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Tierethische Positionen

Prof. Dr. Ursula Wolf Jens Tuider

/ 14 Minuten zu lesen

Dürfen wir das Wohl und Leben der Tiere unseren Zwecken unterordnen? Oder müssen wir Tiere auf die gleiche Weise moralisch berücksichtigen wie Menschen? Jens Tuider und Ursula Wolf führen in Grundfragen der Tierethik ein.

Massentierhaltung: Geflügelmastbetrieb in Deutschland, 10.05.2010. (© picture-alliance)

In der alltäglichen Moral und im Recht hat sich inzwischen die Auffassung durchgesetzt, dass Tiere als fühlende Wesen um ihrer selbst willen moralisch zählen. In Deutschland und der Schweiz ist dieser sogenannte ethische Tierschutz sogar in der Verfassung verankert. Gleichzeitig ist aber immer noch die aus der christlichen Tradition stammende Überzeugung von einem speziellen Wert des Menschen verbreitet. So heißt es im Deutschen Tierschutzgesetz §1: "Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen." Das Tier wird also einerseits als Wesen gesehen, das wie wir lebt und sein Wohl sucht. Andererseits wird mit dem Verantwortungsbegriff aber auch dem Menschen eine Sonderstellung zugeschrieben, mit der Schutzpflichten, aber auch Nutzungsrechte verbunden sind. Denn weiter lautet die Bestimmung: "Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen." Ein "vernünftiger Grund" ist aber nicht immer ein moralisch relevanter Grund. Wo bleibt dann der Schutz der Tiere um ihrer selbst willen?

Offensichtlich liegt also in den derzeitigen Vorstellungen eine gewisse Spannung, die man in zwei Richtungen bereinigen könnte. Die eine Richtung betont die Besonderheit des Menschen, macht bestimmte personale Fähigkeiten zum Kriterium für die Zugehörigkeit zur Moral und trägt der Einbeziehung der Tiere durch indirekte Hilfsargumente Rechnung. Die andere betont die eigenständige moralische Bedeutung der Tiere und sucht nach einer Konzeption, welche die Rücksicht auf Tiere konsequent zu Ende denkt, wobei häufig ein gleicher moralischer Status für Mensch und Tier angenommen wird.

Indirekte Argumente für die Rücksicht auf Tiere

Kants Vernunftmoral

Kant erklärt die Sonderstellung des Menschen nicht religiös.Vielmehr gründet für ihn die Würde des Menschen darin, dass dieser nicht nur in der Erfahrungswelt lebt, sondern Anteil an der Welt der Vernunft hat, die einen absoluten Wert besitzt. Während unsere Antriebe in der Erfahrungswelt den Kausalgesetzen unterworfen sind, sind wir als Mitglieder der Vernunftwelt autonom, d.h. wir besitzen die Fähigkeit, uns selbst das Moralgesetz zu geben. Sofern alle Wesen mit dieser Fähigkeit eine Würde haben, ist das Moralgesetz gleichbedeutend damit, dass wir alle vernünftigen Wesen nie nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck behandeln sollen. Da Tiere keine Vernunftwesen sind, kommt ihnen nach Kant nur ein relativer Wert zu, sie sind nur Mittel für Personen, und er bezeichnet sie daher als Sachen. Dennoch spricht er sich aus indirekten Gründen für die Rücksicht auf Tiere aus, nämlich mit dem Verrohungsargument: Wer Tiere misshandelt und ihnen gegenüber grausam ist, wird moralisch abstumpfen und dann auch im Umgang mit direkten Gegenständen der Moral, also menschlichen Personen, zu Grausamkeit tendieren. Die diesem Argument zugrundeliegende Annahme einer Analogie zwischen Menschen und Tieren ist aber nur sinnvoll, wenn man die Vernunft als eine in der Evolution entstandene Fähigkeit ansieht und sie nicht wie Kant in einer höheren Welt ansiedelt.

