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Die Komplexität der Tibetfrage | China | bpb.de

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Die Komplexität der Tibetfrage

Prof. Dr. Thomas Heberer Thomas Heberer

/ 17 Minuten zu lesen

Schon immer ist Tibet ein Spielball unterschiedlicher Weltmächte gewesen – von Großbritannien über Russland bis hin zur Volksrepublik China. Die Forderungen des Dalai Lama und der tibetischen Exil-Regierung nach mehr Autonomie oder gar Unabhängigkeit sind bislang allerdings von keinem Erfolg gekrönt, wie historische Stationen belegen.

Der Potala-Palast in Lhasa, 1938. (Bundesarchiv, Bild 135-S-15-04-37 / Fotograf: Schäfer, Ernst) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Der rechtliche Status Tibets vor 1950

Ab 1720 besaß Tibet den Status eines mit China assoziierten Gebietes. Damals wandten sich die Tibeter an den chinesischen Kaiser mit der Bitte um militärische Unterstützung gegen eine Invasion der Dsungar-Mongolen. Nach deren erfolgreichen Vertreibung schloss Kaiser Kang Xi einen Vertrag mit dem Dalai Lama, durch den sich Tibet der Schutzmacht China unterstellte. Es erkannte die Oberhoheit Chinas an, die Regierungs­gewalt jedoch lag beim Dalai Lama. Tibet befand sich damit im Zustand der Suzeränität, nicht aber der Sou­veränität. D.h., militärische Sicherheit und Außenpolitik lagen beim Kaiserhof in Peking, der sich im Gegenzug verpflichtete, Tibet jeden erdenkbaren Schutz zu gewähren. Die innere Verwaltung hingegen lag beim Dalai Lama und seinem Hofstaat, wie es der traditionellen Politik des Kaiserhofes entsprach.

Danach wurden Siedlungsgebiete nicht-chinesischer Völker nicht direkt durch chi­nesische Beamte verwaltet. Vielmehr erhielten in Gebieten, in denen Macht- und Organisations­struktur der Stammesgesellschaften noch ungebrochen waren, einheimische Führer vom Kaiserhof erbliche Titel und Ränge innerhalb der chinesischen Beamtenhierarchie. Die so ge­schaffenen "Beamten" übten ihre Befugnisse unter der Aufsicht chinesischer "Schutz­herren" aus. Da in diesen Regionen auch die unteren Beamten aus den Reihen der loka­len Führer stammten, spürten die so ins chinesische Reich integrierten Völker oder Stämme die Oberhoheit des Kaiserhofs nicht direkt. Zu unmittelbaren Eingriffen des Kaiserhofes kam es nur, wenn dessen Oberhoheit in Frage gestellt wurde oder Stämme sich auf­lehnten. Nicht militärische Eroberung, sondern indirekte Verwaltung war für diese Po­litik kennzeichnend. Dementsprechend hielten sich die Bevollmächtigten des chinesi­schen Kaiserhofes in Tibet, die Ambane, während der Qing-Dynastie bei Eingriffen in innere Angelegenheiten Tibets zurück, wobei es zugleich nur eine marginale Militärpräsenz gab. Daraus kann jedoch nicht auf eine Selbstständigkeit Tibets geschlossen werden. Ti­bet hatte sich der Oberhoheit Pekings unterstellt, und die Ambane übten die Kontrolle über die lokale Verwaltung aus.

Das war jedoch kein statischer Zustand bis zur chinesischen Revolution von 1911. Das Vorrücken der Briten auf dem indischen Subkontinent veränderte die Machtverhältnis­se in Asien. China wurde selbst Opfer kolonialer Machtpolitik und erlitt eine empfind­liche Schwächung, von der auch die Schutzmacht über Tibet berührt wurde. Der Kai­serhof bemühte sich, seine Schwäche durch ein energischeres Vorgehen in Nord- und Osttibet auszugleichen, um dort territoriale Verluste zu verhindern. Tibet sah sich durch die britische Unterwerfung Indiens und das Vorrücken der Kolonialmacht an seinen Gren­zen bedroht. Daher schloss es bereits Ende des 18. Jahrhunderts sein Gebiet für Personen aus "westlichen Mächten". Da Tibet eine "Schutzmacht" England ablehnte, China jedoch diese Funktion immer weniger auszuüben vermochte, bemühte sich Tibet seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts um Äquidistanz, d.h. es pendelte zwischen beiden Seiten, um keine von ihnen zum Eingreifen zu provozieren.

