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Rolle und Verständnis des chinesischen Staates | China | bpb.de

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Rolle und Verständnis des chinesischen Staates

Prof. Dr. Thomas Heberer

/ 7 Minuten zu lesen

Thomas Heberer, Universität Duisburg-Essen, gibt in seinem Kommentar einen Einblick in die chinesische Staatslogik. Er spricht sich für ein besseres Verständnis und den gemeinsamen Dialog aus, denn nur mit China seien globale Probleme wie etwa der Klimawandel lösbar.

Bis 2021 will Chinas Präsident Xi Jinping die Armut in seinem Land beseitigt haben, so wie hier im Dorf Desheng im Norden Chinas. (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com, Li Tao)

China ist nicht einfach zu verstehen. Historische, kulturelle, politische Faktoren und die Heterogenität innerhalb Chinas erschweren dies. Um einen besseren Einblick in die Logik des Systems zu bekommen, beschäftigt sich dieser Beitrag mit vier Themen: (1) der Modernisierungsmission der politischen Führung; (2) der Funktionalität des Staates, (3) der traditionellen Rolle des Staates im Unterschied zu Europa und (4) der Disziplinierungsfunktion des Staates. Mit Staat ist im Folgenden der Interner Link: Partei-Staat gemeint: Partei- und Staatsapparate sind auf allen Ebenen durch Personalunion und Weisungsbefugnis der Kommunistischen Partei eng miteinander verwoben und sind daher nicht voneinander zu trennen.

1. Modernisierungsmission des Staates

Mit dem Machtantritt von Xi Jinping im Jahre 2012 hat sich Chinas Innen- und Außenpolitik stark verändert: innenpolitisch autoritärer und ideologieorientierter, außenpolitisch herausfordernder. Es stellt sich die Frage, wie sich die gegenwärtige Politik systemisch einordnen und interpretieren lässt. Welche Handlungslogik liegt der politischen Führung und ihrem Agieren zugrunde?

2017 hat Xi, der starke Mann Chinas, erstmals einen konkreten Modernisierungsfahrplan vorgetragen: Bis 2021 soll die Armut beseitigt und "moderate Lebensstandards" für alle gewährleistet sein, bis 2035 ist die "grundlegende Modernisierung" zu realisieren, um die führende Wirtschaftsmacht in der Welt zu werden sowie die dominierende Kraft in zehn Zukunftstechnologien. Auch soll die Umweltproblematik auf Basis eines nachhaltigeren Entwicklungsmodells gelöst werden. Das Ziel für 2049/50 ist es, dass die allseits entwickelte Nation und Weltmacht gleichauf mit den USA ist.

Dieses visionäre Programm ("Chinas Traum"), das von den meisten Chinesinnen und Chinesen geteilt wird, soll nicht durch Übernahme "westlicher" Institutionen (Demokratie, Gewaltenteilung, etc.) realisiert werden, sondern auf "chinesischem Weg" – eine eindeutige Absage an die Hoffnung, China werde in kurzer Zeit einen Weg Richtung Demokratie einschlagen.

Die politische Führung glaubt, dass der rasche Öffnungs- und Reformprozess seit Ende der 1970er Jahre nicht nur Vorteile, sondern auch Risiken mit sich gebracht habe: Korruption und Zerfall der Disziplin und Ideologie unter Parteifunktionärinnen und -funktionären, der moralische Zerfall der Gesellschaft, Verlust der Kontrolle über die Wirtschaft durch den raschen Privatisierungsprozess, das Fehlen eines funktionierenden, gesellschaftlichen Ordnungssystems könnten die Erreichung der genannten Ziele bis 2050 unmöglich machen. Nicht zuletzt resultiert diese Furcht aus dem Zerfall der Interner Link: Sowjetunion. Von daher wird in allen Bereichen stärker zentralisiert, reglementiert, institutionalisiert und diszipliniert.

2. Funktionalität des Staates

Um die Logik der gegenwärtigen Führung zu verstehen, müssen wir uns mit der Funktionalität des Staates auseinandersetzen. Die Auffassung, die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) sei nur an Machterhalt interessiert, ist allzu simpel. Zwei Faktoren leiten das politische Handeln: die Funktion des Staates als "Entwicklungsstaat" sowie seine Funktion als "Disziplinierungsorgan".

