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Chinas Olympische Winterspiele 2022 | China | bpb.de

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Chinas Olympische Winterspiele 2022

Gladys Pak Lei Chong Jeroen de Kloet

/ 16 Minuten zu lesen

Die Olympischen Winterspiele sind zweifellos eine Prestigeveranstaltung für die chinesische Regierung. Trotzdem fehlt im Vorfeld der Spiele aller Enthusiasmus, ganz anders als 2008. Braucht China die Welt nicht mehr?

Chinas Regierung und die Bevölkerung sehen den Olympischen Spielen 2022 deutlich weniger enthusiastisch entgegen als 2008. (© picture-alliance, ASSOCIATED PRESS | Mark Schiefelbein)

Dieser Artikel analysiert die Art und Weise, wie die Spiele 2022 innerhalb und außerhalb Chinas organisiert und präsentiert werden und welche Unterschiede sich zu den den Interner Link: Olympischen Sommerspielen 2008 zeigen. In den 14 Jahren, die dazwischen liegen, hat China nicht nur an Selbstvertrauen gewonnen, es ist in dieser Zeitspanne auch zu einer globalen Wirtschaftsmacht aufgestiegen. Auch die Welt ist eine andere: Während man 2008 – trotz der globalen Kritik an der harten Reaktion der chinesischen Regierung auf die Interner Link: Proteste in Tibet – sowohl in China und bis zu einem gewissen Grad auch außerhalb Chinas neugierig und offen auf die Spiele blickte, ist das Jahr 2022 vielmehr von Misstrauen und geschlossenen Grenzen geprägt, wenn nicht sogar von einer allmählichen Rückkehr zu einer geopolitischen Konfrontation zwischen "dem Westen" und China.

Die Olympischen Spiele als Indikator für den Wandel

Als dieser Artikel geschrieben wurde, sind die Olympischen Winterspiele in Peking nur noch wenige Wochen entfernt. Die Olympischen Spiele sind stets auch ein politisches Thema: In den vergangenen Monaten wurden wie bereits im Vorfeld der Spiele 2008 erneut Boykottaufrufe laut. Sie wurden deutlicher, als es im November 2021 um die Sicherheit der chinesischen Tennisspielerin Peng Shuai ging, die behauptete, von dem ehemaligen hochrangigen chinesischen Beamten Zhang Gaoli sexuell missbraucht worden zu sein. Ihr Verschwinden und das anschließende scheinbar inszenierte Wiederauftauchen gaben Anlass zu Diskussionen und Besorgnis. Die Stimmen, die einen Boykott der Olympischen Spiele forderten, waren erneut unüberhörbar. Ob das autoritär kontrollierte China tatsächlich zu Recht Gastgeber dieses Mega-Sportereignisses ist, wird wieder in Frage gestellt. Vor allem wegen Chinas Menschenrechtsverletzungen in der Provinz Interner Link: Xinjiang entschlossen sich die USA und einige andere Länder im Dezember 2021 zu einem zwar nicht sportlichen, aber diplomatischen Boykott der Spiele.

Wenige Wochen vor Beginn der Olympischen Winterspiele fordern Menschenrechtsgruppen in Taiwan den Boykott der Pekinger Spiele. (© picture-alliance, ASSOCIATED PRESS | Chiang Ying-ying)

Seit 2008 hat China mit seiner technologiebasierten, politisch regulierten Wirtschaft einen großen Sprung nach vorn gemacht. Das Land hat vor diesem Hintergrund ein starkes kulturelles Selbstbewusstsein entwickelt. In einem Slogan der Partei heißt es: "Wissenschaft und Technologie sind die Grundlage für den Wohlstand eines Landes, Innovation ist die Seele des Fortschritts einer Nation". Die Art und Weise, wie die Spiele 2022 innerhalb und außerhalb Chinas organisiert und präsentiert werden, ist ein Indikator für diesen Wandel.

