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Die Lage nach der Wahl | USA | bpb.de

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Die Lage nach der Wahl Wahl-Spezial aktuell

Dr. Christoph von Marschall

/ 8 Minuten zu lesen

Präsidentschaftswahl 2012 – Ergebnis und Folgen. Amerika wählt den Kompromiss: Die Demokraten gewinnen klar den Kampf um das Weiße Haus, die Republikaner verteidigen ebenso klar ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus.

Barack Obama bleibt im Weißen Haus. Mitt Romney zieht sich aus der Politik zurück. (© AP)

Anderthalb Jahre haben die beiden Lager harten Wahlkampf geführt und die Wahl zur wichtigsten Richtungsentscheidung einer ganzen Generation stilisiert. Doch dann entscheiden sich die Wähler ganz anders. Sie stimmen gegen zu viel Wandel. Das nüchterne Fazit der US-Wahl 2012 lautet auf den ersten Blick: Im Westen nichts Neues. Amerika hat den "Status Quo“ in der parallelen Präsidentschafts- und Kongresswahl bestätigt. Der Demokrat Barack Obama bleibt Herr im Weißen Haus. Die Republikaner behaupten ihre klare Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Und im Senat verteidigen die Demokraten ihren knappen Vorsprung vor den Konservativen. Wird sich damit die parteipolitische Blockade fortsetzen, die den politischen Betrieb in den letzten zwei Jahren gelähmt hatte: der so genannte "Gridlock“? Das kann so kommen. Es muss aber nicht so kommen. Denn auf den zweiten Blick hat sich die Wahrscheinlichkeit, dass Bewegung in die starren Fronten gerät, deutlich erhöht. Erstens stehen die USA vor viel zu großen Herausforderungen, als dass sich die politische Klasse Stillstand erlauben könnte. Das beginnt mit dem "Fiscal Cliff“: Amerika könnte 2013 in eine mutwillig herbeigeführte Rezession stürzen, wenn Präsident und Parlament nicht vor Jahresende handeln. Die Zeichen für einen Kompromiss stehen gut. Bereits am Tag nach der Wahl telefonierten Barack Obama und der republikanische "Speaker“ des Abgeordnetenhauses, John Boehner, miteinander, um die groben Linien einer Annäherung auszuloten.

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Einschätzungen nach der Wahl. Christoph von Marschall im Interview mit Theo Koll: Externer Link: www.zdf.de

Auftrag: Selbstkritik

Zweitens müssen beide Lager nun die Ursachen analysieren, warum die Wähler ihre jeweiligen Hoffnungen nicht erfüllt haben. Das gilt ganz besonders für die Republikaner. Sie hatten 2012 eine denkbar gute Ausgangsposition, um alle drei Institutionen unter ihre Kontrolle zu bringen: das Weiße Haus, das Abgeordnetenhaus und den Senat. Der Amtsinhaber, Barack Obama, war angeschlagen. Die Zustimmung zu ihm lag seit langem unter 50 Prozent. Eine Mehrheit der Bevölkerung sah das Land auf dem falschen Weg, im Herbst 2011 waren es über 70 Prozent! Auch die anhaltend hohe Arbeitslosenrate und das laue Wirtschaftswachstum sprachen gegen Obama. Das wichtigste Wahlmotiv in westlichen Demokratien ist in der Regel die gefühlte Lage im eigenen Portemonnaie. Mit Zahlen wie den aktuellen gewinnt ein US-Präsident normalerweise keine Wiederwahl. Und doch haben die Republikaner zwei dieser drei Kämpfe verloren. Sie werden sich nun fragen, was sie ändern müssen, um bei der Kongresswahl 2014 und der Präsidentenwahl 2016 besser abzuschneiden. Auch die Demokraten haben Anlass zum Nachdenken. Sie stellen zwar weiterhin den Präsidenten und kontrollieren den Senat, aber insgesamt kann der Wahlausgang nicht als Bestätigung ihres Programms gelesen werden. Dafür ist der Erfolg der Konservativen bei der Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses zu deutlich. Nicht einmal die Hoffnung, dass deren rechter "Tea Party“-Flügel deutlich dezimiert würde, hat sich erfüllt.

