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Tiernutzung - Das Modar | Bioethik | bpb.de

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Tiernutzung - Das Modar

Werner Moskopp

/ 12 Minuten zu lesen

Wie können moralische Phänomene ausfindig gemacht werden? Wie bestimmt man ihre Zusammenhänge? Hilfe bietet das "Modar" (moral detecting and ranging).

Ein Medienschaffender filmt Kühe. (© picture-alliance, KEYSTONE)

Wir kennen aus den bioethischen Beiträgen hier im Dossier einige Interner Link: ethische Positionen, die durchaus für die Einordnung der moralischen Standpunkte von Personen zu Grunde gelegt werden könnten. Denkt jemand nur an das Glück von Werner Moskopp, so ist diese Position bisher noch nicht vorgesehen. Aber jemand, der nur an sich und seine Vorteile denkt, wird normalerweise zum Egoismus gezählt. Spricht man allen Menschen einen eigenen moralischen Wert (Würde) zu und richtet alle anderen Naturphänomene und Wertzuschreibungen ausschließlich auf den Nutzen für die Menschheit aus, so lautet die Position: Anthropozentrik. Wenn alle empfindungsfähigen Lebewesen einbezogen werden, spricht man von der Ausgangsposition der Pathozentrik und wenn sämtliche Lebewesen berücksichtigt werden von der Biozentrik. Es ist darüber hinaus noch möglich, die Natur als Ganze als moralisch wertvoll zu erachten und dabei die Kontexte und Verhältnisse etwa der Landschaften, der Ökosysteme, der Einbettung der Tiere in ihre Umgebung usw. mit zu beachten.

Das Zwiebelschalenmodell

Die Menge der zu berücksichtigenden "Entitäten" (eine Entität ist ein "Seiendes" – ich möchte hier nicht von Dingen oder Aspekten sprechen und gehe daher ins Abstrakte) der genannten Positionen wird also vom Ego zum Ganzen hin immer weiter. Ich halte diese Darstellung für sehr gut geeignet, um die Positionen zu sortieren und um gleichzeitig Übergriffe von der einen Position in die andere nachvollziehen zu können (bspw. Rassismus als Einschränkung des Anthropozentrismus oder Speziesismus als Verengung des Pathozentrismus). Das damit erneut angesprochene "Zwiebelschalenmodell" sammelt also die Positionen der Ethik in Bezug auf die Reichweite ihrer Bezugsobjekte.

Abb. 1: Das sog. Zwiebelschalenmodell – hier allerdings in einer eigenen grafischen Aufbereitung und erweitert um die "je eigene" Perspektive, den Egozentrismus. Interner Link: (Grafik zum Download) Vgl. Dierks (2016, S. 12 und 14) und Gorke (2010, S. 23), außerdem die Beiträge von Krebs, Ott und Gorke in diesem Dossier.

(bpb, Werner Moskopp) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Das Modar

Diesem Modell fügen wir nun – entsprechend den obigen Ausführungen – eine zusätzliche Dimension hinzu, die gleichzeitig die Verbindlichkeit begründet und die bei diesem gemeinschaftlichen System (Inklusionssystem) der Bewertungssphären auch je "meine eigene Sichtweise" sowie die Rückwirkungen der Wertzuschreibungen auf die Person im Zentrum – also wieder: auf mich – berücksichtigt. Auf diese Weise ist es möglich, die eigene Persönlichkeit in die unterschiedlichen Ebenen hineinzunehmen: Das dargestellte "Modar" simuliert also die Relationen der Verbindlichkeit aus "je meiner Perspektive" in die unterschiedlichen Kreise hinein; ein echtes Handwerkszeug für "moral detection and ranging".