Zunächst einmal ist die Eröffnungsfeier der Spiele 2022 für den 4. Februar 2022 geplant. Die Zahl 4 (sì) gilt als unheilvolle Zahl, da sie im Chinesischen wie das Wort "Tod" (sǐ) klingt. Dieses ungünstige Datum spiegelt einen eigenartigen Wandel in der Selbstbehauptung wider, wenn man es damit vergleicht, wie das Land im Jahr 2008 wie besessen die Glück verheißende Zahl 8 ins Spiel brachte: Die Eröffnungsfeier begann am 8. August 2008 um 20.00 Uhr. Die Zahl 8 (bā) klingt ähnlich wie Glück und Wohlstand (fā). Es scheint so, als würde China der Welt verkünden: China ist stark, es braucht nicht mehr die geheimnisvollen Kräfte des Glücks.

Die Olympischen Spiele 2008 in Peking können als Beginn des Aufstiegs des "chinesischen Traums" angesehen werden. Das damalige China war nervös, ängstlich und unsicher, aber es war auch eine Zeit voller Hoffnung und Aufregung. Das Land kämpfte mit seinem Minderwertigkeitskomplex und versuchte, wenn auch voller Unsicherheit, sein Bestes, um den "Traum eines Jahrhunderts" zu verwirklichen und sich von der nationalen Demütigung und dem quälenden Image des "kranken Mann Ostasiens" zu befreien. Werbematerial für die Olympischen Spiele - Slogans, Banner, Plakate, Olympia-Maskottchen und olympische Countdown-Uhren - waren in Peking und in den chinesischen Medien allgegenwärtig. Die Stadt Peking wurde bewusst herausgeputzt, um ihr das Ansehen einer Weltstadt zu sichern. "Neues Peking, großartige Olympische Spiele" war ein Slogan, der den massiven Wandel, der in Peking stattfand, in eine Formel fasste. Prominenten Architekten schufen zahlreiche spektakuläre architektonische Werke. Dazu gehören das China Central Television (CCTV)-Hauptquartier von Rem Koolhaas, das Nationalstadion (auch Bird's Nest genannt) von Herzog & de Meuron und Ai Weiwei, der Beijing Capital International Airport von Foster + Partners und das National Aquatics Centre (auch Water Cube genannt) von PTW Architects. Auch neue Infrastrukturen (z. B. die neuen Pekinger U-Bahn-Linien 8 und 10) wurden geschaffen, um den spektakulären Aufstieg Pekings auf die Weltbühne zu betonen. Internationale Sportveranstaltungen wie "Good Luck Beijing" im Jahr 2007 und Freiwilligenkampagnen wie "Smile Beijing" wurden als Probelauf organisiert, um sicherzustellen, dass China tadellose Spiele haben würde. Um der Welt ein vorzeigbares China zu präsentieren, wurden die Umgangsformen und das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger durch Höflichkeitskampagnen "korrigiert", z. B. indem ihnen beigebracht wurde, wie man sich richtig in eine Warteschlange einreiht oder wie man ausländische Gäste korrekt auf Englisch begrüßt.

Es ist ein verbreiteter Irrtum, dass die Olympischen Spiele 2008 für China lediglich eine Gelegenheit waren, auf der Weltbühne seine Stärke zu demonstrieren. Die Spiele waren ebenso ein strategisch bedeutsamer Moment für die Steuerung der Bevölkerung in China - was möglicherweise sogar noch wichtiger war. Seit der ersten gescheiterten Bewerbung im Jahr 1993 hatte der Staat die volle Unterstützung der Bevölkerung für den Plan, die Olympischen Spiele in China auszurichten. Die weltweite Kritik der gewaltsamen Reaktionen der chinesischen Regierung auf die Proteste der Tibeterinnen und Tibeter im Frühjahr 2008 hat die Begeisterung nicht geschmälert, im Gegenteil, sie hat die Unterstützung noch bestärkt, und geradezu sprunghaft wuchs die Unterstützung nach den internationalen Protestaktionen im Zusammenhang mit dem Fackellauf, sogar innerhalb der chinesischen Diaspora (Abbildung 1). Die Olympischen Spiele wurden genutzt, um den Patriotismus im 1997 zurückgekehrten Hongkong zu fördern, indem man es zum Ko-Gastgeber für die Reitwettbewerbe machte. Die erfolgreich abgehaltenen Olympischen Spiele wurden als der entscheidende Moment interpretiert, in dem sich Chinas “große Verjüngung” zeigte. Sie bestätigten die Legitimität der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), die chinesische Nation zu regieren. Es ist jedoch fraglich, ob der durch die Olympischen Spiele ausgelöste kulturelle oder gar nationale Stolz in Hongkong oder Taiwan eine vergleichbare Unterstützung bewirkte.