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Das Land bleibt gespalten

Die tiefe Spaltung des Landes setzt sich fort. Etwa gleich große Gruppen unterstützen die Demokraten und die Republikaner. Auch an den großen Zweifeln, die eine Mehrheit der Amerikaner dem Staat entgegenbringt, hat sich nichts geändert. Die Regierung soll sich nicht zu sehr in das Leben der Bürger einmischen. Eigenverantwortung ist in amerikanischen Augen staatlicher Fürsorge vorzuziehen. Deshalb ist die Skepsis gegen die Gesundheitsreform, gegen schärfere Regeln für die Finanzaufsicht und gegen eine von oben regulierte Energiewende sehr groß. Die politische Mitte der USA liegt deutlich weiter rechts als in Deutschland, die Wahl hat das bestätigt. Wenn das so ist, warum bekommt Obama dennoch eine zweite Amtszeit? Amerika sieht sich an einer Zeitenwende vom Gestern zum Morgen. Die alten Gewissheiten tragen nicht mehr oder müssen zumindest an die neuen Koordinaten der globalisierten Welt angepasst werden. Dieses Gefühl war entscheidend für den Wahlausgang, wichtiger noch als Arbeitslosenrate, Wirtschaftswachstum und Schuldenlast. Der überraschend klare Ausgang der Präsidentschaftswahl spiegelt diese Dynamik. Obama hat weit besser abgeschnitten, als erwartet. Trotz der negativen ökonomischen Gesamtstimmung siegte er in nahezu allen Swing States. Das so genannte "Popular Vote“, die Summe der landesweit abgegebenen Stimmen, gewann er mit lediglich knapp drei Millionen Stimmen Vorsprung. Prozentual waren es 50 zu 48 Prozent. Solche Verhältnisse können sich schnell ändern.

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Was macht den Unterschied?

Die Präsidentenwahl ist in erster Linie eine Persönlichkeitswahl und erst in zweiter Linie eine Entscheidung für das eine oder das andere Sachprogramm. Für eine Mehrheit der Amerikaner verkörpert Obama die Führungspersönlichkeit, die das Land in diesen Umbruchzeiten braucht, das ist gefühlt besser als Mitt Romney, denn der ist ein "Mann der Vergangenheit“: weiß, reich, klassische Elite. Obama wirkt wie ein Mann der Zukunft: multiethnische Identität, geboren auf Hawaii, im Pazifik; mehrere Kindheitsjahre hat er in Asien verbracht, in Indonesien. Er ist ein sozialer Aufsteiger und ein Mensch mit Gespür für neue Strömungen.

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Obamas Vorsprung an Modernität betrifft einerseits die technische Revolution, die er für seinen Internetwahlkampf nutzte. Auch da triumphierte moderne Technik über klassischen Methoden. Andererseits geht es um soziale Trends. Parallel zur Präsidenten- und Kongresswahl stimmten die Amerikaner mancherorts über die Legalisierung von Marihuana, die Todesstrafe (das demokratische Kalifornien hat sie soeben bestätigt!) und die Gleichstellung der Homo-Ehe ab. Überwiegend – freilich nicht überall, so wie z. B. im Mittleren Westen der USA – sagen die Wähler den Konservativen, dass sie sich bewegen müssen. Es geht um Werte. Sonst stehen sie am Ende "auf der falschen Seite der Geschichte“, wie man in Amerika gerne sagt.