Moral als Vertrag

Der Kontraktualismus setzt nur die zweckrationale Vernunft voraus. Er besagt, dass es im vormoralischen Interesse rationaler Individuen ist, sich auf Normen wechselseitiger Rücksicht zu einigen, weil der Vorteil, den der Gewinn an Sicherheit vor Übergriffen bedeutet, den Verzicht überwiegt, der in der Einschränkung der eigenen Interessen mit Rücksicht auf die Interessen der anderen liegt. Solche Abmachungen können nur Wesen schließen, die über Sprache, die Fähigkeit zum Einhalten von Versprechen usw. verfügen, also Wesen, die man als Personen bezeichnen kann. Tiere haben diese Fähigkeiten nicht und können daher in dieser Konzeption wechselseitiger Rechte und Pflichten keine Rechte haben, nicht direkt Gegenstand moralischer Rücksicht sein. Man müsste vielmehr die Vertragskonzeption durch andere Gesichtspunkte ergänzen, z. B. dadurch, dass wir die Tugend des Mitgefühls als motivationale Grundlage brauchen und dass in deren Inhalt die Ausdehnung auf alle fühlenden Wesen angelegt ist (Carruthers). Aus dieser notwendigen Ergänzung ergibt sich, dass Tiere, auch wenn sie nicht die Fähigkeiten besitzen, die moralische Akteure auszeichnen, aufgrund ihrer Leidensfähigkeit ohne weiteres Gegenstände moralischer Rücksicht sein können (vgl. das "pathozentrische" Argument in Krebs, Naturethik).

Direkte Argumente für die Berücksichtigung der Tiere

Mitleidsethik

Eine direkte Ausdehnung der Moral auf Tiere auf dieser Basis finden wir in Schopenhauers Mitleidsethik. Dieser betont gegen Kant, dass moralisches Handeln sich nur verstehen lässt, wenn wir ein empirisches Motiv dafür finden können. Er verweist auf altruistische Gefühle, genauer auf den natürlichen Affekt des Mitleids, in welchem wir direkt auf das Wohl anderer fühlender Wesen bezogen und von ihrem negativen Erleben betroffen sind. Allerdings ist das Mitleid wie alle Affekte launisch und kann daher nur zur Grundlage einer moralischen Position werden, wenn es zu einer dauerhaften Einstellung, einer Tugend verfestigt wird. Die Mitleidskonzeption ist dadurch gekennzeichnet, dass sie den ethischen Tierschutz zum Inhalt hat, d. h. die Rücksicht auf individuelle Tiere um ihrer selbst willen. Damit dürfte sie diejenige Grundlegung der Tierethik sein, die am besten an die im Alltagsbewusstsein und im Recht verankerten Vorstellungen anknüpft. Die Anwendbarkeit des Mitleids auf alle Wesen, die ein Wohl haben, ergibt weiterhin einen gleichen moralischen Status für Menschen und Tiere. Andererseits bleibt die Stärke ihrer Konsequenzen offen, da sich allein aus einer altruistischen Haltung einer Person weder moralische Forderungen an andere Personen noch Rechte der betroffenen Wesen ableiten lassen (Tugendhat).

Utilitarismus

Den Anstoß zur heutigen Tierethik-Debatte hat Peter Singers utilitaristische Position gegeben. Für den Utilitarismus ist moralisches Handeln auf das Ziel der Nutzenmaximierung bezogen. Der Nutzen wird im klassischen Utilitarismus bei Bentham als Lust, in Singers sog. Präferenzutilitarismus als Interessenbefriedigung interpretiert. Am besten ist dann diejenige Handlung, die insgesamt die beste Bilanz von Lust/Unlust bzw. die meisten befriedigten Interessen zur Folge hat. Die Voraussetzung dafür, Lust empfinden oder Interessen haben zu können, ist die Empfindungsfähigkeit, womit Tiere eingeschlossen sind. Da Singer neben dem Maximierungsprinzip einen Gleichheitsgrundsatz voraussetzt, zählen im Rahmen des Kalküls alle empfindungsfähigen Wesen gleichermaßen. Wer Tiere schwächer gewichtet, weil sie keine Personen sind, zieht sich den Vorwurf des Speziesismus (Bevorzugung der eigenen Spezies) zu (so auch schon Ryder). Denn Menschen (z. B. Neugeborenen oder Dementen) gestehen wir auch dann einen vollwertigen moralischen Status zu, wenn sie nicht die Fähigkeiten von Personen haben. Wenn wir Tiere, welche ähnliche oder sogar höhere intellektuelle Fähigkeiten haben, schwächer berücksichtigen, weil sie nicht der menschlichen Gattung angehören, liegt, so Singer, eine unbegründete Diskriminierung vor, die strukturelle Ähnlichkeiten mit anderen Formen der Diskriminierung wie dem Rassismus oder Sexismus aufweist.