Das Konzept des Entwicklungsstaates (developmental state) wurde von dem US-amerikanischen Politikwissenschaftler Chalmers Johnson Anfang der 1980er Jahre zur Erklärung der raschen Modernisierung Japans entworfen. Es besagt, dass in ostasiatischen Gesellschaften der Staat die Aufgabe übernommen hat, die jeweiligen Gesellschaften planmäßig in die Moderne zu führen. Die Modernisierung von Japan, Südkorea, Taiwan, Singapur oder Malaysia basierte auf einer von den politischen Eliten dirigierten Entwicklungspolitik durch rigide Eingriffe in die Wirtschaft und den Markt, Kontrolle der Gesellschaft und gesellschaftlichen Organisationen, sowie der Erstellung von Kurz- und Langzeitplänen. Von daher handelte es sich in den Hochzeiten der Entwicklung dieser Länder auch stets um "autokratische Staaten", die ihr Modernisierungskonzept mit repressiven Mitteln verfolgten und jedwede Opposition dagegen unterdrückten. Aber – und das ist ein zentraler Punkt – diese Entwicklungsprozesse verliefen erfolgreich, denn am Ende standen wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung und politische Demokratisierung. Das Interesse an der Modernisierung und Erneuerung der Nation, das die politische Elite als ihre "Mission" begriff, bewirkte, dass die Elite weitgehend unabhängig von spezifischen Gruppeninteressen dieser Zielsetzung folgte und dazu über geeignete Organisationsressourcen (Einparteienherrschaft, das Militär, professionelle Bürokratie) verfügte, mittels derer sie die Entwicklung im ganzen Land steuern konnte. Die These vom autoritären Entwicklungsstaat passt sehr gut auf das heutige China und die Verfolgung der oben erwähnten Modernisierungsvision bis 2050.

3. Traditionelle Rolle des Staates

Der chinesische Staat spielte im Hinblick auf die ordnungspolitische Gestaltung und die Moralerziehung eine andere Rolle als in Europa, wo lange Zeit der Staat für die Organisation und Kontrolle des Gemeinwesens zuständig war und die Kirche für Moralerziehung. Daneben entwickelte sich in Europa eine Bürgerkultur mit vom Adel relativ unabhängigen Städten und Bürgerorganisationen ("Zivilgesellschaft"). In China war der Staat, basierend auf einer durch Staatsprüfung ausgewählten Beamtenschaft ("Gentry"), traditionell und idealtypisch für die Gewährleistung von Ordnung sowie der nationalen Einheit, die Sicherstellung der Wohlfahrt des Volkes u n d die Moralerziehung zuständig. Die Städte und die Wirtschaft wurden durch den Kaiserhof und seine Beamten streng kontrolliert. Zivilgesellschaftliche Prozesse im westlichen Sinne bildeten sich erst im 20. Jahrhundert in Ansätzen heraus. Erwies sich ein Herrscher als unfähig, den Erwartungen des Volkes gerecht zu werden, besaß das Volk ein Recht, ihn zu stürzen oder – wie es in der traditionellen Ordnungsvorstellung hieß – der Herrscher verwirkte sein "Mandat" zum Herrschen. Moderne Prozesse in China verstehen zu wollen – ohne den Rückbezug auf die Geschichte –, gleicht, wie der China-Historiker John Fairbank einmal schrieb, einem "Blindflug im Gebirge". Die Interner Link: mehrtausendjährige Geschichte ist im kollektiven Bewusstsein der Chinesinnen und Chinesen sehr viel stärker verwurzelt als in Europa.

