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Krankes Gesundheitssystem | USA | bpb.de

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Krankes Gesundheitssystem

Timothy Stoltzfus Jost

/ 6 Minuten zu lesen

Ein Drittel der amerikanischen Bevölkerung hat keine Krankenversicherung. (© AP)

Viele Amerikaner glauben, dass die USA, wie es ihr derzeitiger Präsident George W. Bush behauptet, "das beste Gesundheitssystem der Welt" besitzen. Faktisch ist es ein System mit enormen Stärken. Wer in den USA eine gute Krankenversicherung besitzt, hat sofortigen Zugang zu den neuesten medizinischen Technologien sowie hoch-trainierten und spezialisierten Gesundheitsprofis. Die USA ist ein weltweiter Spitzenreiter in medizinischer Grundlagenforschung und Innovation. In der vergangenen Dekade wurden 14 der 24 Nobelpreise für Medizin an Wissenschaftler aus den USA vergeben. Im Jahre 2007 allein gab das nationale Gesundheitsinstitut (National Institute for Health) 29 Milliarden Dollar für medizinische Forschung aus, übertroffen noch von privaten pharmazeutischen und Biotechnik-Firmen, die 59 Milliarden Dollar investierten. In den letzten Jahren waren die USA weltweit führend, was die Einführung neuer pharmazeutischer und biotechnologischer Produkte angeht.

Doch die Kehrseite dieser Erfolgsbilanz ist ein Gesundheitssystem, das in vielerlei Hinsicht ernsthaft erkrankt ist. Es ist das teuerste Gesundheitssystem der Welt, mit durchschnittlichen 7000 Dollar Kosten pro Person im Jahre 2006. Es verschlingt 16 Prozent des Bruttoinlandproduktes der USA. Weltweit gesehen haben die USA damit einen Anteil von fast der Hälfte an allen globalen Gesundheitskosten. Trotz der massiven Geldleistungen haben fast 46 Millionen Bürger des Landes, 15,3 Prozent der Bevölkerung, zu jedem beliebigen Zeitpunkt keine Krankenversicherung und fast ein Drittel der Bevölkerung, über 80 Millionen Amerikaner, waren in den vergangenen zwei Jahren zeitweise unversichert. Und schließlich haben vergleichende Studien herausgefunden, daß die Qualität der Gesundheitsversorgung in den USA keineswegs außergewöhnlich ist. Das US Gesundheitssystem ist in einigen Bereichen sehr gut, in anderen nicht, im internationalen Vergleich der Industrienationen ist es durchschnittlich.

Private und öffentliche Versicherungen

Die USA haben, anders als andere reichen Nationen, keinen allgemeinen Versicherungsschutz. Die meisten Amerikaner, 54 Prozent, sind über ihren Arbeitgeber versichert. Arbeitgeber sind zwar nicht gesetzlich verpflichtet, eine Krankenversicherung anzubieten, aber da sie steuerlich befreit ist, ist sie eine attraktive Vergünstigung. Die meisten Großkonzerne bieten sie an, kleinere Unternehmen hingegen oft nicht. Teilzeit- und Kurzzeitbeschäftigte sowie Werkvertragsarbeitnehmer haben oft keine Krankenversicherung. Die meisten Arbeitnehmer müssen einen Teil der Versicherungsprämie (in der Regel ein Viertel des Betrages) selber zahlen und viele können sich das nicht leisten, so dass sie das Angebot einer Krankenversicherung durch ihren Arbeitgeber ablehnen.

Über ein Viertel der US-Bevölkerung steht unter einem öffentlichen Versicherungsschutz. Das sogenannte "Medicare" Programm versichert alle Personen über 65 Jahre sowie behinderte Bürger, unabhängig von ihrem persönlichen Besitz oder Einkommen. Medicare ist ein Sozialversicherungsprogramm, finanziert über Gehaltssteuern, allgemeine Steuern und Beiträge der Anspruchsberechtigten. Es deckt vor allem Krankenhauskosten sowie Pflege und Medikamente ab. Medicare ist ein US-weites Programm, es ist jedem Bürger in allen Staaten und Territorien zugänglich. Ein zweites öffentliches Krankenversicherungs-Programm namens "Medicaid" wird hingegen von Bundesseite UND von den einzelnen Staaten betreut, so dass Zugangskriterien und Leistungen von Bundesstaat zu Bundesstaat variieren. Medicaid sorgt für bestimmte Gruppen einkommesschwacher Bürger wie ältere Menschen, behinderte, schwangere Frauen sowie Kinder und ihre Familien. Ein spezielles Unterprogramm namens "State Children`s Health Insurance" versorgt Kinder, deren Familien nicht einkommensschwach genug sind, um sich für Medicaid zu qualifizieren. Verschiedene kleinere Regierungsprogramme kümmern sich um die Gesundheitsversorgung von speziellen Gruppen wie Veteranen, Indianern oder aktiven Soldaten.

Nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Bevölkerung, ungefähr 5 Prozent, besitzen eine private Krankenversicherung ohne Anbindung an einen Arbeitgeber. Versicherer verkaufen diese individuellen Policen unter dem Vorbehalt einer genauen Prüfung der Gesundheit des zu Versichernden. Danach bemisst sich auch die Versicherungsleistung und die Prämie. Diese Versicherungen bieten oft weniger Leistungen und verlangen einen höheren Eigenanteil bei medizinischer Versorgung als die Gruppenversichungen. Aber für Selbstständige und Arbeitnehmer ohne Zugang zum öffentlichen oder Arbeitgeberversicherungssystem sind sie die einzige Option.