Unterschiede gibt es für Singer allerdings in der Tötungsfrage. Denn hier bewirken die besonderen Fähigkeiten von Personen, ihr Verfügen über Selbstbewusstsein und Zukunftsbezug, ein spezifisches Interesse am Weiterleben. Das gilt nicht nur für menschliche Personen, sondern auch für Tiere mit hohen intellektuellen Fähigkeiten, insbesondere Primaten. Wesen, die solche Fähigkeiten nicht haben, lässt sich kein explizites Interesse am Weiterleben zuschreiben, weshalb Singer ihre Tötung (wenn sie Leiden vermeidet) für unbedenklich hält, wenn das getötete Wesen durch ein neues Wesen mit vergleichbarem oder höherem Beitrag zum Gesamtnutzen ersetzt wird. Prinzipiell ist im Utilitarismus weder die Leidenszufügung noch das Töten von Tieren ausgeschlossen, solange der Gesamtnutzen dadurch befördert wird. Dass Singer die meisten etablierten Tiernutzungspraktiken ablehnt, liegt daran, dass das damit verbundene Leiden der Tiere den Nutzen für Menschen bei weitem überwiegt. Problematisch am Utilitarismus ist, dass er individuelle leidensfähige Wesen lediglich als Träger von verrechenbaren Interessen betrachtet, wohingegen diese nach alltäglicher Vorstellung vor Nutzenstrategien zu schützen sind Interner Link: (siehe auch den Beitrag Argumentationslinien der praktischen Philosophie).

Theorie der Tierrechte

Diese Vorstellung kann am besten eine Konzeption moralischer Rechte erfassen, wie sie Tom Regan entwickelt. Regan nimmt Kants Begriff der Autonomie auf, versteht ihn aber weiter, nämlich als sogenannte Präferenzautonomie. Diese besitzen nicht nur Personen, sondern alle Wesen, die Präferenzen und Wünsche haben und Handlungen in Gang setzen können, die auf die Befriedigung dieser Wünsche ausgerichtet sind. Regan bezeichnet Wesen, welche diese Form der Selbstbestimmung besitzen, als "Subjekte-eines-Lebens". Hierzu zählen für Regan nicht nur Personen, sondern alle Menschen und ebenso alle geistig ‚normal‘ entwickelten Säugetiere (außerdem Vögel und eventuell Fische) ab dem Alter von einem Jahr. Diesen Wesen kommt laut Regan ein "inhärenter" Wert zu, d. h. ein Wert, der unabhängig ist von ihrer Nützlichkeit. Der inhärente Wert ist nicht nach Höhe der Fähigkeiten abgestuft, sondern für alle Wesen mit Präferenzautonomie derselbe. Für Regan begründet die Tatsache, dass ein Wesen inhärenten Wert besitzt, ein moralisches Recht, d. h. einen Anspruch darauf, mit Rücksicht behandelt zu werden bzw. nicht instrumentalisiert zu werden. Entsprechend ist Regan der Auffassung, dass sämtliche Tiernutzungspraktiken abzulehnen sind.

Ähnlich wie Singer zieht auch Regan in der Tötungsfrage ein Zusatzkriterium heran. So unterscheidet er zwischen Personen und nicht-personalen Wesen und kommt zu dem Schluss, dass für kognitiv überlegene Wesen mit einem reicheren geistigen Leben – wie Personen – der Verlust ihres Lebens einen größeren Schaden bedeutet als für nicht-personale Wesen. Daher ist in Konfliktsituationen, in denen nur entweder eine Person oder ein Tier gerettet werden kann, der Person der Vorrang zu geben.

Regans Konzeption wird der wichtigen Vorstellung gerecht, dass moralischer Schutz Individuen gilt und die Form von Rechten hat, die starke Schutzzonen markieren und dadurch das Handeln moralischer Akteure einschränken. Problematisch ist jedoch die Annahme eines gleichen inhärenten Werts, welche mit Bezug auf die Tiere bisher nicht von allen geteilt wird. Teilweise wird auch die Verwendung des Rechtsbegriffs mit Bezug auf Tiere als unsinnig kritisiert, mit dem Argument, dieser Begriff sei wesentlich auf Menschen bezogen, weil nur sie die Fähigkeit zum moralischen Urteilen besitzen. (Cohen). Dagegen radikalisieren andere Autoren Regans Auffassung dahingehend, dass Tiere im Hinblick auf Gerechtigkeit in die Moral gehören (Nussbaum) oder sogar Bürgerrechte erhalten sollten (Donaldson/Kymlicka). Was sind überhaupt moralische Rechte? Heute glauben nur noch wenige, dass solche Rechte in der Realität oder von Natur aus vorgegeben sind. Ohne eine solche Annahme bedeutet ein moralisches Recht einfach, dass man aufgrund geeigneter Kriterien Gegenstand der Moralprinzipien ist (dass ein Wesen ein moralisches Recht hat, nicht verletzt zu werden, bedeutet dann, dass die Norm "Verletze niemanden!" auf es anwendbar ist). Der Begriff des Rechts ist dann genau genommen nur eine Abkürzung. Dennoch ist seine Verwendung in praktischen Zusammenhängen wichtig, weil sie den Anspruch auf rücksichtsvolle Behandlung betont. Verwenden wir den Begriff eines moralischen Rechts in diesem harmlosen Sinn, entfällt allerdings Regans Basis der Gleichheit, und es bleibt dann die Frage offen, wie man zwischen dem Anspruch des ethischen Tierschutzes und der Überzeugung vom Wert des Menschen vermitteln kann.

