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Mensch-Tier-Beziehungen im Licht der Human-Animal Studies | Bioethik | bpb.de

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Mensch-Tier-Beziehungen im Licht der Human-Animal Studies

Gabriela Kompatscher

/ 7 Minuten zu lesen

Die Disziplin der Human-Animal Studies bietet sich an, Verhältnisse, Beziehungen und Interaktionen zwischen Menschen und anderen Tieren auf tiergerechte Art und Weise zu untersuchen.

Eine Aborigines-Familie mit Dingos, Northern Territory, Australien. (© picture-alliance, Arco Images GmbH)

Beziehungen zwischen Menschen und anderen Tieren in Geschichte und Gegenwart

Menschen und andere Tiere interagieren auf verschiedenste Weise und in den unterschiedlichsten Kontexten und Konstellationen miteinander: manchmal freiwillig (z.B. aus gegenseitiger Neugier), manchmal wird eine der beiden Seiten dazu gezwungen (z.B. im Bereich der Ausbeutung von Tieren durch den Menschen), manchmal direkt (z.B. durch Schlachten oder Streicheln von Tieren, oder umgekehrt, durch Angriffe von Tieren auf Menschen), manchmal indirekt und nur von einer Seite ausgehend (z.B. durch das Essen von Tierfleisch oder durch die Darstellung von Tieren in Literatur und Kunst). Im Bereich der Tiernutzung sind diese Begegnungen und Beziehungen häufig durch Gewalt geprägt, die zumeist vom Menschen ausgeht, wobei sich das Kräfteverhältnis wohl erst seit dem Beginn von Ackerbau und Tierzucht zugunsten des Menschen verschoben hat, also in Europa zwischen 7000 und 4000 v. Chr. (vgl. Nibert 2013: 9-42).

Nachhaltig wirkende Phänomene der "westlichen" Kultur wie griechische Philosophie (z.B. Aristoteles, +322 v. Chr.) und Christentum haben dieses Ungleichgewicht theoretisch fundiert, indem sie u.a. eine deutliche Grenze zwischen Menschen und anderen Tieren zogen. Diese als wahrscheinlich angenommene (präsumtive) Grenze erweist sich auch heute noch als ‚praktisch‘, um die Unterwerfung von Tieren zu rechtfertigen, obwohl Zoologie und Ethologie mit Vertretern wie Volker Sommer oder Marc Bekoff mittlerweile zeigen konnten, dass diese Grenze lediglich eine Setzung ohne beweisbare Gültigkeit ist (vgl. Kompatscher 2017, 31-48). Schon früh setzten sich manche Philosophen jedoch mit der Annahme kritisch auseinander, dass Tiere nur zur Nutzung durch den Menschen geschaffen worden seien: Plutarch (+ um 125 n. Chr.) etwa unterstreicht die Gemeinsamkeiten zwischen Menschen und Tieren und führt gesundheitliche, ästhetische und ethische Argumente für die Tierschonung, also für den Vegetarismus an. Und auch wenn der Großteil der erhaltenen Belege aus Antike, Mittelalter und Neuzeit – gemäß der vorherrschenden anthropozentrischen Haltung – asymmetrische Mensch-Tier-Beziehungen dokumentiert, gibt es dennoch auch zahlreiche Nachweise für freundschaftliche Beziehungen zwischen Menschen und Tieren.

Einige erstaunliche Beispiele aus unserem Kulturkreis für Sympathie mit Tieren, Interesse an Interaktionen mit ihnen, Tierliebe und Empathie finden sich bereits in frühen schriftlichen Quellen (vgl. Kompatscher 2010 und 2014): Es werden Gedichte auf Haustiere geschrieben und geliebte Tiere werden nach ihrem Tod betrauert; erhaltene Grabsteine, wie jener für ein Hündchen namens Myia aus dem 2. Jh. n. Chr., legen hierfür bis in die Neuzeit ein beredtes Zeugnis ab. In mittelalterlichen Legenden wird berichtet, wie Heilige Tiere in Not, also vor Hunger, Durst, Kälte, Jägern, Fischern und Schlachtern retten und sich am Zusammensein mit Tieren erfreuen (Godric, Franziskus u.v.m.). Epen und Romane aus dem Hochmittelalter beschreiben ebenfalls innige Beziehungen zwischen Tieren und Menschen, wie etwa jene zwischen einer Fürstentochter und einem zahmen Hirsch, dessen gewaltsamer Tod von der Fürstenfamilie beklagt und anschließend blutig gerächt wird (Heinrich von Veldeke, Eneasroman, V. 4585-4689).