Schlußendlich, wie schon bemerkt, sind viele Amerikaner nicht versichert. Über 70 Prozent der Nichtversicherten kommen aus Familien, in denen mindestens ein Mitglied arbeitet, aber fast zwei Drittel leben mit Einkommen, die über der staatlich festgelegten Armutsgrenze liegen. Junge Erwachsene und ethnische Minderheiten, vor allem Hispanier, haben das größte Risiko, nicht versichert zu sein.

Nicht Versicherte

Wer in den USA nicht versichert ist, ist nicht automatisch von jeder Krankenversorgung ausgeschlossen. Die meisten Krankenhäuser sind gesetzlich gezwungen, einen Notaufnahmefall anzunehmen. Sie können allerdings dem Kranken dafür eine Rechnung stellen. In vielen Teilen der USA bieten "Safety-Net" Krankenhäuser und Kliniken freie oder kostenreduzierte Versorgung für nicht Versicherte an. Aber wer keine Versicherung hat, geht seltener zum Arzt, selbst bei ernsthaften Krankheiten, hat keinen Hausarzt oder kümmert sich um Vorsorge. Diese Gruppe löst seltener Rezepte ein, landet häufiger im Krankenhaus für verhinderbare Gebrechen und wird oft (zu) spät mit Krebs diagnostiziert. Nach Schätzungen sterben jährlich 22.000 Amerikaner zu früh, weil sie unversichert sind.

Ungefähr 25 Millionen Bürger in den USA sind unterversichert, das heißt, sie haben zwar eine Krankenversicherung, aber sie müssen dennoch einen Großteil ihres Einkommens für Arzt- und Krankenhausrechnungen ausgeben, weil ihre Versicherung nur wenig abdeckt oder einen sehr hohen Eigenanteil verlangt. Viele der Unversicherten oder Unterversicherten haben große finanzielle Schwierigkeiten, verbrauchen ihre Sparbücher, machen enorme Schulden oder müssen sich mit ihrem Haus als Sicherheit Geld leihen. Krankheitskosten sind einer der führenden Faktoren für Bankrotterklärungen in den USA.

Trotz der enorm hohen Kosten des US-Gesundheitssystems bietet es keine Leistungen, die denen in anderen Länder überlegen wären. Generell haben amerikanische Patienten kürzere Wartezeiten für einen Spezialarzt oder für eine Spezialbehandlung, aber sie müssen länger warten, um einen Hausarzt aufzusuchen und haben oft keinen Zugang zu medizinischer Versorgung nachts oder am Wochenende - außer über die Notaufnahme in Krankenhäusern. Die Gesundheitsversorgung ist zersplittert und oft fehlt es Patienten an langjährigen Beziehungen zu Ärzten, weil sie diese wechseln müssen, wenn ihr Arbeitgeber wechselt oder die Versicherung neue Bedingungen stellt. Eine neuere Studie zur Untersuchung von verhinderbaren Todesfällen in 19 Nationen fand heraus, daß die USA den höchsten Anteil an verhinderbaren Todesfällen hat.

Reformversuche

Reformversuche des Gesundheitssystems der USA sind mannigfaltig, sie begannen 1917 und ziehen sich bis heute fort. Obwohl es substanzielle Fortschritte in den 1960ern gab, in denen eine Krankenversorgung auf Ältere, Behinderte und einige der sozial Schwachen ausgedehnt wurde, sind die USA immer noch weit davon entfernt, eine Gesundheitsversorgung für alle Bürger zu gewährleisten.

Dafür gibt es eine Reihe an Gründen. Zunächst sind die politischen Institutionen der USA nicht darauf ausgerichtet, radikale Veränderungen zuzulassen. Gesetze müssen durch beide Häuser des Kongresses wandern und dann vom Präsidenten gut geheißen werden. Größere Gesetzesvorhaben bedürfen einer Stimmen-Mehrheit von 60 der 100 Senatoren. Das Gleichgewicht der Kräfte zwischen Bundesebene und Staatenebene muß ebenfalls berücksichtigt werden. Sofern nicht ein enorm weiter politischer Bogen für Konsens zu einem allgemeinen Krankenversicherungsschutzs gespannt werden kann, ist dieses Vorhaben unwahrscheinlich. Zweitens fehlt es Amerikanern an Engagement für soziale Solidarität, die andere Nationen besitzen. Amerikaner glauben tendenziell mehr an die Verantwortung des Einzelnen und sind jeglichen Regierungsprogrammen gegenüber mißtrauisch. Das ist auch der Grund, warum nur einzelne Kategorien armer Bürger – die "ehrenwerten Armen" – über Medicaid versorgt werden. Drittens fehlt es den USA an einer starken Arbeiterbewegung und an sozialorientierten Parteien, die in anderen Nationen vorhanden sind. Viertens spielen Interessensgruppen eine größere Rolle, nicht zuletzt durch die Art der Wahlkampffinanzierung in den USA, die auf Zuwendungen der Interessensgruppen angewiesen ist. Jahrzehntelang wehrte sich die Lobby der Ärzte gegen Reformen, während in den letzten Jahren die Lobby der Krankenversicherer und Pharma-Konzerne eine bedeutende Rolle spielte. Und schließlich hat politische Ermüdung Reform schwierig gemacht. Sollten jedoch die Kosten des Gesundheitssystems weiter anwachsen und Zugang zu Krankenversorgung weiter problematisch sein, könnte sich eine politische Koalition für Reform bilden. Vielleicht bekommt das kranke Gesundheitssystem der USA dann die starke Medizin, die es braucht.

Fussnoten

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