen dann beim Abladen ganz still erschöpft, und eins, das, welches blutete, schaute dabei vor sich hin mit einem Ausdruck in dem schwarzen Gesicht und den sanften schwarzen Augen wie ein verweintes Kind. Es war direkt der Ausdruck eines Kindes, das hart bestraft worden ist und nicht weiß, wofür, weshalb, nicht weiß, wie es der Qual und der rohen Gewalt entgehen soll... ich stand davor, und das Tier blickte mich an, mir rannen die Tränen herunter - es waren seine Tränen, man kann um den liebsten Bruder nicht schmerzlicher zucken, als ich in meiner Ohnmacht um dieses stille Leid zuckte. Wie weit, wie unerreichbar, verloren die freien, saftigen, grünen Weiden Rumäniens! Wie anders schien dort die Sonne, blies der Wind, wie anders waren die schönen Laute der Vögel oder das melodische Rufen der Hirten. Und hier - diese fremde, schaurige Stadt, der dumpfe Stall, das ekelerregende muffige Heu mit faulem Stroh gemischt, die fremden, furchtbaren Menschen, und - die Schläge, das Blut, das aus der frischen Wunde rinnt.

Oh, mein armer Büffel, mein armer, geliebter Bruder, wir stehen hier beide so ohnmächtig und stumpf und sind nur eins in Schmerz, in Ohnmacht, in Sehnsucht. Derweil tummelten sich die Gefangenen geschäftig um den Wagen, luden die schweren Säcke ab und schleppten sie ins Haus, der Soldat aber steckte beide Hände in die Hosentaschen, spazierte mit großen Schritten über den Hof, lächelte und pfiff leise einen Gassenhauer. (...)

Luxemburg, Rosa (2006): Briefe aus dem Gefängnis. Leipzig: Voltmedia, S. 74-76.

Albert Schweizer: Mitleid mit Tieren

Einen tiefen Eindruck machte mir ein Erlebnis aus meinem, siebenten oder achten Jahre. Heinrich Bräsch und ich hatten uns Schleudern aus Gummischnüren gemacht, mit denen man kleine Steine schleuderte. Es war im Frühjahr, in der Passionszeit. An einem Sonntagmorgen sagte er zu mir: «Komm, jetzt gehen wir in den Rebberg und schießen Vögel.» Dieser Vorschlag war mir schrecklich, aber ich wagte nicht zu widersprechen, aus Angst, er könnte mich auslachen. So kamen wir in die Nähe eines kahlen Baumes, auf dem die Vögel, ohne sich vor uns zu fürchten, lieblich in den Morgen hinaussangen. Sich wie ein jagender Indianer duckend, legte mein Begleiter einen Kiesel in das Leder seiner Schleuder und spannte dieselbe. Seinem gebieterischen Blick gehorchend, tat ich unter furchtbaren Gewissensbissen dasselbe, mir fest gelobend, danebenzuschießen. In demselben Augenblicke fingen die Kirchenglocken an, in den Sonnenschein und in den Gesang der Vögel hineinzuläuten. Es war das «Zeichen-Läuten», das dem Hauptläuten eine halbe Stunde voranging. Für mich war es eine Stimme aus dem Himmel. Ich tat die Schleuder weg, scheuchte die Vögel auf, dass sie wegflogen und vor der Schleuder meines Begleiters sicher waren, und floh nach Hause. Und immer wieder, wenn, die Glocken der Passionszeit in Sonnenschein und kahle Bäume hinausklingen, denke ich ergriffen, und dankbar daran, wie sie mir damals das Gebot «Du sollst nicht töten» ins Herz geläutet haben. Von. jenem Tage an habe ich gewagt, mich von der Menschenfurcht zu befreien. Wo meine innerste Überzeugung mit im. Spiele war, gab ich jetzt auf die Meinung anderer weniger als vorher. Die Scheu vor dem Ausgelachtwerden durch die Kameraden suchte ich zu verlernen.

Albert Schweitzer (2006) Ehrfurcht vor den Tieren. München: C.H. Becke, S.16-18.

Ekkehard Martens: Zwei Extreme menschlichen Verhaltens

Manche Menschen haben ein Tier als besten, vielleicht sogar einzigen Freund. Ihm können sie alles erzählen, die Tiere sind immer für sie da, sie freuen sich, wenn sie zurückkommen und sind für alles dankbar. Manche Menschen ziehen in ihrer Einsamkeit oder Verbitterung Tiere sogar Menschen vor. Das andere Extrem zur übertriebenen, wenn auch vielleicht im Einzelfall verständlichen Tierliebe ist die Tierquälerei, etwa bei der Massentierhaltung, beim Tiertransport, bei Tierexperimenten oder bei ihrem Missbrauch als Personenersatz. Wo aber liegt die Grenze zwischen einer übertriebenen Tierliebe und einer unzulässigen Tierquälerei?