"Tibet in China, die Fackel im Herzen" steht auf den T-Shirts: Populäre Unterstützung für China als Gastgeber der Olympischen Spiele 2008, ausgelöst durch die globalen Anfeindungen. (© Gladys Pak Lei Chong)

Werbung für ein aufstrebendes China

Wie warb China bei seinen Bürgerinnen und Bürgern für das große Event 2008? Zu Forschungszwecken lebten wir – Gladys Pak Lei Chong und Jeroen de Kloet – während des olympischen Jahres acht Monate lang in Peking und machten fieberhaft Bilder und Videos. Angesichts der Fülle des Materials, mit dem die Spiele beworben wurden, war dies eine fast unlösbare Aufgabe. In unserer Erinnerung ist die Pekinger Luft in diesem Jahr hoffnungsgeschwängert: Hoffnung auf eine bessere Zukunft, Hoffnung auf mehr Veränderung, Hoffnung auf gute Olympische Spiele. Als im Mai Sichuan von einem Erdbeben heimgesucht wurde, vereinte das Land seine Kräfte, um den Menschen zu helfen. Zwar wurden auch kritische Stimmen laut – man denke nur an die berühmte, von 303 Intellektuellen und Dissidenten, unterzeichnete Charta 08, in der Demokratie gefordert wurde. Doch im Rückblick sind wir von der Energie und dem Optimismus dieses Olympiajahres beeindruckt. Dies spiegelt sich auch in den Bildern wider, die wir in jenem Jahr gesammelt haben. Es war eine Zeit des hektischen (Wieder-)Aufbaus; Kräne dominierten die Skyline (z. B. während des Baus des CCTV-Gebäudes, siehe Abbildung 2), und das Zeichen chai (拆) – das sich auf den geplanten Abriss bezieht - war überall in der Stadt zu sehen.

Der neue Hauptsitz des CCTV-Gebäudes, entworfen von Rem Koolhaas, war 2008 im Bau. (© Gladys Pak Lei Chong)

Der Hauptslogan der Olympischen Spiele - "Eine Welt, ein Traum" - beherrschte jedoch nicht nur das Pekinger Stadtbild (siehe Abbildung 3 und 4), sondern war auch im ganzen Land zu finden, unter anderem an der Großen Mauer (Abbildung 5). Um diese Zeit beschloss die Regierung auch, den Kunstbezirk 798, ein ehemaliger Rüstungsbetrieb der Armee im Nordosten Pekings, als Schaufenster für das neue und zeitgenössische China zu fördern. Während die kritischen Anstöße, die von dem Viertel ausgingen, zuvor ein Grund für den Staat waren, einen Abriss in Erwägung zu ziehen, wurde das Viertel nun als Schaufenster für ein offenes und fortschrittliches China gewürdigt (siehe Abbildung 6).