Ein Hurrikan als Ausrede

Der Hurrikan namens "Sandy“, der zehn Tage vor der Wahl die Atlantikküste heimgesucht hatte, spielte hingegen anders als in Europa vielerorts vermutet keine große Rolle für den Wahlausgang. Romneys Aufwärtstrend in den Umfragen hatte bereits in den Tagen davor geendet. Manche in der republikanischen Partei benutzen den Wirbelsturm gerne als Ausrede für die Niederlage. Dann müssen sie nicht über die tieferen Ursachen nachdenken. Die haben damit zu tun, dass viele Konservative sich gegen den gesellschaftlichen Wandel stemmen.

Amerika wird diverser, aber deswegen kein zweites Europa

Die USA waren und sind immer noch ein Einwanderungsland, den größten Zuwachs erfahren die Latinos. Sie sind ein entscheidender Teil der bunten Koalition, die Obama für eine zweite Amtszeit gewählt hat. Die Republikaner müssen ihnen etwas anbieten, wenn sie künftig Wahlen gewinnen wollen. So enthält der Ausgang vor allem eine Botschaft an beide Lager: Vergesst die Ideologien. Die Mehrheit der Wähler wünscht praktische Lösungen.

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Obama hat keinen Auftrag, mit verstärkter Vehemenz einen Reformkurs fortzusetzen, der die USA näher an Europa heranführt. Er wird Abstriche an seinen Entwürfen machen, wenn er zum Beispiel erneut ein Energiewendegesetz vorlegt. Die Amerikaner wollen schon, dass regenerative Energien eine größere Rolle spielen. Sie wollen es aber nicht von oben vorgeschrieben bekommen. Der Staat hat aus ihrer Sicht nicht das Recht, den Wandel mit Subventionen und scharfen Vorgaben zu forcieren. Die Entwicklung muss aus dem Markt kommen, technische Neuerungen sollen helfen, nicht staatliche Ökosteuer oder gar der Zwang zum CO²-Handel. Die Republikaner dürfen sich wiederum nicht länger der neuen gesellschaftlichen Realität verweigern. Sie müssen sich stärker an Latinos, Asiaten und Schwarze wenden. Wenn sie sich weiter fast ausschließlich auf die herkömmliche Wählerschaft älterer Weißer stützen, werden sie sehr bald strukturell unfähig sein, Mehrheiten zu erringen. Sie müssen sich, zum Beispiel, bei der Reform des Einwanderungsrechts bewegen.

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Amerika hat also eine Machtbalance gewählt – oder, wie man in den USA sagt: "divided government“. Präsident Obama soll die neuen Strömungen aufnehmen und das Land in die Zukunft führen. Die republikanische Mehrheit soll darauf achten, dass dies ohne ideologischen Überschwang geschieht. Das sind die Botschaften der Wähler und Wählerinnen.

Der Präsident sucht Abstand zu seiner Partei

Obama wird sich in der zweiten Amtszeit von seiner Partei lösen und als Präsident über den Lagern positionieren. Er kann nach der Verfassung kein drittes Mal gewählt werden. Die Republikaner müssen sich dazu durchringen, die ausgestreckte Hand zu ergreifen und die Eiferer vom rechten Flügel zu ignorieren. Dann kann das vollmundige Versprechen, das Obama in seiner Siegesrede gab, womöglich Realität werden: "The best is yet to come!“ Zuvor hatte Mitt Romney dem Präsidenten in einem Telefonanruf gratuliert und seine Niederlage öffentlich eingestanden. Er gratulierte nicht nur dem Präsidenten, sondern auch dem gegnerischen Wahlkampfteam. Seine Ansprache hatte ebenfalls einen versöhnlichen Ton. Er bete für den Erfolg Obamas und sei bereit, mit ihm zusammen zu arbeiten.

Es droht eine Rezession

Ein erster Test folgt bereits vor dem Jahresende. Präsident und Parlament müssen durch gemeinsames Handeln vermeiden, dass die USA in eine selbst herbeigeführte Rezession stürzen. Dieses Szenario nennt man "Fiscal Cliff“. Drei Faktoren verstärken sich gegenseitig und würden dazu führen, dass der Volkswirtschaft 2013 bis zu 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukt (BIP) an Kaufkraft entzogen werden.