Was berechtigt uns, mit Tieren in einer Weise umzugehen, die wir im Umgang mit uns selbst und mit anderen Menschen nicht für richtig halten? Kein Mensch darf beispielsweise, so sind wir in der Regel überzeugt, gegen seinen freien Willen für medizinische Experimente oder als Nahrungsmittel getötet werden, auch nicht, wenn dies schmerzlos geschieht. Dürfen wir dagegen Tiere zu unseren beliebigen Zwecken als Mittel einsetzen? Der Umgang mit Tieren sagt zugleich etwas darüber aus, wie wir uns selber einschätzen, welche Rechte und Pflichten wir uns ihnen und der Natur gegenüber insgesamt zuschreiben oder wie wir uns von Tieren zu unterscheiden meinen. Tierethik ist daher zugleich ein untrennbarer Teil der allgemeinen Ethik als Nachdenken über unsere Lebensweise. Sie ist alles andere als eine bloß spezielle ökologische Ethik sentimentaler Tierliebhaberei.

Martens, Ekkehard (1997): Zwischen Gut und Böse. Stuttgart: Reclam, S. 103.

Massentierhaltung

Ursula Wolf: Auf Tiere Rücksicht nehmen

Bei Haustieren übernimmt der Mensch die Rolle des Sozialpartners des Tiers. Hier bestehen daher moralische Situationen, die denen zwischen Personen durchaus analog sind. Wer einmal mit einem Hund oder einer Katze zusammengelebt hat, weiß, dass diese Tiere ein gewisses Verständnis davon entwickeln, was sie dürfen und was sie nicht dürfen, dass sie unterscheiden können zwischen Dingen, für die sie etwas können, und Dingen, an denen sie unschuldig sind, dass sie Gewohnheitsrechte beanspruchen, dass ihnen daran liegt, beachtet zu werden usw. Dass funktionierende soziale Beziehungen ein unverzichtbarer Bestandteil des tierischen Wohls sind, ist in diesem Fall, in dem wir selbst die Sozialpartner sind, besonders deutlich erkennbar, weil Tiere, wenn man sie gegen ihre sozialen Bedürfnisse willkürlich behandelt, schwere Verhaltensstörungen entwickeln.

Ich fasse jetzt die praktischen Konsequenzen im ganzen zusammen. Vom Standpunkt der Moral des Mitleids folgt, dass vieles, was Menschen den Tieren antun, zweifellos unzulässig ist. Das gilt, wie im Detail gezeigt, generell für die Praxis der Massentierhaltung und des Tierversuchs. Denn die so benutzten Tiere leben unter Bedingungen, die durchgängig und systematisch ein Leben in subjektivem Wohlbefinden ausschließen. Dieselbe systematische Verhinderung liegt vor, wo Tiere ihr Leben lang in Zoos, Käfigen usw. eingesperrt werden. Ich habe diese Fälle der durchgängigen Verhinderung des Wohls betont, weil hier besonders deutlich ist, dass der verbreitete Hinweis, dass es ohnehin kein Leben ohne Leiden gibt, irrelevant ist. Der entscheidende Bezugspunkt der moralischen Zulässigkeit ist in meiner Konzeption das Wohl oder gute Leben, nicht punktuelle Zustände von Lust und Unlust. Ich möchte damit nicht das umgekehrte Missverständnis erzeugen, dass die Zufügung von einzelnem Leiden kein Problem wäre. Gerade wenn man Leidenserfahrungen nicht isoliert, sondern als Bestandteil des Lebens im Ganzen sieht, der erinnert wird und sich auf das künftige Verhalten auswirkt, bedeutet jedes Leiden eine Minderung des Wohls. Was ich sagen will, ist nur, dass solche Minderungen manchmal unvermeidlich sind; wo sie es nicht sind, verstößt auch die Zufügung vorübergehenden Leidens gegen die moralische Rücksicht. Solche unnötigen Zufügungen von Leiden sind z.B. das Jagen von Tieren, ihre Verwendung in Kampfspielen wie Stierkämpfen und Hahnenkämpfen usw.

Wolf, Ursula (2004): Das Tier in der Moral. Frankfurt am Main: Klostermann, 2. Auflage, S. 102/103.

Ethische Verhaltensweisen: Vegetarismus

Jackie French: Isst du Fleisch?