4. Modernisierung der Verhaltensweisen

Modernisierung bezieht sich nicht nur auf politische, ökonomische oder gesellschaftliche Prozesse, sondern auch auf kognitive. Soziologen wie Max Weber, Norbert Elias oder Michel Foucault und Historiker wie Gerhard Oestreich haben diese Prozesse für Europa untersucht, wo vor allem zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert ein Prozess der "Sozialdisziplinierung" stattgefunden hat, mit dem die Denk- und Verhaltensweisen der Menschen grundsätzlich verändert und an die Moderne angepasst werden sollten. Einen solchen Prozess finden wir auch im gegenwärtigen China, allerdings unter dem Stichwort "Zivilisierung". 2011 hat der damalige Premier Interner Link: Wen Jiabao den "Verfall der gesellschaftlichen Moral" und den enormen Verlust an innergesellschaftlichem Vertrauen beklagt. Zugleich warnte er davor, dass ohne einer neuen Moralordnung und eine daraus resultierende Trendwende China nicht stark und modern werden könne. Die gegenwärtige Führung bekräftigte dies und beschloss, diesem Phänomen mit einer großangelegten Anti-Korruptionskampagne, einem moralischen Erziehungsprozess und Interner Link: "modernen" Kontrollmechanismen ("soziales Vertrauenswürdigkeitssystem", Internetkontrolle, Gesichtserkennungskameras etc.) entgegenzuwirken. "Zivilisierungsregeln", die es mittlerweile in allen Städten gibt und die propagieren, wie sich die Menschen im Alltag und gegenüber ihren Mitmenschen verhalten sollten, sollen das Verhalten steuern und einen Bewusstseinswandel einleiten. Abweichendes Verhalten wird zum Teil streng geahndet. Das erinnert an "Disziplinierungsregeln" deutscher Städte und Länder zwischen dem 16. und 19. Jahrhunderts, wobei technische Mittel, wie sie heute in China angewendet werden, diese Arbeit erleichtern. Untersuchungen nicht nur chinesischer, sondern auch westlicher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verdeutlichen, dass die große Mehrheit der Bevölkerung solche Maßnahmen befürwortet und unterstützt, um innergesellschaftliches Vertrauen und die Moral der Bevölkerung zu stärken. Hierzu mag nicht nur die durch die rasante Modernisierung entstandene Verunsicherung beitragen, sondern auch, dass die soziale Kontrolle durch den Staat über die Geschichte hinweg stets massiv war und Diskussionen über Technikfolgenabschätzung bislang eher auf geringes Interesse stoßen.

5. Fazit

Was bedeuten diese Erkenntnisse nun für die europäische Sicht auf China und die künftige Kooperation?

Durch einen gewaltigen Reformprozess seit Ende der 1970er Jahre hat sich China innenpolitisch modernisiert, stabilisiert und globalpolitisch zu einer Großmacht entwickelt. Es hat die Armut weitgehend beseitigt, ist zur zweitgrößten Interner Link: Volkswirtschaft der Welt geworden, hat den Lebensstandard der Bevölkerung signifikant erhöht und – historisch gesehen – ein relativ hohes Maß an gesellschaftlicher und persönlicher Freiheit erlangt. Zugleich handelt es sich bei China um einen autoritären Staat, der seiner eigenen Entwicklungslogik folgt, und damit immer wieder in Konflikt mit "westlichen" Wertvorstellungen gerät. Trotz aller Unterschiede sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass grundlegende Globalprobleme (Klimawandel, Migration, Verbreitung von Kernwaffen- bzw. Raketentechnologien, Armutsbekämpfung, globale Gesundheitsprobleme etc.) ohne China nicht zu lösen sind.

Dabei sollten wir nicht unsere Werte, Interessen und Vorstellungen zugunsten eines "Verständnisses des Anderen" in den Hintergrund treten lassen. Es verdeutlicht aber die Notwendigkeit des Dialogs miteinander. Auch wenn der Autoritarismus in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat, so gibt es innerhalb Chinas gleichwohl sehr unterschiedliche und kritische Stimmen im Hinblick auf die Gestaltung der Innen- und Außenpolitik, die Beurteilung des "Westens" oder Kooperation mit dem Ausland. Ein großer Teil der Intellektuellen ist kritisch gegenüber einzelnen Politiken, unterstützt aber zugleich den nationalen Aufstieg und die Vision der Parteiführung. Die Notwendigkeit von "Ordnung", "Stabilität" und inner-gesellschaftlichem Vertrauen wird von den meisten Chinesinnen und Chinesen geteilt.

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Professor Dr. Thomas Heberer (© privat)

Thomas Heberer ist Seniorprofessor für Politik und Gesellschaft Chinas an der Universität Duisburg-Essen. Er beschäftigt sich seit 50 Jahren mit China, hat viele Jahre in China gelebt und gearbeitet. Seit den 1970er Jahren führt er auf jährlicher Basis Feldforschung zu verschiedenen Themen und in verschiedenen Regionen durch. Er hat mehr als 50 Bücher und Hunderte von Aufsätzen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften und Buchpublikationen veröffentlicht und ist Mitglied des Redaktionsausschusses zahlreicher internationaler Fachzeitschriften und Buchreihen. Er ist zugleich Ko-Direktor des Konfuzius-Instituts Metropole Ruhr an der Universität Duisburg-Essen.