Der olympische Slogan von 2008 wurde zu Recht für seine Ausschließlichkeit kritisiert: Auf wessen Welt beziehen wir uns, und wessen Traum? Im selben Jahr kamen innerhalb Chinas auch noch andere kritische Ansätze auf. Es war das Jahr, in dem Ai Weiwei eine globale Berühmtheit wurde, aber auch viele andere Kulturschaffende stellten den olympischen Traum in Frage. Ou Nings Dokumentarfilm Meishi Street (2006) beispielsweise porträtierte den Widerstand der Anwohnerinnen und Anwohner einer Straße im Zentrum Pekings gegen den Zwangsabriss. Im Nachhinein zeugt sowohl die Möglichkeit eines solch deutlichen Protests als auch die Tatsache, dass dieser Dokumentarfilm in China produziert und öffentlich vorgeführt werden konnte, von einer relativ offenen Atmosphäre. Während der Olympischen Spiele wurden Wanderarbeiter aus anderen Teilen Chinas - ganz konkret diejenigen, die das olympische Peking gebaut hatten - gezwungen, die Stadt zu verlassen, damit ein sauberes und ordentliches Bild der Stadt präsentiert werden konnte. Einige von ihnen, die einer Musikgruppe angehörten, brachten eine CD mit dem Titel "Our World, Our Dream" (siehe Abbildung 7, linke Seite) heraus, um zu betonen, dass nicht alle Menschen die gleichen Träume haben oder, mehr noch, dass sie die gleichen Träume haben dürfen. Letzteres wurde uns auch deutlich vor Augen geführt, als wir Zeuge eines Protests von Wanderarbeitern in einer Galerie des Quartiers 798 wurden, die dagegen protestierten, dass sie keinen Lohn erhalten hatten (siehe Abbildung 7, rechte Seite).

CD mit dem Titel "Our World, Our Dream" von der Musikgruppe der Wanderarbeiter (li.) | Wanderarbeiter demonstrieren 2008 für ihren ausstehenden Lohn (wörtlich "Pay back my blood-and-sweat-money") im Kunstviertel 798 (re.). (© links: Jeroen de Kloet | rechts: Gladys Pak Lei Chong)

Abgesehen von diesen kritischen Stimmen waren die Olympischen Spiele 2008 ein riesiges Medienspektakel, das sowohl China als auch die Welt faszinierte. Die Monate vor den Olympischen Spielen waren durch eine zunehmende Spannung gekennzeichnet; überall im Land waren Uhren zu sehen, die die Zeit herunterzählten (siehe Abbildung 8). Der scharfe Kontrast zu den Olympischen Winterspielen 2022 ist irritierend. Wo ist dieser Geist der Aufregung und Vorfreude geblieben? Werden wir in der chinesischen Hauptstadt denn überhaupt noch willkommen geheißen?

Die olympischen Countdown-Uhren vor dem Chinesischen Nationalmuseum in Peking. Viele weitere dieser Uhren waren überall in der Stadt zu finden. (© Gladys Pak Lei Chong)

Spiele im Einklang mit dem Zeitgeist

Heute ist China stolz darauf, dass Peking die erste Stadt in der Geschichte der Olympischen Spiele ist, die sowohl die Sommer- als auch die Winterspiele ausrichtet. Der Slogan für die Olympischen Spiele 2022, "Together for a shared future" (Vereint für eine gemeinsame Zukunft 一起向未来), wurde erst am 17. September 2021 bekannt gegeben, weniger als sechs Monate vor Beginn der Winterspiele. Während der Slogan eine ähnliche Weltoffenheit wie "Eine Welt, ein Traum" von 2008 zum Ausdruck bringt, sieht die Realität ganz anders aus. Die harten Realitäten in Xinjiang sowie die beispiellose Geschwindigkeit, mit der Hongkong unter autoritäre Herrschaft gebracht wird, sind nur zwei Beispiele, die den Chor der China-kritischen Kräfte lauter werden lassen und die Aufrufe zum Boykott der Olympischen Spiele weiter verstärken (#NoBeijing22). Außerdem sind aufgrund von COVID-19 keine Ausländer zugelassen, ausgenommen natürlich die Athletinnen und Athleten. Folglich kann das Spektakel nur von chinesischen Zuschauerinnen und Zuschauern und vom Rest der Welt ausschließlich über die Medien verfolgt werden. Diese Distanz steht in gewisser Weise unangenehm im Einklang mit dem aktuellen geopolitischen Zeitgeist, in dem ein globaler geopolitischer Antagonismus auf Kosten einer offeneren, freundlicheren und neugierigeren Haltung zueinander immer stärker wird. Es scheint wenig Hoffnung zu geben, weder in China noch anderswo, dass die Olympischen Spiele irgendetwas erreichen können, um diesen Zustand zu verbessern oder zu befrieden. Es ist schwierig eine Einzelperson, etwa Xi Jinping, dafür verantwortlich zu machen, dass seine Präsidentschaft die Eskalation der Spannungen ausgelöst hat. Vielmehr beobachten wir eine Vielzahl miteinander verwobener Kräfte wie etwa der weltweite Anstieg von Populismus, Autoritarismus und Illiberalismus oder die Covid-19-Pandemie, die grundlegend für das veränderte Gefühl hinsichtlich der Olympischen Spiele 2022 sind. In den Werbe-Materialien für die Olympischen Spiele 2022 wollen wir nach Hinweisen auf diese größeren politischen, sozialen und technologischen Veränderungen suchen.