Abb. 2: Das Modar, ausgehend vom oben abgebildeten "Zwiebelschalenmodell": Die zusätzliche Tiefendimension soll andeuten, dass "ich selbst" immer mit an den Bewertungen und Klassifizierungen beteiligt bin. Aus Sicht des Landwirtes (=des Anderen) sieht die Verbindung anders aus. Interner Link: Hier finden Sie die Grafik als PDF. Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Das Modar ist, wie gesagt, lediglich eine Simulation und damit ein Instrument, um die Vorgänge im moralischen Bewerten und Beurteilen zu veranschaulichen. Wie jedes Modell gibt es Schwachstellen. Wir sollten das Modar nicht als Begründung dafür heranziehen, dass wir plötzlich alles ganz genau unter die Lupe nehmen wollen oder damit anfangen, alle Verhaltensweisen unserer Mitmenschen extrem zu "moralisieren". Auch im Alltag hat sich ja ein gängiges Moralverständnis etabliert und zwar durch die Erziehung und auch durch die gesellschaftliche Entwicklung über Jahrhunderte hinweg. Die impliziten "Volksweisheiten", die oft auch "Sittlichkeit" genannt werden – nehmen wir als Beispiel nah am Moralischen die Benimm- und Höflichkeitsregeln – funktionieren im Alltag für die meisten Menschen ,eigentlich ganz gut‘ und müssen nicht komplett revidiert werden – was aber auf der anderen Seite auch nicht heißt, dass sie schon perfekt sind und nicht hinterfragt werden können.

Unser Menschenbild hat eine individuelle und soziale Tradition

Gerade in Bezug auf unsere eigene "Unvollkommenheit" in moralischen Verhältnissen lassen sich außerdem bedeutende Rückschlüsse auf unser Menschenbild und unsere "Haltung" ziehen. Dieses Menschenbild hat eine eigene individuelle und auch eine soziale, eine ontogenetische und phylogenetische Tradition, die direkt mit der Geschichte der Kultur, der Philosophie und auch der Religionen zusammenhängt. Jedes Menschenbild baut dabei auf einem Ordnungssystem auf, das Lebewesen unterteilt nach der besonderen Ausgestaltung ihres Lebendigseins. Nach dieser nicht ganz unplausiblen Vorstellung kann jedes Lebewesen nur diejenigen Fähigkeiten ausarbeiten, die ihm von Geburt an und "dem Wesen nach" mitgegeben sind, und es erreicht seine "Tüchtigkeit" (Tugend) als ein solches Lebewesen durch die Vervollkommnung dieser spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Auch Menschen haben also demnach besondere Fähigkeiten, deren Kultivierung dazu beiträgt, als Mensch besonders angemessen zu leben: Wir nennen hierbei meist die Vernunft, Verstand, Selbstbewusstsein, Wille, Mitgefühl usw. Es ist fraglich, ob alle Menschen und ob keine Tiere diese Kriterien erfüllen. Dies gilt es im Schwerpunkt "Tiernutzung" ausgiebig zu diskutieren.

"Unsere" Ordnung ist nicht zwingend die der Anderen

Diese Ordnung wird aber nicht von allen kulturellen Gemeinschaften auf der Welt geteilt und das sollte uns vielleicht stutzig machen sowie unsere Sichtweise gleichsam skeptisch oder kritisch (im Sinne von: prüfend) reflektieren lassen. Um dies zu leisten, kann man wie der Philosoph Michel Foucault auf die Zusammenhänge dieser Ordnungssysteme schauen oder auch wie die Ethnologie, hier am Beispiel von Philippe Descola, auf andere Möglichkeiten blicken (so gut dies eben mit unserer je eigenen sozialisierten Brille geht).