Isst du Fleisch? Ja. Aber ich respektiere die Tiere auch. Ich glaube, dass man Tiere essen und sie gleichzeitig respektieren kann. Einen Großteil meines Lebens habe ich damit verbracht, andere Menschen davon zu überzeugen, Tiere in Frieden leben zu lassen und die Gegend, in der ich lebe, in einen guten Platz für Tiere zu verwandeln. Tiere töten andere Tiere und fressen sie, aber sie respektieren einander. Ich bin auch ein Tier. Ich bin Teil des Lebenskreislaufs. Ich töte und esse und eines Tages werde ich sterben und dann auch gefressen werden. Vermutlich nicht von einem Löwen oder einem Tiger, aber von Millionen von Mikroorganismen, die mir dabei helfen werden, zu Staub zu zerfallen, aus dem wieder Bäume und andere lebendige Dinge wachsen werden. Ich mag den Gedanken daran, dass mein Körper von anderen verwertet wird. Also esse ich Fleisch, aber ich werde keinem Tier wissentlich Schmerzen verursachen. Ich werde nie glauben, dass ich ein größeres Anrecht auf ein Stück von dieser Welt habe als ein Wombat oder ein Känguru, bloß weil ich ein Mensch bin. Wenn ich meine Pflanzen anbaue, werde ich immer sicherstellen, dass ich genug Platz für Tiere und ihr Futter lasse, und ich werde alles dafür tun, damit die Tiere in Würde leben können.

French, Jackie (2008): Das kleine Buch der großen Fragen. Köln: Boje, S. 55

Evelyn B. Pluhar: Das Recht, nicht gegessen zu werden

Stellen wir uns vor, die weltweit führende Nation in puncto Massentierhaltung, die Vereinigten Staaten, würden den gegenwärtigen Weg der Europäischen Union beschreiten und die erschreckendsten Praktiken auslaufen lassen. [...] Unbezweifeibar hätten die Tiere, die für ihre Körperteile gezüchtet und getötet werden, ein besseres Leben und einen besseren Tod, als dies jetzt ihr Los ist, aber daraus folgt nicht, dass es dann moralisch gerechtfertigt wäre, sie in Hauptgerichte zu verwandeln. Schließlich würden nur wenige von uns es billigen, Angehörige unserer eigenen Spezies auf solch »humane« Art zu behandeln. Uns allen, unabhängig vom Grad unserer Intelligenz, macht es etwas aus, was mit uns geschieht. Wir wehren uns dagegen, abgeschlachtet zu werden. Wir sind nicht damit einverstanden, zu »Opfertieren« gemacht zu werden. Kleine Kinder protestieren, wenn sie angegriffen werden, auch wenn sie ihren Protest nicht in Worte fassen können. Genauso verhalten sich Fische, die an der Luft ersticken, und Hühner, die erdrosselt werden. Selbst dann, wenn wir unwissentlich und schmerzlos im Schlaf getötet werden, haben wir das verloren, was das Leben für uns sonst noch bereitgehalten hätte. Argumente wie »Aber sie hätten ja gar nicht existiert, wenn wir sie nicht zu diesem Zweck gezüchtet hätten« oder »Ihr Leben in der Wildnis wäre viel gefährlicher und unangenehmer« - Argumente, die gern ins Feld geführt werden, wenn über nichtmenschliche Lebewesen gesprochen wird, verlieren ihre Plausibilität, sobald wir sie auf Zuchtbetriebe für Menschenfleisch oder Swift’sche6 Lösungen für die Probleme der Obdachlosen anwenden. Selbst die freundlichsten Wärter und Metzger würden -unter beträchtlichem Rechtfertigungsdruck stehen, wenn Braten aus menschlichen Hinterbacken besondere Bestandteile des Menüs ausmachten. Noch jemand einen leckeren milchgenährten Zweibeiner?