Es gibt sie im Pekinger Stadtbild, die Uhren, die die bis zum Beginn der Spiele verbleibende Zeit herunterzählen, doch viel weniger als vor den Spielen 2008. (© picture-alliance, Kyodo)

Ein selbstbewusstes China muss sich nicht beweisen

Nur wenige Monate vor den Olympischen Winterspielen, im Sommer 2021, und während der Tokioer Sommerspiele, tauchten Werbespots auf, die die Nationalmannschaft in Peking unterstützten. Ab und zu waren in xiaoqu (Wohngemeinschaften/Nachbarschaft) Plakate zu finden, die für verschiedene olympische Wintersportarten warben, aber sie waren oft mit anderen Anzeigen oder Werbung für öffentliche Dienstleistungen vermischt (Abbildung 10). Mehr als 30 Infrastrukturprojekte wurden gebaut, darunter der von Zaha Hadid entworfene internationale Flughafen Daxing und die Hochgeschwindigkeitsbahn sowie die Wettkampfstätten im Bezirk Yanqing und im Bezirk Zhangjiakou. Aber sie verändern das Stadtbild längst nicht so stark wie die Wettkampfstätten im Jahr 2008. Auch diese Gebäude wurden pünktlich zu den Winterspielen fertiggestellt und zeugen von einem fähigen und selbstbewussten China. Interessanterweise hält es China jedoch nicht mehr für notwendig sich "aufzuhübschen", um zu beeindrucken. In Anlehnung an die globalen Diskurse über Nachhaltigkeit und Umweltschutz wird China mehrere olympische Stätten von 2008 - das Vogelnest, den Wasserwürfel und das Olympic Green - für die Olympischen Spiele 2022 wiederverwenden. Zweifellos wird China bestrebt sein, noch einmal eindrucksvolle Olympische Spiele auszurichten. Aber selbst wenn man die Unterschiede in der Popularität zwischen Sommer- und Winterspielen und die Unwägbarkeiten durch die COVID-19-Pandemie berücksichtigt, deutet die relativ unauffällige Werbung für die Winterspiele darauf hin, dass China nicht mehr allein auf Olympische Spiele angewiesen ist, um sich stark zu präsentieren.

Plakate für die Spiele 2022 in Tuanjiehu Sansitiao, Bezirk Chaoyang in Peking. (Veröffentlichung mit Genehmigung des Fotografen)

Demzufolge ist das Werbematerial relativ spärlich. Zu sehen ist beispielsweise die Werbung für den olympischen Skisport im Bezirk Chaoyang (Abbildung 10). Countdown-Uhren, wie man sie im Jahr 2008 gesehen hat, sind nicht zu finden. Und in den U-Bahn-Stationen gibt es nach der Einführung neuer Regelungen oft keine Werbung mehr. Alles ist weniger spektakulär.