"Die Vielfalt der klassifikatorischen Indizien, die die Amerindianer verwenden, um den Beziehungen zwischen den Organismen Rechnung zu tragen, weist zur Genüge auf die Plastizität der Grenzen in der Taxonomie des Lebenden hin. Denn die Merkmale, die den den Kosmos bevölkernden Entitäten zuerkannt werden, hängen weniger von der vorherigen Definition ihres Wesens ab als von den relationalen Positionen, die sie aufgrund der Anforderungen ihres Stoffwechsels, insbesondere ihrer Ernährungsweise, zueinander einnehmen. Die Identität der Menschen, der lebenden wie der toten, der Pflanzen, der Tiere und der Geister ist ganz und gar eine relationale und damit, je nach dem eingenommenen Standpunkt, Mutationen oder Metamorphosen unterworfen. Denn in vielen Fällen heißt es, daß ein Individuum der einen Art die Mitglieder der anderen Arten entsprechend seinen eigenen Kriterien wahrnimmt, so daß ein Jäger unter normalen Bedingungen nicht sehen wird, daß seine tierische Beute sich selbst als Mensch sieht, auch nicht, daß sie ihn als Jaguar sieht." (Descola 2005, S. 31)
In der Philosophiegeschichte und auch in vielen Erzählungen über die Kulturgrenzen hinweg findet man eine Vielfalt an sog. Tugenden, durch die einige Vorbilder ("Exemplarist Moral Theory") der Menschheitsgeschichte besonders glänzen. Auch diese Vorbilder, ob Helden oder Göttinnen, sind aber nicht vollkommen und das sollte uns ein wenig beruhigen. Wir schauen daher selbst, was wir an Fähigkeiten besitzen und welche Fertigkeiten wir besonders kultivieren möchten. Immerhin müssen wir mit uns und unserer Persönlichkeit ein Leben lang auskommen. Manche Philosophen haben besonders viel Wert auf die Gestaltung besonderer Charaktereigenschaften gelegt und auch in jüngster Zeit gab es viele Philosophinnen, die wieder von den abstrakteren Normen und Werttheorien in der Ethik abgerückt sind, weil sie die Tugenden im Umgang des Menschen mit seiner Umwelt und die Erzählungen, die man über sich selbst und über andere zur Hand hat, für besonders wichtig hielten. Aus der Kombination all dieser Aspekte des Menschenbildes und der ethischen Theorien setzt sich das Modar letztlich zusammen.

Auf diese vergleichende Weise hin wird uns deutlich, dass es sich auch bei unseren "westlichen" Selbstbeschreibungen um Erzählungen (Narrative) mit eigenen Hintergründen und Wertvorstellungen handelt. Der Gültigkeitsanspruch unserer Ethiken wird damit ebenfalls in eine neue Relation gestellt und die typischen Wertmuster wie Gut und Böse, Egoismus und Altruismus usw. erfahren eine ähnliche Relativierung. Es war mir wichtig, diese Relativierungsmöglichkeiten zu erwähnen, bevor wir nun weiter auf die Anwendung des Modars eingehen. Wir können das Modar also zunächst einmal dazu nutzen, um unsere eigenen Einstellungen und Überzeugungen zu reflektieren. Daraus entsteht jedoch, wie wir jetzt gesehen haben, kein Anspruch darauf, das Besserwerden bei uns oder bei anderen zu übertreiben! Ethik setzt schließlich insgesamt auf Augenmaß sowie "Meliorismus" (Verbesserung") oder stetige Perfektionierungen und – wenn ich dies aus eigener Überzeugung hinzufügen darf – so gut es eben geht: auf Güte.

Die Strukturen des Modars

Schauen wir nach diesem kurzen Umweg gezielt auf die Strukturen des Modars. Sie bilden Folgendes ab: Die Perspektive auf die (moralisch) wertvollen Gegenstände, Sachverhalte und Lebewesen geht letztlich immer aus meinem eigenen Dasein hervor. Konkrete moralische Urteile sind also immer perspektivisch; deshalb sind sie aber noch lange nicht beliebig, wie wir gleich sehen werden. Formulieren wir einmal provozierend: Jedes moralische Urteil ist egozentrisch. Ist das schlecht? Doch nur, wenn die Reichweite an diesem Punkt stehen bliebe. Jede physiozentrische Position in diesem Inklusionssystem des Modars ist folglich im Kern egozentrisch, weil sie von mir ausgeht, aber sie richtet sich (weil "ich" das möchte) auch auf Menschen, Tiere, Pilze, Pflanzen, Lebewesen, Ökosysteme, Landschaften etc. Es gibt selbstverständlich auch die eingeschränkte Variante der oben genannten Egoisten, die vor allem auf sich selbst schauen.

