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Multikulturelle Gesellschaften | Afrika | bpb.de

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Multikulturelle Gesellschaften

Jacob Emmanuel Mabe

/ 4 Minuten zu lesen

Im europäischen Kontext wird Multikulturalität vor allem mit Migration in Verbindung gebracht. Per Definition gelten als multikulturelle Gesellschaften Nationalstaaten mit einem aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen bestehenden Staatsvolk.

Tuareg zieht durch die Wüste (© Mathieu Dervin)

Einleitung

Im europäischen Kontext wird Multikulturalität vor allem mit Migration in Verbindung gebracht. Per Definition gelten als multikulturelle Gesellschaften Nationalstaaten mit einem aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen bestehenden Staatsvolk, dessen Identität durch eine einheitliche Sprache sowie durch homogene Kulturen und Traditionen gekennzeichnet ist. Dem Staatsvolk werden Menschen unterschiedlicher Herkunft oder Hautfarbe, mit anderen Denk- und Lebensstilen oder Einstellungen zu bestimmten ethischen und moralischen Werten gegenübergestellt, die als Migranten oder Ausländer kategorisiert werden.

Allgemein stellen die zugewanderten Menschen stets eine kulturelle, ökonomische und politische Herausforderung für ihr Gastland dar, welches sich aus humanitären Gründen verpflichtet fühlt, den Migranten die Integration in ihre neue Gesellschaft zu erleichtern. Die Ausländer ihrerseits kommen mit der Erwartung, Toleranz, Respekt und Verständnis für ihre Lebensweisen und mitgebrachten Gebräuche bei den Einheimischen zu finden. Doch aufgrund der zunehmenden sozialen Probleme, oft auch durch eine hohe Arbeitslosigkeit bedingt, kommt es insbesondere in Großstädten nicht selten zur Herausbildung von so genannten parallelen Gesellschaften, die viele Staaten heute weitgehend überfordern.

In Afrika stellt sich die Situation anders dar. Zwar weisen die afrikanischen Staaten multikulturelle Verhältnisse auf. Doch der afrikanische Multikulturalismus ist nicht aus der exogenen Migration, sondern überwiegend aus einer endogenen ethnischen Zusammensetzung entstanden.

Im Gegensatz zu den ehemaligen Vielvölkerstaaten Osteuropas, zum Beispiel Jugoslawien und der Sowjetunion, die aus verschiedenen Nationalstaaten hervorgingen, sind die gegenwärtigen Staaten Afrikas mit der Ausnahme Äthiopiens künstliche, auf die Teilung des Kontinents durch die europäischen Kolonialmächte zurückgehende Staatsgebilde, die aus einer Pluralität von Völkern mit jeweils eigenen Sprachen bestehen. Ohne Berücksichtigung dieser historischen Gegebenheit lässt sich das Begriffspaar multikulturelle Gesellschaft, wie man es in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen gebraucht, nicht auf Afrika anwenden.

Afrikanische Gesellschaftsstrukturen

Afrikas Vielvölkerstaaten gehen zwar auf die koloniale Staatenbildung nach dem Modell eines europäischen Einheitsstaates zurück. Gleichzeitig nutzten die Europäer aber die Vielfalt an Völkern und Kulturen als Machtmittel, um ihre Herrschaft in Afrika zu festigen. Statt das Gefühl der Zusammengehörigkeit auf nationaler Ebene zu fördern, errichteten die Kolonialmächte Herrschaftsstrukturen, welche die kulturellen Divergenzen und Differenzen zwischen den Völkern stimulierten.

Diese Strukturen haben ethnische Bindungen verstärkt, die auch nach der Unabhängigkeit von den einheimischen politischen Eliten zum Zweck der Machtergreifung und des Machterhalts instrumentalisiert und missbraucht worden sind. Leider werden in den Ländern Afrikas bislang kaum konsequente politische Maßnahmen ergriffen, die auf die Realisierung eines nationalen Bewusstseins bauen oder auf die Förderung der gegenseitigen Toleranz und eines Klimas der Öffnung und Verständigung zwischen den Menschen aus den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen setzen.