Werbung für den olympischen Skisport mit dem früheren Slogan der Olympischen Winterspiele "Joyful Rendezvous Upon Pure Ice and Snow" in Jianguolu, Chaoyang Bezirk. (Veröffentlichung mit Genehmigung des Fotografen)

Die KPCh scheint also weniger daran interessiert zu sein, sich ihren Bürgerinnen und Bürgern oder der Welt prominent zu präsentieren. Wir deuten dies als Anzeichen für ein größeres kulturelles Selbstvertrauen, das Xi Jinping mit der Doktrin des "Vierfachen Selbstvertrauens" zu fördern versucht. Es scheint der Welt zu demonstrieren, dass es nicht mehr notwendig ist, die einzigartige Stärke des Landes vorzuführen, da die Menschen sich ihrer bereits bewusst sind, wenn nicht sogar Angst davor haben. Die zunehmenden Spannungen sowohl mit Hongkong als auch mit Taiwan sind ebenfalls nicht hilfreich. In Hongkong zum Beispiel konnten wir während der Tokioter Sommerspiele beobachten, dass sich die Menschen in den Einkaufszentren versammelten, um nicht nur das Team aus Hongkong anzufeuern, sondern auch die Länder, die gegen China spielten – zum großen Missfallen der örtlichen Behörden, die ein solches unpatriotisches Verhalten schnell unterbanden.

Bei den Feierlichkeiten zum 95. Jahrestag der KPCh im Jahr 2016 erklärte Xi Jinping: "Das Vertrauen in die Kultur ist im höchsten Maße grundlegend, tiefgreifend, umfassend, elementar, tief verwurzelt und am längsten während. Chinas herausragende traditionelle Kultur hat sich im Laufe der 5.000-jährigen Entwicklung seiner Zivilisation herausgebildet. Sie ist auch eine revolutionäre Kultur und eine fortschrittliche sozialistische Kultur, die durch die großartigen Kämpfe der Partei und des Volkes geformt wurde, und eine Kultur, in der sich die tiefsten Bestrebungen und die charakteristischen Züge des chinesischen Geistes herauskristallisiert haben."

China scheint der Welt zu zeigen, dass es die Olympischen Spiele nicht mehr so sehr braucht wie in der Vergangenheit. Mit seiner stetig wachsenden Wirtschaft, seinem Aufstieg zur Weltmacht und dem gestiegenen kulturellen Selbstbewusstsein, das natürlich den Diskurs einer 5000-jährigen Geschichte aufbietet, sind die Olympischen Spiele 2022 für China nur ein weiterer Anlass, seine Position als Weltmacht zu demonstrieren.

Können die Winterspiele 2022 noch Gemeinsamkeit fördern?

Auf den ersten Blick scheinen die beiden Olympischen Spiele den Übergang Chinas von der Jugend zum Erwachsensein zu symbolisieren: Die Olympischen Spiele 2008 waren wie eine Coming-of-Age-Party für ein China, das sich nach der Anerkennung der Welt sehnte, während die Olympischen Spiele 2022 ein Mega-Event sein werden, um seine herangereifte geopolitische Macht geltend zu machen. Das unsichere China von 2008 weckte gleichwohl Optimismus und Begeisterung und hinterließ den Eindruck, dass China offener und demokratischer werden könnte. Der Staat erklärte sich damals nicht nur bereit, durch die Zuweisung öffentlicher Protestzonen und die Aufhebung von Internetsperren, z. B. für Facebook und die internationale Presse, mehr Raum für einen "Dissens" zu schaffen, sondern förderte auch den Aufstieg eines kreativen Chinas durch Zonen wie das Kunstquartier 798 und die Umwandlung von Hutongs (von traditionellen Höfen gebildete Gassen) in kreative Räume. Die Olympischen Spiele 2008 wurden in China als großer Erfolg gewertet. Der offizielle Fernsehsender (CCTV) übersetzte den Schlusskommentar des damaligen IOC-Präsidenten Jacques Rogge "wahrhaft außergewöhnliche Spiele" mit wuyu lunbi, "unvergleichlich". Das Land nutzte die positiven wirtschaftspolitischen Auswirkungen der Olympischen Spiele, um sich 2013 für die Winterspiele 2022 zu bewerben, und erhielt 2015 den Zuschlag für ihre Ausrichtung.