Wenn es Menschen verdienen, ungeachtet ihrer intellektuellen Fähigkeiten respektvoll behandelt zu werden, dann verdienen dies auch viele nichtmenschliche Lebewesen, ganz unabhängig davon, wie gut sie uns schmecken mögen. Moralische Akteure sind dazu verpflichtet, in ihren Handlungen konsequent und gerecht zu sein. (Dagegen sind kleine Kinder, geistig beeinträchtigte Menschen, Hunde, Katzen, Tiger usw. für das, was sie tun, nicht moralisch verantwortlich.) Wenn wir uns diesen Gedanken lebhaft vor Augen führen, dann sind Gefühle und Verpflichtungen miteinander im Einklang. Wenn wir versuchen, uns in ein Opfertier hineinzuversetzen (auch in ein menschliches Opfertier), sind wir weit weniger geneigt, ein Lebewesen zum Opfertier zu machen, besonders dann, wenn es nur um den Gaumenkitzel geht. Alle Wesen, denen es etwas ausmachen kann, was mit ihnen geschieht, die ein Ergebnis einem anderen vorziehen können, haben ein Leben, das sich moralisch gesehen nicht auf das Vergnügen anderer reduzieren lässt. Wir können ein Interesse an ihnen haben, weil sie ein Interesse an sich haben. Für sie hängt etwas davon ab, was der nächste Augenblick mit sich bringt, genau wie dies für uns gilt. Ich muss weder etwas von Infinitesimalrechnung noch von Lyrik verstehen, um ein Leben zu besitzen, das für mich von Bedeutung ist. (...)

Verteidiger der Fleischindustrie wie auch diejenigen Vegetarier, deren Beweggrund nur die Sorge um die eigene Gesundheit ist, haben gegen den auf Rechten basierenden ethischen Vegetarismus mehrere Einwände. Erstens behaupten viele von ihnen, wir hätten keinen Beweis, dass es sogenannten Nutztieren etwas ausmachen kann, was ihnen widerfährt. Sie werfen Vegetarierinnen wie mir Anthropomorphismus vor, wenn wir nichtmenschlichen Lebewesen Vorlieben zuschreiben. Einige gehen so weit zu behaupten, nichtmenschliche Lebewesen hätten nicht einmal ein Bewusstsein. [...] Philosophen und Naturwissenschaftler, die bestreiten, dass nichtmenschliche Wesen Selbstbewusstsein haben können, behaupten, dass der intellektuelle Entwicklungsstand, der angeblich für eine solche Fähigkeit notwendig ist, von nichtmenschlichen Wesen nicht erreicht wird. Aber natürlich gilt auch für eine ganze Menge Menschen, dass differenzierte Denkoperationen ihren Horizont übersteigen. Trotzdem zeigen Kinder, die noch nicht sprechen können, und geistig beeinträchtigte, aber empfindungsfähige Menschen trotz ihrer intellektuellen »Unzulänglichkeiten« alle Anzeichen dafür, dass es ihnen etwas ausmacht, was mit ihnen geschieht - wie es auch bei Kühen, Hühnern, Hunden, Fischen usw. der Fall ist. Wenn man auf einem so hohen Maßstab für das Vorhandensein eines Selbstbewusstseins besteht, dann ist die Behauptung, ohne Selbstbewusstsein Vorlieben zu besitzen sei unmöglich, extrem unglaubwürdig.

Behauptet jemand andererseits, dass ein weniger differenziertes Selbstbewusstsein ausreichend wäre, um Vorlieben zu haben, spricht alles dafür, dass viele nichtmenschliche Lebewesen und geistig unentwickelte oder beeinträchtigte Menschen in der Tat solch ein Bewusstsein haben. Sie zeigen keine Anzeichen dafür, dass sie sich mit anderen Menschen oder Gegenständen verwechseln: Sie scheinen sehr gut zu wissen, dass sie hungrig sind oder Schmerzen haben. Außerdem scheint Lernen im Gegensatz zum mechanischen Antworten auf einen Reiz einiges Selbstbewusstsein, einen .inneren Kern zu erfordern, auf den Erinnerungen und Motivationen bezogen werden können. Nur wenige Menschen bestreiten ernsthaft, dass nichtmenschliche Tiere und sehr junge Menschen lernen können.8 Nun kann man aber nicht aus völlig zusammenhangslosen Sinneseindrücken lernen: Diese müssen zu Erfahrungen - zusammenhängenden Elementen - zusammengefügt werden, an die man sich erinnern und die man voraussehen kann.

All jene, die bestreiten, dass nichtmenschliche Lebewesen ein Bewusstsein oder Selbstbewusstsein haben können, müssen einige ernsthafte Erklärungen geben. Wie soll man ihrer Meinung nach komplexes, anpassungsfähiges, offensichtlich kreatives Verhalten von nichtmenschlichen Wesen auslegen? Bis heute haben sie keine plausiblen Erklärungen für solch ein Verhalten. Wir sind ebenso wenig berechtigt zu behaupten, dass es einem Mastkalb nichts ausmachen könne, was in seinem 60 cm breiten Kasten mit ihm geschieht, wie wir behaupten können, dass ein kleines Mädchen, das in einem Wandschrank angekettet gehalten wird, geistig zu unterentwickelt sei, um sich an seinem Gefangensein zu stören.

