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Bioethik und Hinduismus

Prof. Dr. Rahul Peter Das

/ 7 Minuten zu lesen

Bioethik ist in Südasien bisher in der Allgemeinheit kaum thematisiert, sondern ein Thema für Fachkreise. Hier überwiegt utilitaristisches Denken. Diskurse zur Bioethik in Südasien sollten diesen Hintergrund beachten.

Hindu vor dem Pashupatinath Tempel in Katmandu, Nepal. (© picture-alliance/AP)

"Ethik", somit auch "Bioethik", ist keine einheimische südasiatische Kategorie, sondern eine ‚westliche‘. Sie wird nachgebildet durch das Bündeln einschlägiger Elemente des tradierten geistigen Fundus Südasiens unter passend erscheinenden einheimischen Begriffen. Auch "Hindu" und "Hinduismus" sind fremde Bezeichnungen, die im religiösen Bereich diverse einheimische Glauben und Handlungsweisen unter einer einzigen Rubrik zu systematisieren versuchen, vornehmlich unter Rückverweis auf als autoritativ angesehene traditionelle Textkorpora. Doch obwohl im akademischen Diskurs aus historischer Perspektive umstritten, ist Hinduismus heute als vereinheitlichende Kategorie real existent, Eigen‑ und Fremdwahrnehmung gleichermaßen bestimmend. Aber seine Grenzen und sein Wesen bleiben unscharf. Religiöse Autorität, Glaube und Ritus folgen keinem einheitlichen Muster und sind nicht notwendigerweise textgebunden, obwohl diverse Gruppierungen sich auf verschiedene, als autoritativ erachtete Texte berufen.

Basierend vornehmlich auf europäischen Gelehrtendiskursen zum alten Südasien, wird für den Hinduismus ein gesellschaftliches Kontinuum postuliert, das bis heute wirke und vornehmlich vormodernen Werken entnehmbar sei, verfasst von einer bestimmten Elite in Literatursprachen, besonders Sanskrit; normative Aussagen dieser Werke werden größtenteils als empirisch angesehen. Diese seit der Kolonialzeit vorherrschende historisierende Sichtweise ist in Südasien indigenisiert worden; sie wird nur allmählich problematisiert, während andererseits Kräfte sowohl innerhalb als auch außerhalb Südasiens versuchen, den Hinduismus diesem Modell anzugleichen. Hingegen ist Hinduismus als heute existente Kategorie meistens Gegenstand eines anderen, sozialwissenschaftlich geprägten akademischen Diskurses, welcher sich allerdings oft vornehmlich mit Methoden und Theorien befasst. Zwischen dem historisierend-textbezogenen und dem gegenwartsbezogen-sozialwissenschaftlichen Zugang zum Hinduismus besteht eine deutliche Dichotomie.

Sozioreligiöse Grundlagen

Der aus Publikationen greifbare Diskurs zur sogenannten Hindu-Bioethik hat seinen Ursprung außerhalb Südasiens, bedingt durch ähnliche Diskurse zu anderen religiösen Traditionen im ‚Westen‘; er ist gegenwärtig geprägt durch den historisierend-textbezogenen Zugang. In Südasien selbst besitzt er wenig Relevanz, was sich jedoch ändern kann. Medizinische Ethik als solche ist dort im Bereich ‚westlicher‘ und teilweise auch traditioneller Medizin zwar Teil der Lehre, ist jedoch deutlich unterrepräsentiert und bildet in der Regel den ‚westlichen‘ medizinethischen Diskurs ab, ohne Bezug auf einheimische Traditionen. Der öffentliche Diskurs, insofern er überhaupt stattfindet, folgt diesem Muster; das gilt auch für die – noch wenig beachtete – Bioethik allgemein.

Die Synthese traditioneller Quellen und empirischer Beobachtung ergibt indes ein Bild, das wahrscheinlich nicht für das Hinduismus genannte Konglomerat insgesamt, aber doch für große Teile davon zutreffen dürfte und als Grundlage für einschlägige Überlegungen dienen könnte. Ihm gemäß gibt es eine alles erhaltende und regelnde universelle Macht. Das Handeln – was auch Worte, Gedanken usw. mit einbezieht – ist nie von ihr unabhängig; somit weist das richtige Wissen um sie den Weg zu günstigen Resultaten. Doch sind letztere nicht für alle Wesen gleich; das richtige Handeln – oder auch Nichthandeln – kann für verschiedene Menschengruppen verschieden sein, und was die einen meiden sollten, kann anderen geboten sein. Das Handeln gemäß den jeweils vorgegebenen Regeln ist einer der Wege zum Erlangen von Erlösung aus dem Daseinskreislauf, der zu fortwährender Wiedergeburt führt.