Gleicher moralischer Status für Tiere?

Wenn es moralische Normen gibt, die auf Tiere direkt anwendbar sind, dann muss man sich fragen, warum Tiere in dieser Hinsicht weniger zählen sollten als Menschen. Wenn das Verbot der Leidenszufügung auch für Tiere gilt, dann sollte man denken, dass der Schmerz eines Tiers prinzipiell dieselbe moralische Relevanz hat wie der ungefähr gleiche Schmerz eines Menschen und so zumindest dort, wo kein Konflikt zwischen dem moralischen Recht eines Menschen und dem eines Tiers vorliegt, berücksichtigt werden müsste. Warum wird er dann aber doch in vielen Fällen schwächer gewichtet? Argumentiert wird durch den Hinweis auf Unterschiede, wobei diese teils Fähigkeiten, teils Beziehungen betreffen.

  1. Wert oder Würde des Menschen: Wenn jemand aus religiösen oder anderen Gründen an einen besonderen Wert des Menschen glaubt, dann ändert das nichts daran, dass Menschen und Tiere die Leidensfähigkeit teilen. Wer glaubt, dass Tiere Mitgeschöpfe sind, müsste sehen, dass Tiere als Wesen geschaffen sind, welche auf besondere Weise schutzlos und verletzlich sind (Linzey).

  2. Vernunft, Selbstbewusstsein, Zeitbewusstsein, Moralfähigkeit des Menschen: Dass Tiere hier manche Fähigkeiten nicht haben, trifft zu, heißt aber nur, dass manche moralischen Normen auf sie gar nicht anwendbar sind. Man muss hier scharf unterscheiden zwischen "gleichen Rechten (gleichem Status)" und "Gleichbehandlung" (Dworkin). Z. B. haben Menschen mit Behinderung ein Recht auf besondere Hilfsmittel, Gesunde nicht. Diese Ungleichbehandlung bedeutet natürlich nicht, dass Gesunde einen schwächeren moralischen Status haben, sondern erklärt sich aus der Verschiedenheit der Bedürfnisse. Dass Tiere kein Recht auf Anerkennung haben, kommt also nicht daher, dass sie einen schwächeren moralischen Status haben, sondern liegt daran, dass sie kein entsprechendes Interesse haben, das man verletzen könnte. Außerdem gilt hier Singers Argument des Speziesismus.

  3. Spezielle Beziehungen: Gegen das Speziesismusargument könnte man einwenden, dass wir gegenüber Mitgliedern der eigenen Spezies, da sie uns näher stehen, stärkere Verpflichtungen haben als gegenüber Wesen anderer Arten (Becker). Daran ist richtig, dass Nähe ein moralisch relevantes Kriterium sein kann. Aber das Argument ist in vielfacher Hinsicht konfus. Nähe fällt nicht automatisch mit den Speziesgrenzen zusammen, viele Menschen fühlen zu ihrem Hund eine größere Nähe als zu einem unbekannten Menschen. Vor allem aber ist Nähe keine Minderung der Gleichheit, sondern ein Zusatzargument, das nur dann akzeptabel ist, wenn zwei Ansprüche zusammentreffen, die zu einem moralischen Konflikt führen. Wenn jemand nur ein Kind aus dem Feuer retten kann, rechtfertigt das Argument der Nähe, dass er das eigene Kind wählt, wenn ein Kind oder einen Hund, dass er das Kind wählt. Aber das Leiden, das die heutige Tiernutzung Tieren zufügt, hat nichts mit einer solchen Rettungsboot-Situation zu tun (Midgley).