Aber es entstehen doch immer auch perspektivische Wertzuschreibungen, bei denen niemand mehr sinnvoll behaupten könnte, diese weiteren Sphären wären wertlos oder moralisch irrelevant. Die Wechselwirkungen mit anderen Lebewesen und mit der Natur, dem Klima, den Meeren bleibt auf uns nun einmal nicht folgenlos. Daher müssen wir diese "Relationen" mit einbeziehen und uns selbst im Gefüge dieser Relationen verstehen. Die Gründe für (m)ein moralisches Auftreten können dabei ganz unterschiedliche sein: Will ich als Wohltäter in der Öffentlichkeit stehen, spende ich gerne sehr große Anteile meines Vermögens. Ist das wegen des egoistischen Inhalts schlecht? Wäre es besser, wenn jemand ihre/seine Eitelkeit in der Weltöffentlichkeit auch noch beiseitelassen würde? Vielleicht schon. Aber wir sehen: Variationen im egoistischen Bereich haben nur bedingte Auswirkungen auf die Folgen meiner Handlung: den Kindern, die vor Hunger oder Krankheiten bewahrt werden, ist es wahrscheinlich ziemlich egal, ob jemand für seine Spende gefeiert wird. Für die Person wiederum haben Erfolg und Ruhm Rückwirkungen: Fühlt sie sich gut, macht sie wie gehabt weiter. Spürt sie Undankbarkeit oder wird ihr Leumund beschädigt, versucht sie, anders zu handeln. Daher sehen wir, dass die Persönlichkeitsgestaltung auch immer mit betroffen ist von der Einstellung, den Handlungen, den Folgen, den Rückmeldungen in einem steten sozialen und natürlichen Wirkzusammenhang.

Ein Kontinuum von Hinsichten hilft uns schließlich darin, zu verstehen, dass alle Aspekte der Moralphilosophie irgendwie aus den Prozessen der alltäglichen Lebenswirklichkeit heraus gewonnen und auf (abstrakte) Bezeichnungen gebracht wurden. Und auch diese Theorie – genau wie dieser Artikel und unser gemeinsames Überlegen – haben ihre Auswirkungen auf Personen, die damit in Berührung kommen (wir hoffen, es sind die besten Auswirkungen, aber das kann man nie wissen). Diese komplexe, ja fundamentalkomplexe Konstellation der ethischen Überlegungen lässt sich nur sehr schwierig berücksichtigen, wenn wir unsere wertenden Urteile gestalten. Wir sind aber durch unsere Gewohnheiten und Gepflogenheiten doch schon sehr gut darauf vorbereitet, innerhalb dieser Konstellationen zu agieren, solange sie nicht jeweils auf ihre Einzelteile hin analysiert werden müssen. Auch dies will ich anhand einiger Überlegungen andeuten, die das Modar zwar wiederum als verknapptes Modell zeigen, jedoch auch seine Vorteile für diese Simulation deutlich machen.

Dazu seien an dieser Stelle eine Reihe von Annahmen formuliert, die sich in direkter Anbindung zu alltagsnahen und auch zu wissenschaftlichen, insbesondere biologischen Voraussetzungen befinden:

  • Alle Lebewesen müssen irgendwann einmal sterben.

  • Dies ist ein Lebewesen, für das ein gutes Leben in einer begrenzten Lebenszeit wünschenswert wäre.

  • Ein gutes Leben kann sich durch unterschiedliche Kriterien auszeichnen: ein Leben voller Freude und ohne Leiden; ein erfülltes Leben mit allen vorstellbaren Höhen und Tiefen; ein Leben in bestmöglicher Entfaltung seiner Anlagen etc.

  • Niemand kann von einem solchen Lebewesen verlangen, über seine eigenen Interessen hinaus auch die gesamte übrige Welt in einen solchen bestmöglichen Zustand zu versetzen, und selbst wenn man dies anstreben wollte, so wäre diesem Wesen doch in vielerlei Hinsicht die Hände (oder Pfoten) gebunden.