Der Wert des Individuums basiert nicht nur auf dessen Existenz an sich, sondern auch auf seinem räumlichen und zeitlichen Eingebettetsein, somit auch seiner sozialen Verbundenheit, besonders in Bezug auf Abstammung, Verwandtschaft und Gemeinschaft. Diese bestimmen den Wert des Individuums oft sogar mehr als die eigenen Leistungen. Sie bestimmen auch seine Pflichten und Rechte, die somit nicht notwendigerweise allgemeingültig sind; auch Sanktionen und Strafen für gleiche Vergehen können deshalb verschieden sein. Es kann auch zu einer Priorisierung der einbettenden Entität (wie Familie, Sippe usw.) vor dem eingebetteten Individuum kommen, verbunden mit einer Unterordnung des letzteren und der höheren Wertung von Autorität über Individualität.

Verdienste und Verfehlungen sind nicht nur im Rahmen der Wiedergeburtslehre in verschiedenen Existenzen an das Individuum gebunden. Sie können auch übertragen werden vom Individuum zur einbettenden Entität wie der Familie, und umgekehrt. Somit sind nicht nur die Handlungen des Individuums an den Regeln der Entität auszurichten, sondern diese Entität hat umgekehrt auch die Pflicht, die Einhaltung dieser Regeln durch das Individuum einzufordern und gegebenenfalls das Individuum abzustoßen.

Der Körper

Der Körper ist holistisch in die Umwelt eingebettet. Diese wirkt sich auf verschiedene Weisen auf ihn aus, auch durch Sinneswahrnehmungen und Handlungen, die durchaus verunreinigend wirken können. Die Vermeidung von Verunreinigungen beinhaltet somit mehr als persönliche Hygiene und ist nicht nur wichtig, weil der Kontakt des Individuums mit der einbettenden Entität auch diese in Mitleidenschaft ziehen kann. Sie ist auch wichtig, weil einerseits der verunreinigungsfreie Körper die richtige Ausführung von Pflichten, einschließlich rituellen, gewährleistet, und andererseits die die Kontinuität der Entität wahrende Nachkommenschaft mit dem erzeugenden Körper verbunden ist. Somit ist der Körper auch in Kontexten bedeutsam, die gemäß moderner ‚westlicher‘ Terminologie als sozial oder religiös gelten würden.

Der Körper und das darin sich befindende Selbst sind eine holistische Einheit. Was dem einen widerfährt, wirkt sich auf den anderen aus; insofern sind Gesundheit und Krankheit auch von Faktoren abhängig, die den Geist beeinflussen. Umgekehrt haben Faktoren, die den Körper beeinflussen – auch in einer früheren Geburt – Auswirkungen auf das den Tod überdauernde Selbst. Beide sind zudem auch betroffen von dem, was in moderner ‚westlicher‘ Terminologie übernatürliche Einflüsse genannt würde. Dies alles ist auch medizinisch relevant. Was als traditionelle "Medizin" Südasiens bezeichnet wird, dient zwar nicht nur, aber – zumindest verschiedenen Ausprägungen gemäß – vornehmlich der Gewährleistung eines gesunden, optimalen Lebens und ist somit nicht nur kurativ, wie auch der Name der wohl bekanntesten Varietät zeigt: Ayurveda, "das Wissen von der Lebensspanne". "Medizin" kann somit holistisch alle Aspekte des Individuums und seines Lebens betreffen und sich auch mit dem individuellen Verhalten nicht nur aus "medizinischer" Perspektive befassen, sondern auch aus sogenannter sozialer und religiöser Sicht, im Einklang mit vorherrschenden Wertesystemen.

In einem solchen Kontext können Störungen des Wohlbefindens auch als aus moderner ‚westlicher‘ Sicht moralisch oder ethisch falschem Handeln entstanden gelten. Das kann zu Stigmatisierung und sogar zum Verstoßen von Individuen mit bestimmten Störungen führen – was auch heute noch tatsächlich geschieht, z. B. bei Lepra, AIDS usw. Das erscheint im Rahmen der traditionellen Prämissen als folgerichtig, weil das Individuum mit der es umfassenden Entität und auch Nachkommenschaft verbunden ist, womit eine persönliche Störung ein soziales Problem darstellen kann.

Störungen des Wohlbefindens können nicht nur Krankheiten gemäß heutiger ‚westlicher‘ Medizin sein; im Ayurveda gelten z. B. auch Hunger und Durst als diesen gleichwertig. Für die Klassifizierung einer Störung kann die soziale Relevanz wichtig sein; so kann Alkoholismus statt als zu kurierender Krankheitszustand als Bedrohung gewertet werden, vor der die Gemeinschaft zu schützen sei. Derartiges kann gravierende Folgen für das Individuum haben.