Als Peking 1908/09 seine Kontrolle über Osttibet zu verstärken und damit das Funda­ment der bisherigen Beziehungen zu untergraben begann, wandte sich der Dalai Lama an Großbritannien und bat um die Errichtung eines Protektorats. London lehnte dies ab, weil Tibet, wie es in einem britischen Dokument hieß, als "wertloses Stück Territorium" betrachtet wurde. Die Kosten einer Inbesitznahme wurden als zu hoch veran­schlagt; eine Übernahme hätte zudem zu Konflikten mit Russland geführt. Diese beiden Mächte einigten sich darauf, Tibet als Puf­ferzone zwischen ihren Einflusssphären zu etablieren, vorzugsweise unter chinesischer Oberhoheit. Nach dem Ende der kaiserlichen Herrschaft in Peking erklärte der Dalai Lama sein Land 1913 für unabhängig. China erkannte diesen Schritt nicht an und gab seinen Anspruch auf Tibet nie auf. Dies gilt für die Guomindang unter Sun Yatsen, Chiang Kaishek und dessen Nachfolger ebenso wie für die Kommunistische Partei (KP). Vor dem Ein­marsch der Chinesen 1950 hatte kein Staat Tibet als selbstständiges völkerrechtliches Sub­jekt anerkannt. Verträge zwischen Großbritannien und China bekräftigten auf allerdings widersprüchliche Weise, dass Tibet zwar unabhängig sei, aber chinesischer Oberherr­schaft unterstehe.

Unterschiedliche Rechtsauffassungen

Bei Zugrundelegung der Konvention über die Rechte und Pflichten von Staaten des Völ­kerbunds von 1933 waren für die Anerkennung eines Staates bestimmte Kriterien maßge­bend: permanente Bevölkerung, fest umrissenes Territorium, eine Regierung und die Fähigkeit, Beziehungen zu anderen Staaten aufzunehmen. Drei dieser Erfordernisse waren im Falle Tibets erfüllt. Durch die selbst gewählte Isolation gab es allerdings keine Beziehungen zu anderen Staaten. Von daher war Tibet vor 1950 auch kein inter­national anerkannter Staat. Die fehlende Anerkennung durch die Staatengemeinschaft, die Zuordnung zu China und der von Peking aufrechterhaltene Anspruch lassen den völ­kerrechtlichen Status des Landes vor 1950 als nicht eindeutig erscheinen.

Zwar hatte Ti­bet sich für unabhängig erklärt, es zugleich aber versäumt, die Unabhängigkeit interna­tional abzusichern. Damit fehlten 1950 drei entscheidende Voraussetzungen für die Unab­hängigkeit: 1. eine frühere Beteiligung am Leben der internationalen Staatengemein­schaft; 2. die Fortdauer der Schwäche Chinas; 3. eine Schutzmacht, die, nach dem Rückzug Großbritanniens aus Indien im Jahr 1947, die gewaltsame Eingliederung durch China hätte verhindern können.

Die tibetische Regierung hatte 1947/48 vergeblich Missionen in die Hauptstädte der wichtigsten westlichen Staaten gesandt, um eine Anerkennung zu erreichen. Der Wi­derstand der damals noch von der Guomindang (Nationale Volkspartei) gestellten Regierung in Peking ließ de­ren wichtigsten Verbündeten, die USA, das Ansinnen zurückweisen. Auch nach ihrer Übersiedlung nach Taipeh verhinderte die nicht-kommunistische Führung der Repu­blik China, die noch jahrzehntelang den Sitz im UNO-Sicherheitsrat innehatte, eine Änderung der westlichen Haltung. Auch wollten sich Großbritannien (als Kolonialmacht in Hongkong) und Frankreich (als Kolonialmacht in dem an China grenzenden Indochina) auf keinen Konflikt mit Peking einlassen, weil dieser ihre kolonialen Interessen in Fernost hätte beeinträchtigen können.