Erstens laufen zum Jahresende die reduzierten Sätze für die Einkommensteuer aus, die unter George W. Bush für eine befristete Zeit eingeführt worden waren, um die Konjunktur nach den Anschlägen vom 11. September 2001 anzukurbeln. Der Kongress hatte sie immer wieder verlängert, aber nicht permanent gemacht. Wenn die Bürger höhere Steuern zahlen, fehlt ihnen dieses Geld zum Konsum.

Zweitens wird auch der Staat weniger Geld ausgeben können. Er nimmt zwar mehr ein, wenn die Steuersätze steigen. Aber das Parlament hatte automatische Kürzungen für 2013 beschlossen, als es im Sommer 2011 die gesetzliche Schuldenobergrenze erhöhte. Eigentlich war das eine List, damit Demokraten und Republikaner sich auf Budgetkürzungen von mehr als 200 Milliarden Dollar pro Jahr einigen. Das haben sie im Wahlkampf jedoch nicht getan. Und so droht nun die angedrohte Strafe einzutreten: drastische Kürzungen beim Militär, was die Republikaner nicht wollen, und Einsparungen bei sozialen Leistungen, was die Demokraten ablehnen.

Drittens wird auch die Wirtschaft 2013 weniger Geld für Investitionen haben. Für die Betriebe erhöht sich zum Jahreswechsel die "Payroll Tax“: die Sozialabgaben auf die Lohnsumme. Der Beitragssatz war von der Obama-Administration befristet herabgesetzt worden, um die Konjunktur nach der Finanzkrise zu stimulieren. Nach allgemeiner Erwartung wird der Kongress das "Fiscal Cliff“ vermeiden. Er könnte die Steuervergünstigungen noch einmal verlängern. Oder die beschlossenen Einsparungen aufschieben. Oder eine Kombination aus beidem beschließen. Das würde die drohende Rezession abwenden.

Die USA zwischen Pest und Cholera

In der Konsequenz erhöhen sich dann die Schulden. Sie betragen über 16 Billionen Dollar; das entspricht mehr als hundert Prozent des BIP. Die Fehlbeträge im Budget würden weiter aus neuen Krediten finanziert. Die USA befinden sich irgendwo zwischen Pest und Cholera, Rezession und Überschuldung. Es genügt nicht, dass Parlament und Präsident die Pest abwenden. Sie müssen auch etwas gegen die Cholera tun. Der Filmklassiker "Casablanca“ endet mit der Prognose, nun folge der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Die USA wären schon dankbar, wenn Obama und Boehner es ernst meinen mit einer ehrlichen Kompromisssuche. Das hilft Amerika – und Europa gleich mit.

Apropos Europa

Amerika liegt zwischen Europa und Asien. Das wird in Deutschland oft nicht ausreichend betrachtet und in strategische Überlegungen einbezogen. In der US-Außenpolitik ist jedoch kein größerer Wandel zu erwarten. Europa, genauer gesagt die Europäische Union, bleibt der engste Verbündete der Vereinigten Staaten von Amerika und für die nächsten Jahre der wichtigste Handelspartner. Denn auch bei den Direktinvestitionen sind Amerika und Europa für sich jeweils die erste Wahl.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Christoph von Marschall berichtet seit 2005 für das bundesweit erscheinende Berliner Blatt „Der Tagesspiegel“ aus den USA. Er ist der bisher einzige deutsche White-House-Korrespondent. Und er ist Autor von Biographien über "Barack Obama - Der schwarze Kennedy" (2008) und preisgekrönt über "Michelle Obama - Ein amerikanischer Traum" (2009). Zum Wahljahr 2012 erschienen gleich zwei Bücher, im Januar "Was ist mit den Amis los? Warum sie an Barack Obama hassen, was wir lieben“ und bereits im September "Der neue Obama - Was von der zweiten Amtszeit zu erwarten ist".