Eine die verschiedenen Kulturen übergreifende Studie hat hingegen James Serpell (2003, 43ff.) durchgeführt. Für die untersuchten Kulturen und Ethnien in Geschichte und Gegenwart kann er Beispiele für einen liebevollen Umgang mit Tieren nennen: Chinesische Kaiser verschiedenster Dynastien umgeben sich mit Hunden und bieten ihnen – nach menschlichem Maßstab – jeden Komfort. Mit Shogun Tsunayoshi (17. Jh.) ist ein Fall von Animal Hoarding (Krankheitsbild, bei dem Menschen Tiere "horten") bekannt, aber immerhin soll er auch ein Hundeschutzgesetz erlassen haben. Verschiedene Gemeinschaften von Native Americans lebten mit Waschbären, Elchen und anderen Tieren zusammen, die sie liebevoll aufzogen und deren Nähe sie genossen. Über die Welt verstreut halten Menschen Tiere als Heimtiere, wie z.B. die Kalapalo in Brasilien Affen und Vögel, und behandeln sie, wie z.B. auch Aborigines ihre Dingos, wie Familienmitglieder; d.h. man lässt ihnen Zärtlichkeiten zuteilwerden, gibt ihnen einen Namen und empfindet ihren Tod als emotionalen Verlust.

Diese Belege und Beobachtungen führen zu dem Schluss, dass wir Menschen eine entsprechende Disposition für ein wohlwollendes Interesse an Tieren haben, wobei diese Veranlagung durch Erziehung und Gesellschaft geprägt wird (zum Konzept der Biophilie vgl. Otterstedt 2009, 182): So werden Insekten in bestimmten Kulturen als Nahrung betrachtet, rufen in anderen Ekel hervor und in wieder anderen werden sie als schützenswert betrachtet (aus religiösen Gründen z.B. im Jainismus, aus Artenschutzgründen z.B. in Mitteleuropa, und hier vielfach auch nur Sympathieträger wie Marienkäfer, Bienen oder Schmetterlinge – wobei die Sympathie hier wohl durch die Nützlichkeit dieser Tiere für den Menschen bedingt ist).

Human-Animal Studies

Im ersten Teil dieses Artikels sind u.a. direkt oder indirekt folgende Themen angesprochen worden:

  • Interaktionen und Beziehungen zwischen Menschen und Tieren in Geschichte und Gegenwart,

  • Machtverhältnisse in diesem Bereich,

  • die künstliche Grenze zwischen Menschen und anderen Tieren,

  • Ethik,

  • die Annahme, dass alles, auch die Tiere, für den Menschen existiere (Anthropozentrik),

  • die Wirkmacht von Tieren auf einzelne Menschen und auf unsere Gesellschaft generell (Agency),

  • der (changierende) Dualismus zwischen "essbaren" und "nicht essbaren" Tieren (dazu etwa Joy 2013),

  • die Diskriminierung von Lebewesen auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Spezies (Speziesismus),

  • die Kategorisierung von Tieren.

Damit sind einige essentielle Bereiche einer relativ neuen Disziplin genannt, die Mensch-Tier-Verhältnisse untersucht: die Human-Animal Studies (HAS). Mensch-Tier-Beziehungen sind für die Wissenschaft schon lange von Interesse. Hat man früher jedoch Tiere dabei wie Objekte studiert und dadurch versucht, für den Menschen nützliche Erkenntnisse zu gewinnen, sind die Voraussetzungen für HAS nun ganz andere.

Seit ihrem Entstehen in den 1980er Jahren im angloamerikanischen Raum und ihrer Verbreitung in Europa seit dem Beginn des 21. Jhs. sind die HAS unter verschiedenen Bezeichnungen (Animal Studies, Anthro(po)zoologie, Zooanthropologie, Animals and Society Studies etc.) und Ausrichtungen (rein deskriptiv oder politisch [wie die Critical Animal Studies] ) bekannt. Es herrscht sogar eine unterschiedliche Vorstellung darüber, ob es sich dabei nun um eine eigene Disziplin oder einfach um eine neue Herangehensweise an das Mensch-Tier-Thema handle. Eine ausführliche Darstellung der HAS in allen ihren Facetten ist auf Grund des knapp bemessenen Platzes nicht möglich; stattdessen soll hier der Versuch unternommen werden, das Neuartige an den HAS, wie es etwa dem Verständnis der "Innsbrucker Schule" entspricht, darzulegen (vgl. Kompatscher et al. 2017 sowie Shapiro 2008, Chimaira 2011 und DeMello 2012): Die Herangehensweise an das jeweilige Thema soll auf angemessene und tiergerechte Weise erfolgen, d.h. Tiere werden nicht mehr als Objekte, sondern als Subjekte mit Wirkungs- und Handlungsmacht (Agency; vgl. z.B. Wirth 2015) und als Individuen mit eigenen Erfahrungen, Emotionen, Erwartungen etc. wahrgenommen. Dabei versucht der menschliche Part, jeglichen Speziesismus zu vermeiden, seine rein anthropozentrische Sichtweise möglichst zu überwinden und die Perspektive der Tiere sowie deren Bedürfnisse und Interessen miteinzubeziehen. Willkürliche kulturelle Konstruktionen wie die Einteilung von Tieren in Kategorien ("Schlachttiere", "Versuchstiere", "Haustiere" etc.) oder die Mensch-Tier-Grenze werden kritisch beleuchtet und, wenn möglich bzw. nötig, aufgelöst. Ein spezielles Feature verschiedener HAS-Forschungsorganisationen, wie etwa auch der "Innsbrucker Schule", ist die Einbeziehung ethischer Überlegungen und die Öffnung zur Gesellschaft, um auf diese Weise zu einer Verbesserung von Mensch-Tier-Verhältnissen und prekärer Lebenssituationen von Tieren beizutragen.