Aus chinesischer Sicht erschien die gewaltsame Wiedereingliederung Tibets völlig gerecht­fertigt. China ging und geht von einem anderen Nations- und Staatsbegriff aus als die westlichen Länder. Danach sind alle Völker, die bis 1911 auf chinesischem Territorium gelebt haben, Teil des chinesischen Volkes. Der in China verwendete Begriff "Chinesen" ("Zhongguoren") schließt alle Bewohner des Landes unabhängig von ihrer Nationalität ein. Die Angehörigen der Mehrheitsnationalität heißen "Han" und gelten als eine der 56 Nationalitäten des Landes. Anders als in Westeuropa, wo im 18. und 19. Jahrhundert re­lativ einheitliche Nationen Nationalstaaten bildeten (Übereinstimmung von National- und Nationsprinzip), wurde in China das Territorialprinzip zum Nationsprinzip gemacht. Bereits Sun Yatsen, der Gründer der Republik China, schrieb nach der Unab­hängigkeitserklärung des äußeren Teils der Mongolei (die später zur Gründung der Mongolischen Volksrepublik führ­te), auch die Mongolen seien und blieben Chinesen, auch wenn sie dies eine Zeitlang ver­gessen hätten.

Der Dalai Lama

Dalai Lama während eines Besuchs im größten Kloster der Mongolei, Gandantegcheling in Ulan Bator. (© AP)

Der Titel "Dalai Lama" (Mongolisch: ozeangleicher Lehrer) wurde im 15. Jahrhundert vom mongolischen Kaiserhof dem Oberhaupt der mächtigen und promongolischen "Gelbmützenbewegung" innerhalb des tibetischen Buddhismus verliehen. Der Dalai Lama gilt nicht nur als Reinkarnation des Gründers der Gelbmützen und spirituelles Oberhaupt der Tibeter, sondern auch als Wiedergeburt des Bodhisattva Avalokitesvara, des Bodhisattva (d.h. ein Wesen, das auf dem Weg zur Buddhaschaft ist) des unversellen Mitgefühls, der zugleich der Schutzpatron Tibets ist.

Der gegenwärtige Dalai Lama, der den offiziellen Namen Jetsun Jamphel Ngawang Lobsang Yeshe Tenzin Gyatso trägt, wurde 1935 im nördlichen Teil Tibets (Amdo) geboren, der zur chinesischen Provinz Qinghai gehört. Nach einem Aufstand in Lhasa floh er 1959 nach Indien. Er residiert heute als Oberhaupt der tibetischen "Exilregierung" in Dharamsala/Indien.

Von daher stehen sich hier zwei unterschiedliche Rechtskonzepte gegenüber. Nach den Normen des heutigen Völkerrechts war die Ausdehnung der chinesischen Macht auf Ti­bet eindeutig eine Okkupation. Nach chinesischem Rechtsverständnis dagegen handel­te es sich um die Wiederherstellung legitimer Rechte, die China lediglich aufgrund zeit­weiliger Schwäche und Zerrissenheit nicht hatte ausüben können. Peking hatte demnach nichts anderes getan, als einem lange missachteten Rechtsprinzip wieder Geltung zu ver­schaffen. Bei dem chinesischen Vorgehen dürfte auch die militärstrategische Lage Tibets ein wichtiger Gesichtspunkt gewesen sein. Tibet verfügt über eine natürliche Grenze nach Süden. Diese strategische Bedeutung darf, vor allem unter den Bedingungen des Kalten Krieges, als nicht gering bewertet werden. Tibet schafft zugleich eine natürliche Grenze und Barriere gegenüber dem Rivalen Indien, mit dem nach wie vor Grenzstreitigkeiten bestehen. Überdies war es als große, menschenleere Region mit großem Rohstoffpotenzial für China interessant.