Im Einklang mit solchen Normen stehen Vorstellungen, die die Ursache von Störungen, die von der heutigen ‚westlichen‘ Medizin externen Ursachen zugeschrieben würden, durchaus in individuellen Verfehlungen – nicht notwendigerweise medizinischer Natur – sehen können. Dazu passt, dass Heiler traditionell oft denjenigen Heilung verweigern konnten, die soziale Regeln oder Glaubenssätze nicht befolgten, dem Herrscher feindlich gesinnt waren, und dergleichen. Das soziale Eingebundensein von Gesundheitsstörungen und deren Heilung wird hier offen dokumentiert. Sichtbar wird auch die postulierte Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt, etwa wenn Verfehlungen der Bevölkerung oder des Herrschers als die Ursache von Seuchen, Hungersnöten usw. gelten.

Entwicklung einer Bioethik

Auch wenn die obigen Ausführungen keinen Anspruch auf allgemeine alleinige Gültigkeit stellen können, geben sie doch weitverbreitete Vorstellungen wieder. Ob und wie diese sich jedoch in eine einschlägige Diskussion umsetzen, ist unklar, denn Bioethik ist bisher in der Allgemeinheit kaum thematisiert, sondern ist ein Thema eher für Fachkreise, Administratoren oder andere dominante Gruppen. Auf jeden Fall sollten aber etwaige Diskurse zur Bioethik in Südasien, die weder einfach die des ‚Westens‘ noch extern als vermeintlich einheimisch produziert sind, diesen Hintergrund beachten.

Hinzu kommt, dass prinzipielle und abstrakte einschlägige Diskussionen, wie sie im ‚Westen‘ vorherrschen, in Südasien weitgehend zu fehlen scheinen. Statt dessen überwiegt utilitaristisches Denken – wie auch im traditionellen Heilwissen. Das kann dazu führen, dass etwas, dessen negative Einschätzung man aus prinzipiellen Erwägungen erwartet hätte, positiv bewertet werden kann, wie z. B. bei der Transplantation fremder Organe, deren Nützlichkeit anscheinend Bedenken wegen eventueller Verunreinigung verdrängt. Tatsächlich zeigt der empirische Befund, dass biomedizinische und ‑technische Neuerungen in Südasien größtenteils positiv aufgenommen werden, auch in solchen Fällen, in denen im ‚Westen‘ aus grundsätzlichen Erwägungen eher eine negative Bewertung vorkommt.

Das ergibt ein Bild von Gegensätzen, in dem Utilitarismus mit vermeintlicher Tradition im Widerspruch stehen kann. Andererseits können sich beide auch vereinen, etwa im Falle des weiblichen Fetozids: Weibliche Nachkommen werden durch Heirat Teil einer anderen Familie, während männliche die Familienlinie fortführen, und zwar auch im Jenseits, da nur sie den Manen durch Opfer den Unterhalt im Jenseits zukommen lassen können. Somit sind etwaige wirtschaftliche Erwägungen im Einklang mit solchen, die man religiös bezeichnen könnte. Gerade an diesem Falle zeigt sich auch das soziale Eingebettetsein, das die das Individuum umschließende Entität über dieses stellen kann.

Die beschriebene, komplexe Situation stellt sicherlich eine Herausforderung für die Eliten des modernen Südasiens dar, die die öffentliche Diskussion und somit auch die zur Bioethik bestimmen, da die dominanten Modelle des Elitendiskurses seit der Kolonialzeit überwiegend nicht einheimisch sind. Diese Modelle haben größtenteils auch die Grundsätze der öffentlichen Ordnung bestimmt, auch wenn sie im Widerspruch zu den erläuterten Vorstellungen stehen mögen. Aber auch die von außen initiierte normative und größtenteils textbasierte Diskussion wird der tatsächlichen Komplexität nicht gerecht.

Ein Problem stellt zudem die etwaige Einbettung einer einschlägigen Diskussion in sogenannte internationale Diskurse dar. Postuliert man einfach die Relevanz und Übertragbarbeit gängiger Diskursparameter des ‚Westens‘, muss es zwangsläufig zu Verfälschungen kommen. Für einen internationalen Diskurs, der die gleiche weltweite Bezugsbasis postuliert, stellt das sicherlich ein Problem dar, insbesondere im Zusammenhang mit Vorstellungen zum Status und Wert des Individuums, auf dem der ‚westliche‘ Bioethikduskurs aufbaut.

Weiterführende Angaben befinden sich in folgender Publikation, die auch ausführliche bibliographische Hinweise enthält: Das, Rahul Peter: "Hinduism, Bioethics in”, in: Bruce Jennings (Hrsg.): Encyclopedia of Bioethics. 4. Auflage. Detroit: Macmillan Reference USA 2014, S. 1522-1529.

lehrt am Institut für Orientalistik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.