Identitätsstiftende Erfahrungen sind notwendig, um allen ethnischen Gruppen zu einem stärkeren Zusammenhalt zu verhelfen. (© Luc Sesselle, SXC.hu)

Den relativ jungen Nationalstaaten Afrikas fehlen bisher identitätsstiftende Erfahrungen, die allen ethnischen Gruppen gemeinsam wären und ihnen zu einem stärkeren Zusammenhalt verhelfen könnten. Es ist nicht die ethnische Diversität als solche, die der Bildung einer nationalen Identität entgegensteht, sondern vielmehr eine politisch instrumentalisierte Ethnizität. Der Begriff beschreibt weniger ein gefühlsmäßiges Bekenntnis zu einer Ethnie als eine meist politisch motivierte Neigung, die eigene ethnische Gruppe und Kultur aufzuwerten und gleichzeitig andere Volksgruppen mit ihren Traditionen geringer zu schätzen. Angesichts dieser politisierten Ethnizität, welche auch zum Teil von afrikanischen Regierungen verstärkt und für politische Zwecke ausgenutzt wird, lässt sich eine Einteilung der Staaten und Gesellschaften in Ethnien nicht vermeiden.

Messen die meisten Afrikanerinnen und Afrikaner der ethnischen Identität noch besonderen Stellenwert bei, so geschieht dies auch aus einer gewissen Nostalgie heraus, die sie für ihre eigene Sprache und Kultur aufbringen. Mit der Einführung der Amtssprachen in der Kolonialzeit verloren die lokalen Sprachen weitgehend ihre Bedeutung als authentisches Mittel der Bewahrung und Weitergabe der ethnischen Kultur. Das Festhalten der politischen und wissenschaftlichen Eliten Afrikas an europäischen Sprachen in der Bildung und Verwaltung hat zudem dazu geführt, dass die Barrieren, Berührungsängste, Rivalitäten und Vorurteile zwischen den verschiedenen Ethnien beinahe unüberwindbar geworden sind. Das wird auch nicht zuletzt bei der Besetzung von Spitzenpositionen in Politik und Wirtschaft deutlich, wo die ethnische Zugehörigkeit stets politisiert wird.

Die Degradierung einheimischer oder nativer Sprachen hat außerdem schwerwiegende Auswirkungen auf das Identitätsbewusstsein der Afrikaner. In Afrika überwiegt der Glaube, dass der Mensch seine Identität und die Einzigartigkeit seiner Kultur und Religion nur durch die Artikulation der Werte seiner Tradition in der Muttersprache wahren kann. Solange den einheimischen Sprachen und damit auch Kulturen die ihnen gebührende Stellung in der Bildung, Wissenschaft und Politik nicht zukommt, wird man die in Afrika drohenden gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Krisen keineswegs überwinden können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Auf der Berliner-Kongo-Konferenz vom 15. November 1884 bis zum 26. Februar 1885 einigten sich die Vertreter von zwölf europäischen Staaten, der USA und dem Osmanischen Reich über die Regeln für die Aufteilung Afrikas. Danach hatte jeder der Staaten das Recht zum Erwerb eines afrikanischen Gebietes, sobald er dieses erschlossen und besetzt hatte. Hatte ein Staat bereits Küstenniederlassungen in Afrika, war er berechtigt, sein Gebiet soweit ins Landesinnere auszudehnen, bis er an die Grenzen einer anderen Nation stieß. Bei der Bildung von Kolonien wurde auf die Zusammensetzung der Völker Afrikas keine Rücksicht genommen.

  2. Afrikanische Gesellschaften: Die afrikanischen Intellektuellen selbst unterscheiden ihre Gesellschaften hinsichtlich des geltenden Rechts, der Sitte und Moral, der Kunst, der vorherrschenden Werte und Lebensregeln. Dabei stehen den traditionellen Gesellschaften, die aus afrikanischer Sicht einst Verwandtschaftstreue, Moral, Geselligkeit, Sittsamkeit, Heimat- und Familienverbundenheit verkörperten, die modernen Gesellschaften gegenüber. Letztere sind erst im Zuge der Kolonisierung Afrikas entstanden und werden mit Entgeltsarbeit, Schulbildung, Geldgier, Luxus, Kriminalität, Gewalt, etc. assoziiert. Die modernen Gesellschaften werden in der wissenschaftlichen Literatur oft mit den nachkolonialen Staaten mit allen ihren Sozialstrukturen und politischen Lebensformen identifiziert.

PD Dr. Dr. Jacob Emmanuel Mabe promovierte 1992 in Politikwissenschaft in Augsburg und 1995 in Philosophie in München. Er lehrte in Frankfurt am Main, Aachen sowie in Berlin. Seit seiner Habilitation 2004 ist er Privatdozent für interkulturelle Philosophie an der technischen Universität Berlin. Veröffentlichungen: u.a. Hrsg.: "Das Afrika-Lexikon".