Die chinesische Tibet-Politik

1951 zwang China der tibetischen Regierung ein "17-Punkte-Abkommen" auf. Darin erklärte sich Peking seinerseits bereit, nichts am politischen System Tibets zu ändern, Re­ligionsfreiheit sowie lokale Sitten und Bräuche zu respektieren, die Klostergemeinschaf­ten und deren Einnahmen sowie tibetische Sprache und Schrift zu schützen. Das bezog sich allerdings von vornherein nur auf die tibetische Provinz U-Zang, das heutige Auto­nome Gebiet Tibet, nicht aber auf die beiden anderen Provinzen des Berglandes, Amdo und Kham, die im 18. und 19. Jahrhundert chinesischen Provinzen zugeschlagen worden waren und heu­te zu den Provinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan gehören.

Die Konflikte zwi­schen Chinesen und Tibetern spitzten sich zunächst in den tibetischen Siedlungsgebie­ten zu, für die das Abkommen nicht galt. Dort wurden − wie im übrigen China − die po­litischen Verhältnisse in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre von Grund auf verändert. Die Freiheiten der Religionsausübung wurden erheblich eingeschränkt, Klöster enteignet bzw. geschlossen, deren Mönche ei­ner "Umerziehung durch körperliche Arbeit" unterworfen. Die sich daraus ergebenden Konflikte, eine zunehmende religiöse Einengung und politische Gängelung sowie das Feh­len jeder rechtlichen Gewähr für die Einhaltung des "17-Punkte-Abkommens" führten zum tibetischen Aufstand von 1959, in dessen Verlauf etwa 87.000 Tibeter ihr Leben verloren und 100.000 weitere mit dem Dalai Lama nach Indien flüchteten.

In der Zeit nach 1959 wurden die traditionellen Strukturen Tibets gewaltsam beseitigt. Dies betraf vor allem die tibetische Elite und den Grundpfeiler der tibetischen Kultur, die Klöster. Mit der Zerstörung eines Großteils der Klöster verschwanden praktisch alle Bildungs-, Kultur- und Religionsinstitutionen Tibets. Das lastet die Parteiführung heute der "Kulturrevolution" und der "Viererbande" an, wobei es zugleich heißt, auch die Han-Chinesen seien damals Opfer gewesen. Zweifel­los war die Gesamtbevölkerung Chinas von der damaligen Brutalität betroffen − al­lerdings mit einem gravierenden Unterschied: Für Chinesen war die Kulturrevolution ein politischer Konflikt, von dem das eigene Volk (die Han) betroffen war; für die Tibeter dagegen handelte es sich um einen nationalen Konflikt, der von Han-Chinesen ausging und sich gegen ein anderes Volk, die Tibeter, richtete.

Als der damalige Generalsekretär der KP China, Hu Yaobang, 1980 als erster Parteichef Ti­bet einen Besuch abstattete, war er erschüttert. Er fand eine bettelarme Region vor, de­ren Führung mit falschen Erfolgsmeldungen die Parteiführung in Peking jahrzehntelang hinters Licht geführt hatte. Daraufhin veranlasste Hu einen "Tibet-Beschluss", der weit­reichende ökonomische Freiheiten und Sondermaßnahmen vorsah. Von nun an wurde nicht mehr wahllos alles Tibetische unterdrückt, vielmehr schlug sich die Reformpolitik in größeren wirtschaftlichen Freiheiten sowie kultureller und religiöser Liberalisierung nieder. Viele Tibeter hofften damals auf größere Selbstverwaltungsrechte. Aber letztlich änderte sich trotz größerer ökonomischer Freiheiten nur wenig an der politischen Rigidität.