Die interdisziplinäre Ausrichtung der HAS unterstützt dieses Unterfangen: Die Psychologie etwa kann die Mechanismen des Fleischkonsums, die Soziologie jene verschiedenster Ausbeutungsformen analysieren, die Zoologie und Verhaltensforschung zur Dekonstruktion etwa der Mensch-Tier-Grenze, die Linguistik zu tiergerechtem Sprachgebrauch und die Architektur zu tiergerechter Städteplanung beitragen, die Philosophie eine neue Ethik, die auch Tiere miteinbezieht, entwickeln und etablieren, die Erziehungswissenschaft im Bereich der Humane Education Kinder und Erwachsene für die Bedürfnisse von Tieren sensibilisieren usw. (zu einer Darstellung, wie die verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen mit HAS verknüpft werden können, siehe Spannring 2015).

Da die deutschen und österreichischen Lehrpläne für die verschiedensten Fächer einigen Spielraum zugestehen, können Human-Animal Studies auch Eingang in den Schulunterricht finden. Nicht nur in den Fächern Ethik, Gemeinschaftskunde, Gesellschaftslehre, Religion, Biologie, Philosophie, Wirtschafts- und Sozialkunde etc., sondern sogar im Literaturunterricht, für den bereits einige Konzepte erarbeitet wurden (siehe Schröder/Hayer 2016), können Schüler und Schülerinnen die notwendigen Kompetenzen (etwa Empathie) erwerben und weiterentwickeln, um künftig Diskriminierung und Gewalt entgegenzuwirken und sich für soziale Gerechtigkeit auch im Bereich der Mensch-Tier-Verhältnisse einzusetzen (vgl. Kompatscher 2016, 2018).

Literatur

Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.), Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen, Bielefeld 2011.

DeMello, M., Animals and Society. An Introduction to Human-Animal Studies, New York 2012.

Ferrari, A. / Petrus, K. (Hg.), Lexikon der Mensch-Tier-Beziehunge, Bielefeld 2015.

Joy, M., Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen: Karnismus - eine Einführung, Münster 2013.

Kompatscher, G. / Classen, A. / Dinzelbacher, P., Tiere als Freunde im Mittelalter. Eine Anthologie, Badenweiler 2010.

Kompatscher, G. / Römer, F. / Schreiner, S., Partner, Freunde und Gefährten. Mensch-Tier-Beziehungen der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit in lateinischen Texten, Wien 2014.

Kompatscher, G., ‘Wir knieten um dich, alle im Rund, / Und keiner dachte: da stirbt nur ein Hund‘ – (F. Avenarius) – Literarische companion animals des 19. Jahrhunderts als Subjekte tiersensibler Didaktik. In: K. Schröder / B. Hayer (Hg.), Didaktik des Animalen. Vorschläge für einen tierethisch gestützten Literaturunterricht (Kola 18), Trier 2016, 17-28.

Kompatscher, G. / Spannring, R. / Schachinger, K., Human-Animal Studies. Eine Einführung für Studierende und Lehrende, Münster / New York 2017.

Kompatscher, G., Ethical Literary Animal Studies im Lateinunterricht (im Erscheinen).

Nibert, D., Animal Oppression and Human Violence. Domesecration, Capitalism, and Global Conflict, New York 2013.

Otterstedt, C. / Rosenberger, M. (Hg.), Gefährten – Konkurrenten – Verwandte. Die Mensch-Tier-Beziehung im wissenschaftlichen Denken, Göttingen 2009.

Pfau-Effinger, B. / Buschka, S. (Hg.), Gesellschaft und Tiere. Soziologische Analysen zu einem ambivalenten Verhältnis, Wiesbaden 2013.

Schröder, K. / Hayer, B. (Hg.), Didaktik des Animalen. Vorschläge für einen tierethisch gestützten Literaturunterricht (Kola 18), Trier 2016.

Serpell, J., In the Company of Animals. A Study of Human-Animal Relationships, New York 2003.

Shapiro, K., Human-Animal Studies. Growing the Field, Applying the Field, Ann Arbor 2008.

Spannring, R. / Schachinger, K. / Kompatscher, G. / Boucabeille, A., Einleitung. Disziplinierte Tiere? In: Dies. (Hg.): Disziplinierte Tiere? Perspektiven der Human-Animal Studies für die wissenschaftlichen Disziplinen, Bielefeld 2015.

Wirth, S. [u.a.], Das Handeln der Tiere. Tierliche Agency im Fokus der Human-Animal Studies, Bielefeld 2015.

Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Gabriela Kompatscher ist außerordentliche Professorin für Lateinische Philologie an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Ihre Schwerpunkte liegen auf Mittellateinischer Sprache und Literatur und dem inter- und transdisziplinären Bereich der Human-Animal Studies.