Pluhar, Evelyn B. (2008): Das Recht, nicht gegessen zu werden. In: Ursula Wolf (Hrsg.): Tierethik.Stuttgart: Reclam, S. 305-307 und 309/310

Richard David Precht: Intelligente Tiere nicht essen

Stell dir vor, eines Tages landen fremde Wesen aus dem All auf unserem Planeten. Wesen wie in dem Hollywood-Spielfilm Independenee Day. Sie sind unglaublich intelligent und dem Menschen weit überlegen. Doch dieses Mal steht kein todesmutiger Präsident im Kampfflugzeug zur Verfügung. Und auch kein verkanntes Genie legt die außerirdischen Computer mit irdischen Viren lahm. Stattdessen haben die Aliens die Menschheit in kürzester Zeit besiegt und eingesperrt Eine beispiellose Terrorherrschaft beginnt Die Außerirdischen benutzen die Menschen zu medizinischen Versuchen, fertigen Schuhe, Autositze und Lampenschirme aus ihrer Haut, verwerten ihre Haare, Knochen und Zähne. Außerdem essen sie die Menschen auf, besonders die Kinder und Babys. Sie schmecken ihnen am besten, denn sie sind so weich, und ihr Fleisch ist so zart.

Ein Mensch, den sie gerade aus dem Kerker holen, um ihn zu schlachten und Wurst aus ihm zu machen, schreit die fremden Wesen an: »Wie könnt ihr so etwas tun? Seht ihr nicht, dass wir Gefühle haben, dass ihr uns weh tut? Wie könnt ihr uns unsere Kinder wegnehmen, um sie zu töten und zu essen? Seht ihr nicht, wie wir leiden? Merkt ihr denn gar nicht, wie unvorstellbar grausam und barbarisch ihr seid? Habt ihr denn überhaupt kein Mitleid?« Die Außerirdischen nicken. »Ja, ja«, sagt einer von ihnen. »Es mag schon sein, dass wir ein bisschen grausam sind. Aber seht ihr«, fährt er fort, »wir sind euch eben überlegen. Wir sind intelligenter als ihr und vernünftiger. Wir können lauter Dinge, die ihr nicht könnt. Wir sind eine viel höhere Tierart, viel weiterentwickelt als ihr. Na ja, und deshalb dürfen wir halt alles mit euch machen, was wir wollen. Seht euch mal unsere phantastische Kultur an! Unsere Raumschiffe, mit denen wir in Lichtgeschwindigkeit fliegen können. Und dann guckt auf euer jämmerliches Dasein! Verglichen mit uns ist euer Leben kaum etwas wert Außerdem, selbst wenn unser Verhalten irgendwie nicht ganz in Ordnung sein sollte, wegen eurer Schmerzen und eurer Ängste - eines ist doch viel wichtiger für uns: Ihr schmeckt uns halt so gut!«

- Was hältst du davon, Oskar? Findest du, dass man das vergleichen kann? Die Menschen benehmen sich gegenüber den Tieren genauso grausam, wie die Aliens in der Geschichte gegenüber den Menschen? - Ja, vielleicht. - Und wenn das stimmt, dürfen wir dann eigentlich noch Tiere essen? Ist das nicht unfair und gemein? - Manche Tiere esse ich ja auch nicht, Papa. Oktopus zum Beispiel oder Kalmare. - Warum nicht? Schmecken die dir nicht? - Nein, weil ich finde, man kann nicht so schöne, kluge und elegante Tiere essen. - Andere Tiere, meinst du, kann man aber schon essen? - Zum Beispiel ’ne Kuh. - Warum ’ne Kuh? - Kühe sind nicht so schlau und so intelligent und auch nicht so schön. Wenn du ’nen Oktopus mit ’ner Kuh vergleichst - als Haustier würdest du den Oktopus nehmen. Und. ein Haustier würdest du eben nicht essen. -Nein, niemals, Papa. - Also würdest du sagen: Die Gründe, warum man bestimmte Tiere nicht essen darf, sind ihre Intelligenz und ihre Schönheit. Aber mit der Schönheit ist das so eine Sache. Was macht man, wenn jemand Oktopusse nicht schön findet...? -Nicht alle essen ja auch keine Kraken. - Eben. Würdest du denn, wenn du es könntest, das Essen von Tintenfischen verbieten lassen? - Wenn alle damit einverstanden sind, fände ich das gut. Der wichtigste Grund, warum man bestimmte Tiere nicht essen sollte, ist also ihre Intelligenz? Ja, Papa.

Richard David Precht (2011): Warum gibt es alles und nicht nichts? München: Goldmann S. 144-147.

Fussnoten