Letztlich hat die Liberalisierung das Entstehen eines ethnischen Eigenbewusstseins unter den Tibetern begünstigt. Doch schon in den 1980er-Jahren kam es zu wachsenden Spannungen zwischen den Klöstern und der Partei, da die Einkommenszuwächse in Tibet weniger den Konsum stimulierten, sondern überwiegend in Wiederaufbau und Entwicklung der Klöster investiert wurden. Als Ende der 1980er-Jahre konservative Kräfte in der Partei dieser Entwicklung gegenzusteuern versuchten und begannen, die Zahl der Mönche und die Einnahmen der Klöster unter Kontrolle zu nehmen, kam es 1989 zu massiven Protesten, wobei die Parteiführung am Ende das Kriegsrecht ausrief. Die Tibet-Politik begann, sich neuerlich zu verhärten.

Die Parteiführung zog aus dieser Entwicklung den Schluss, dass Tibet durch Ausbau des Straßennetzes und den Bau einer Eisenbahn stärker an den Rest von China angebunden werden müsse und investierte Milliarden in ein entsprechendes Programm. Letztlich verstärkte sich die Abhängigkeit Tibets von Peking, da Tibet finanziell in jeder Hinsicht nahezu vollkommen auf Zuweisungen der Zentralregierung angewiesen ist.

Von Ethnizität zu Nationalismus

Wenn sich der innerchinesische Nationalitätenkonflikt − abgesehen von Xinjiang − heute in Tibet am schärfsten äußert, so liegt dies daran, dass hier ein Volk mit hohem eth­nischen Eigenbewusstsein in einem relativ geschlossenen Siedlungsgebiet lebt und sich kulturell wie historisch als eigenständige Nationalität versteht. Das ethnische Wir-Gefühl (Ethnizität) wurde durch die während der Kulturrevolution versuchte Zwangsassimilierung nicht be­seitigt. Doch erst die Politik der Liberalisierung und Außenöffnung ermöglichte es, dass es sich äußern konnte, sich dann angesichts des Ausbleibens der erhofften Veränderungen politisierte und schließlich in ethnischen Nationalismus umschlug.

Die bei den Tibetern über Jahrhunderte hinweg entstandene Einheit von nationaler und religiöser Identität, die den Buddhismus nicht nur Religion, sondern auch Kultur, Zivi­lisation und Substanz allen Lebens sein lässt, hat seit jeher dazu geführt, dass − anders als in Korea, Japan und Vietnam − der chinesische Einfluss in Tibet eng begrenzt blieb. Die seit den 1980er-Jahren zu beobachtende Renaissance des tibetischen Buddhismus ist daher als Aus­druck eines zunehmenden ethnischen Eigen- und Selbstbewusstseins zu werten. Dabei führt die Religion nicht nur zur Rückbesinnung auf die eigene Kultur und kulturelle Identität, sondern dient auch der Verarbeitung des sozialen Wandels.

Die enge Verflechtung von Religion und Nation zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Mön­che und Nonnen führende Kräfte in der nationalen Bewegung sind. Das liegt zum einen in der traditionell führenden politischen Rolle der Klöster begründet. Zum anderen sind die Mönche und Nonnen aufgrund ihrer geistigen Ungebundenheit und Unbestechlichkeit die natürlichen Bewahrer der tibetischen Kultur. Drittens muss, wer ins Kloster gehen will, zahlreiche bürokratische Hürden überwinden; er führt nicht mehr − so wie früher − ein Leben in sozial gesicherter Umgebung und fasst darum seinen Entschluss in Kenntnis großer bevorstehender Ungewissheit um der tibetischen Kultur und Nation willen.

Aufgrund des Zölibats können sich die Mönche und Nonnen viertens bedin­gungsloser für die tibetische Unabhängigkeit einsetzen und größere Opferbereitschaft an den Tag legen. Die Klöster bieten fünftens geistigen Freiraum, der unter anderem durch das liberale und humanitäre Gedankengut der buddhistischen Lehre bedingt ist. Schließ­lich hat das Mönchsgelübde den Einsatz für die Gemeinschaft − und das bedeutet Ein­satz für die Belange Tibets − zum Inhalt. Wer dieses Gelübde treu erfüllt und vielleicht sogar sein Leben dafür opfert, dem ist der Lohn, die Wiedergeburt als mensch­liches Wesen im nächsten Leben, gewiss. Dies wiederum erscheint wichtig für das Errei­chen des geistlichen Endziels, des Nirwana. Daher verschmelzen für den Tibeter im Mönchsein religiöse und nationale Ziele.