Anwendungsfragen

Die drängendsten Anwendungsfragen, die in der Tierethik diskutiert werden, sind die Nutzung von Tieren zu Nahrungszwecken und Tierversuche. Weitere Fragen betreffen die Zulässigkeit der Jagd, des Stierkampfs, der Zirkus- und Zoohaltung sowie der Pelztierzucht. Probleme werfen auch der Umgang mit den sogenannten Kulturfolgern (Füchsen, Ratten usw.) und der Konflikt mit Wildtieren um begrenzte Ressourcen auf. Wenn eine ernsthafte ethische Berücksichtigung der Tiere das Zusprechen eines gleichen Status erfordert, dann erscheinen viele Praktiken der Tiernutzung als bedenklich. Denn dann können menschliche Interessen wie kulinarischer Genuss, ästhetische Lust, Kulturbewahrung, die eine große Bandbreite von Befriedigungsmöglichkeiten haben, nicht als Rechtfertigung dafür dienen, Tieren erhebliches Leiden in Form von Schmerzen, Angst oder Beraubung von Betätigungsmöglichkeiten und sozialen Kontakten zuzufügen, Leiden also, welches das Erreichen des Wohls unmöglich macht.

Tierversuche

Am ehesten könnte man dann Tierversuche für gerechtfertigt halten, weil durch sie Leiden von Menschen behoben bzw. verhindert werden soll. Aber hier liegt kein direkter Konflikt vor, weil nicht ein bestimmtes Leiden eines Tiers einem konkreten Menschen hilft, sondern Tierversuche Teil einer langfristigen Strategie sind, die nur mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit Möglichkeiten zur Bekämpfung von Krankheiten liefern wird. Wenn wir nicht vom Utilitarismus, sondern von individuellen Rechten ausgehen, liegt schon deswegen kein Konflikt vor, weil die Pflicht, anderen zu helfen, unbestimmt und gerade durch die Rechte der anderen Wesen, nicht Nutzenstrategien geopfert zu werden, begrenzt ist.

Konsum von Tierprodukten

Die Massentierhaltung in der heutigen Form, welche Tieren großes Leiden zufügt, lässt sich nicht rechtfertigen, da die Menschheit sich auch mit weniger Tierprodukten ernähren könnte. Strittig ist, ob die Nutzung und Tötung von Tieren überhaupt legitim ist. Wenn Grundlage für die Berücksichtigung der Tiere die Leidensfähigkeit ist, wie ist dann das Töten von Tieren zu bewerten? Hier müsste man zwischen Tieren mit unterschiedlichen Entwicklungsstufen unterscheiden. Wo Tiere über hochentwickelte mentale Fähigkeiten verfügen, die es nahelegen, ihnen ein bewusstes Interesse am Weiterleben zuzuschreiben, lässt sich das Töten nicht rechtfertigen. Bei niedrigeren Tieren kann man das Töten für akzeptabel halten, wo dabei kein Leiden zugefügt wird.

Aber ist nicht die dem Töten vorhergehende Haltung von Nutztieren, z. B. von Legehennen oder Milchkühen, mit großem Leiden verbunden? Faktisch ist das sicher meistens der Fall, es wäre aber zu klären, ob das grundsätzlich so sein muss. Tiere sind in ihrem Verhalten flexibel und lernfähig und nicht auf genau eine Lebensweise festgelegt. Daher kann man sich tierfreundliche Formen der Nutzung vorstellen, die es den Tieren ermöglichen, eine Form des Wohls zu realisieren. Da wir derzeit von einer solchen Tierhaltung weit entfernt sind, ist die wachsende Attraktivität der veganen Lebensweise verständlich, die nicht nur wie der Vegetarismus auf das Essen von Fleisch und Fisch verzichtet, sondern auf die Nutzung jeglicher Tierprodukte.

Literatur

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hat nach Professuren an der Freien Universität Berlin und der Universität Frankfurt seit 1998 einen Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Mannheim inne. Sie hat die Monographie Ethik der Mensch-Tier-Beziehung (Klostermann 2012) verfasst und den Band Texte zur Tierethik (Reclam 2008) herausgegeben.

hat Philosophie und Anglistik an der Universität Mannheim studiert. Schon während des Studiums spezialisierte er sich auf das Thema Tierethik und arbeitete bei Ursula Wolf an diversen Projekten und Publikationen zu diesem Thema mit. Zurzeit verfasst er eine Dissertation zu einem tierethischen Thema.