Sollte man es trotzdem versuchen und wie weit sollte dieser Versuch gehen, ohne dass man sich selbst überfordert im Hinblick auf die eigenen Interessen? Wie geht man am besten vor? Ein Beispiel: Alle sollten ihre Interessen und Bedürfnisse ein wenig einschränken, damit Fleischverzehr möglich bleibt, aber unter ,humaneren‘ Bedingungen. Würde hier der Zusatz "Alle außer mir sollten sich einschränken..." funktionieren? Ich denke, dass diese maximal egoistische Einstellung nur so lange Befürworter findet, wie auch das ,außer mir‘ sich je auf die sprechende Person zurückbezieht. Alle sollten sich einschränken außer Werner Moskopp, wäre natürlich mein moralischer Favorit, aber da gehen die wenigsten Menschen mit. Probleme sehe ich ergänzend darin, wenn andere Menschen mir vorschreiben wollen, welche Bedürfnisse, Interessen oder Wünsche welchen Wert haben sollten. Da möchte ich gerne noch ein wenig mitentscheiden und berufe mich auf die gemeinsame Basis für moralische Urteile: die Freiheit. Es würde die Freiheit ja gerade aufheben, wenn uns jemand vorschreiben würde: "Du bist frei darin, meine neue Frisur gut zu finden." (in dem Sinne von: "wenn nicht, gibt´s Ärger!") Das Modar zielt vor diesem Hintergrund darauf ab, die üblichen Dichotomien und Dualismen der Moralphilosophie zugunsten von Kontinuitäten und fließenden Übergängen neu zu modellieren.

Ein weiteres Problem besteht selbstverständlich in der Frage, wodurch das Ego des Egozentrikers die Moral in der Absicht anderer Personen erkennen und diese sogar modellieren kann. Im Alltag beobachten wir die Handlungsweisen der Anderen und schätzen deren Charakter meist mehr oder weniger gut ein (manchmal merken wir erst sehr spät, dass wir uns in jemandem getäuscht hatten), indem wir von den Handlungen der Anderen (plus Mimik, Gestik, Artikulationen etc.) auf deren Einstellungen schließen. Alltagspsychologisch gesehen haben wir also im Normalfall gar keine Probleme mit den Fremdeinschätzungen, weil wir davon ausgehen, dass die Anderen auch so sind wie wir und ihr eigenes Modar nutzen. Aus den Überschneidungen in den Wertvorstellungen der vielen Modar-Systeme finden wir einen zusätzlichen Aspekt der Ethik, der bisher aufgrund der Perspektivität der Moralvorstellungen und ethischen Positionen noch ein wenig zu kurz gekommen ist und der auch das Modar mit weiterer Plausibilität versieht. Auch wenn also die Ausgangsbasis von Werten und Normen subjektiv an das Ich der jeweiligen Personen angebunden ist, darf doch die Gemeinschaft mit anderen nie vergessen werden und dazu zählen auch besonders die nichtmenschlichen Tiere. Der kurze Umweg von oben (mit Foucault und Descola als Beispielen) macht sich also doppelt bezahlt, denn wir haben einmal das starre westliche Moralverständnis kulturell relativiert und können nun diese sozialen Verbände zusätzlich nutzen, um Gemeinsamkeiten zwischen den Individuen hervorzuheben. (Anmerkung: Mögliche Ansätze aus der Philosophie wären dazu die Anerkennungstheorie von Axel Honneth, die etwa im Interner Link: Artikel von Frau Kunstmann im Corona-Schwerpunkt vorgestellt wird, oder die Resonanztheorie von Hartmut Rosa, ausgewählte Konzepte der Solidarität, des Respekts, der Toleranz u. v. m.)

Die Loyalität ergänzt die gängigen Konzepte der Ethik

Für die aktuellen Bewegungen des Tierschutzes und der Klima-Proteste möchte ich für die Analyse der moralischen Zusammenhänge vorschlagen, neben den gängigen Konzepten der Ethik auch einen weiteren Beschreibungsansatz zu berücksichtigen: Loyalität. In diesem Vorschlag wählen Menschen ihre Zwecke selbst aus und verschreiben sich ihnen, verhalten sich zu ihnen in Hingabe, manchmal in Selbstaufgabe. Unter den Aspekten der übrigen Ethiken sieht dies manchmal – ganz wie oben angedeutet – aus wie eine Show für die Öffentlichkeit, die eigene Bekanntheit oder den eigenen Ruhm.