Die inneren und äußeren Bedingungen für den tibetischen Nationalismus haben sich in den 1990er-Jahren verändert. Aus der jüngeren Generation inner- und außerhalb der Klöster wurde zu organisierten Formen des Widerstands übergegangen. Diese Generation ist unter chinesischer Herrschaft aufgewachsen, kennt das traditionelle Ti­bet nicht mehr und orientiert sich nicht unbedingt an Werten wie friedlichem Wider­stand. Zugleich haben die Öffnung Chinas, die Reformpolitik und die dadurch ermög­lichte soziale Mobilität zu einem Nachlassen der Regierungskontrolle über die Regionen geführt. Der Zerfall der Parteistrukturen, vor allem in den ländlichen Regionen, lässt einen Teil der tibetischen Funktionäre nicht mehr so sehr die Interessen des chinesischen Staates als vielmehr diejenigen der Ti­beter vertreten. Zudem hat sich im Ausland die Aufmerksamkeit für Tibet verstärkt. Auch unter einem kleinen Teil der chinesischen Intellektuellen scheint das Verständnis für eine größere Autonomie Tibets ge­wachsen zu sein.

Mögliche Perspektiven

Historisch gesehen, war ein Konflikt zwischen Han-Chinesen und Tibetern nicht notwendig programmiert. Auch wenn die Tibeter 1950 nicht Teil Chinas werden wollten: Eine Autonomie, aufgrund deren eine freie innere Entwicklung möglich gewesen wäre, hätte sie mit einer chinesischen Oberhoheit durchaus versöhnen können. Die chinesische Politik hat vornehmlich durch die Radikalpolitik der Mao-Ära nicht nur das Vertrauen der Tibeter, sondern auch Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt Tibets nachhaltig beeinträchtigt.

Eine Loslösung Tibets ist kaum vorstellbar. Sie wäre auch nur bei einem extremen Umbruch in der Volksrepublik Chi­na und mit äußerer Unterstützung denkbar. Zudem wäre eine solche Entwicklung ein Gesichtsverlust für jede chinesische Führung. Diese müsste zudem befürchten, dass dadurch weitere Se­zessionsbestrebungen ermutigt werden würden. Die Tibet-Frage könnte nicht als gelöst gelten, wenn China lediglich so wie ab 1912 aufgrund innerer Schwäche die Kontrolle über Tibet verlieren würde. Nach erneutem politischem Erstarken würde Peking dann ein weiteres Mal versuchen, Tibet gewaltsam wiedereinzugliedern. Obwohl nach einem grundlegenden innenpolitischen Wandel Chinas eine Unabhängigkeit Tibets nicht völlig auszuschließen ist, erschienen die in den 1980er-Jahren vorgetragenen Forderungen des Dalai Lama realistisch zu sein: Umwandlung Tibets in eine Friedenszone, sofortiger Stopp der chinesischen Migration nach Tibet, Respektierung der grundlegenden Menschenrechte und der demokratischen Freiheiten der Tibeter, Wiederherstellung und Schutz von Na­tur und Umwelt, schließlich ernsthafte Verhandlungen über den künf­tigen Status Tibets. Ausgehend von der gegenwärtig bestehenden Lage, wäre gemäß den Vorstellungen des Dalai Lama eine Entwicklung zu einem mit China assoziierten Staat denkbar, der sich, abgesehen von der Außen- und Militärpolitik, selbst verwalten wür­de, so wie es bis 1911 der Fall war.