Die Olympischen Spiele 2022 werden jedoch vor dem Hintergrund zunehmender globaler Vernetzung und Gegnerschaft stattfinden. Kommunikationsinnovationen wie die sozialen Medien haben nicht die Offenheit gebracht, die viele erwartet hatten, und die sich abzeichnende Verschiebung der Weltordnung erzeugt Ängste, die die geopolitischen Spannungen weiter verstärken. Xi Jinpings Aufstieg ging einher mit einer Entwicklung hin zu einem China, das immer selbstbewusster und immer mehr in Kontrolle ist. Die Interner Link: "Belt and Road"-Initiative zeugt von seinem Bestreben, sich jenseits des hegemonialen Westens mit der Welt zu verbinden. Technische Entwicklungen haben Chinas globale Wirtschaftskraft intensiviert und das Selbstbild des Landes als führende wissenschaftlich-technologische Supermacht neu geprägt, als eine Macht, die nicht länger hinter dem Westen zurückbleibt oder ihn lediglich nachahmt. Die umstrittene, aber fast unvermeidliche Rolle, die Huawei bei der weltweiten Verbreitung von 5G-Netzen spielt, ist ein gutes Beispiel dafür.

Die Schließung der chinesischen Grenzen seit Beginn der Pandemie zeugt von der Eigenständigkeit des Landes. China braucht die Welt nicht mehr so sehr wie früher, so scheint es. Bei der Interner Link: Hundertjahrfeier der KPCh im Sommer 2021 sorgte Xi erneut für internationale Schlagzeilen, als er vor Bedrohungen von außen warnte, die "sich die Köpfe blutig schlagen werden an einer Großen Mauer aus Stahl, die von über 1,4 Milliarden Chinesen geschmiedet wurde". Es hat sich ein paradoxer Zustand herausgebildet: Je selbstbewusster China zu sein scheint, desto mehr sieht es sich globalen Anfechtungen ausgesetzt; je mehr es sich schikaniert und gedemütigt fühlt, desto dringender hat es das Bedürfnis, sich zu behaupten; je mehr Kontrolle es im Land und in den internationalen Beziehungen ausübt, desto schwieriger wird es für China, die ersehnte Soft Power zu erlangen.

Der Slogan "Vereint für eine gemeinsame Zukunft" erinnert zwar an das seit 2012 erklärte außenpolitische Ziel der Kommunistischen Partei, eine "Schicksalsgemeinschaft für die Menschheit" (人类命运共同体) zu schaffen, er ruft mit diesen Worten aber auch die Sehnsüchte nach Weltoffenheit, Inklusivität und einer besseren Zukunft wach, die solchen Mega-Events innewohnen. Chinas kulturelles und politisches Selbstvertrauen erfordert vielleicht keine gigantische Feier der bevorstehenden Olympischen Spiele mehr; dennoch reflektiert dieses olympische Motto nicht nur die globale diskursive Rhetorik, sondern vor allem das Bewusstsein für die Bedeutung von Gemeinsamkeit und globaler Zusammenarbeit für China und die Welt.

Übersetzung vom Englischen ins Deutsche: Sabine Peschel

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Gladys Pak Lei Chong ist außerordentliche Professorin am Department of Humanities and Creative Writing an der Hong Kong Baptist University. Ihre Forschungsinteressen umfassen chinesische Regierbarkeit, Machtverhältnisse, Subjektivierungsprozess, (Techno-)Nationalismus, Überwachung und Kommunikationstechnologie.

Jeroen de Kloet ist Professor für Globalisierungsforschung und Leiter des Department of Media Studies sowie Mitglied der Amsterdam School for Cultural Analysis (ASCA) der Universität Amsterdam.