Aber wann ist ein solcher Zweck denn gut? Kann das Modar uns bei dieser Frage weiterhelfen? Klar ist, dass das gemeinsame Ziel vom Einzelnen freiwillig und wohlinformiert gewählt werden muss, wobei sich die Informationslage selbstverständlich manchmal ändern kann und damit die Zuneigung zu den jeweiligen Zielen verändert.

In solchen Konstellationen werden soziale Tugenden konstituiert/gestaltet, die in Stetigkeit, konsequentem Handeln und vor allem in Authentizität bestehen. Sind diese Ziele zu wenig reflektiert oder zu abstrakt, ist dieses Phänomen der Loyalität aber äußerst gefährlich für liberale Gesellschaftsmodelle und Verfassungen, weil diese Ziele eben bis zur Selbstaufgabe in totalitären System führen könnten. Loyalitätsphänomene können rigorose Auswirkungen haben, wenn Bildung und Mäßigung als Voraussetzungen für die Kultivierung des Charakters der Individuen fehlen. Auf der anderen Seite ist diese Loyalität jedoch keine Erfindung der Ethik, sondern sie dient der Beschreibung eines menschlichen Charakterzuges, den wir in der Menschheitsgeschichte in vielfältigen Versionen, guten und schlechten, nachvollziehen können. Im positiven Sinne steht Loyalität als Symbol für ein Gemeinschaftsgefühl und für das Streben nach besseren Lebensbedingungen der gesamten belebten Natur.

Im Modar wäre diese Verbindung beispielsweise in Form einer "Triangulation" darstellbar, durch die wir die Vielfalt der individuellen Perspektiven (je aus meiner Sicht heraus) auf gemeinschaftliche Ziel und Wertvorstellungen hin ausdehnen können. Hier ist jedes Lebewesen mit einem eigenen Werteschwerpunkt in je mein Modar eingelassen. Wir haben bis zu diesem Punkt also das Modar kennengelernt und halten am Ende folgende Hinweise fest:

  1. Moral ist an meine Perspektive gebunden.

  2. Moral bezeichnet eine Verbindlichkeit, die ich zwischen meiner Perspektive und der Perspektive anderer akzeptieren muss.

  3. Die Perspektivität bezeichnet man als Egozentrismus, aber dies ist der Ausgangspunkt der moralischen Urteile und nicht deren Endpunkt.

  4. Die weiteren Sphären der Oberfläche des Modars (= des Zwiebelschalenmodells) beinhalten immer auch die engeren Sphären und dehnen deren Wirkkreis weiter aus.

  5. Da die Werte und Normen innerhalb der Moral auftreten, ist unser Blick auf die Positionen im Modar selbst nicht mehr moralisch zu bewerten. Meine Positionierung wird als eine Beschreibung zu verstehen sein, die "je ich" dann mit meinem Selbstbild abgleichen kann.

  6. Seien wir nicht zu streng mit uns und den Anderen!

Literatur

Dierks, J., Ott, K. & Voget-Kleschin, L. (2016). Handbuch Umweltethik. Stuttgart: Metzler Verlag.

Gorke, M. (2010). Eigenwert der Natur. Ethische Begründung und Konsequenzen. Stuttgart: S. Hirzel Verlag.“

Trinkaus Zagzebski, Linda (2019). Exemplarist Moral Theory. New York: Oxford University Press.

PD Dr. Werner Moskopp, geb. 1977, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar Philosophie an der Universität Koblenz-Landau. Für seine Promotion zum Thema "Struktur und Dynamik in Kants Kritiken" wurde er 2008 mit dem Hochschulpreis der Universität Koblenz ausgezeichnet. Forschungsschwerpunkte: Ethik, Kant und der Deutsche Idealismus, Nietzsche, Heidegger.