Die Aussichten, dass die Verhandlungen zwischen der chinesischen Regierung und Vertretern des Dalai Lama künftig erfolgreicher verlaufen, sind derzeit gleich Null. Zwar sind die Verhandlungen, die bereits über Jahre hinweg geführt wurden, noch vor den Olympischen Spielen wieder aufgenommen worden, aber sie standen – nach den Unruhen in Tibet im Frühjahr 2008 − unter einem ungünstigen Stern. Zudem ging die tibetische Seite von falschen Vorstellungen aus, denn sie glaubte, die Voraussetzungen seien infolge internationalen Drucks besser als zuvor. China befindet sich jedoch in einer Position der Stärke und hat in­soweit die Unterstützung der Staatengemeinschaft, als diese einhellig Tibet als Teil Chinas begreift. Die Kritik einzelner Länder bezieht sich lediglich auf die Einhaltung der Menschenrechte.

Sollte es unter veränderten Bedingungen zu Verhandlungen kom­men, dann läge das erste Problem in der Frage, welche Grenzen Tibet hat. Während sich die tibetische Exilregierung auf Großtibet bezieht, umfasst Tibet für Peking nur die heutige "Autonome Region". Die Vertreter einer tibetischen Unabhängigkeit zielen sogar letztlich auf ei­nen Nationalstaat ab, der historische, ethnische und geografische Grenzen zur Deckung bringen soll. Dieses Großtibet würde mehr als ein Fünftel des gegenwärtigen chinesischen Territoriums umfassen, mit Sonderrechten für Tibeter (0,5 Prozent der Bevölkerung Chinas) ausgestattet, nicht jedoch für die dort lebenden Han-Chinesen. Auf diesem Territorium, von dem über die Hälfte seit 100 bis 200 Jahren nicht mehr den tibetischen Behörden untersteht, übertreffen zudem die Chinesen mit ihren über sieben Millionen Einwohnern die Zahl der Tibeter erheblich.

Es war letztlich problematisch, dass die tibetische Seite an dieser Forderung der Zusammenführung zu einem Großtibet festhielt. Doch auch die Forderung nach "demokratischer Selbstverwaltung" ist in einem autoritären Staatsgebilde kaum zu realisieren. Zudem ist der chinesischen Regierung suspekt, dass der Dalai Lama zwar Autonomie innerhalb des chinesischen Staatsverbandes fordert, die tibetische Exilverfassung allerdings ein "freies Tibet" anstrebt, ein Begriff, der bisher nicht klar definiert wurde. Überdies wäre es ungerecht, ja unklug, den Tibetern allein ein großes Maß an Selbstverwaltungsrechten einzuräumen, nicht jedoch den anderen ethnischen Minoritäten auf dem Territorium Chinas. Dies würde zweifellos zu erheblicher Unzufriedenheit bei den anderen Völkern führen. Von daher reicht die Autonomiefrage weit über die Tibetfrage hinaus. Ein neues Konzept hat die Delegation des Dalai Lama nicht vorgelegt. Entsprechend waren auch keine Verhandlungsfortschritte zu erwarten. Die den Dalai Lama unterstützenden Politiker im Westen haben – meist aus innenpolitischen Gründen − viel Wert auf Publizität beim Empfang des Dalai Lama gelegt, nicht aber auf die Konzipierung einer sachdienlichen Verhandlungsgrundlage.

Zwar hat der Dalai Lama in einem Interview mit dem deutschen Journalisten Franz Alt im Mai 2008 erklärt, dass Tibet völkerrechtlich Teil Chinas sei und die chinesischen Streitkräfte auch künftig in Tibet stationiert sein sollten, auf der Homepage der tibetischen Exilregierung ist aber nach wie vor die Rede davon, dass Tibet Unabhängigkeit anstrebe.

Auch die chinesische Führung blendet bei der Analyse der Lage in Tibet innere Kernursachen aus. Bei den Protesten im Frühjahr 2008 z.B., die in China als "von der Dalai-Lama-Clique" initiiert bezeichnet worden waren, wurden die Schuldigen im Ausland gesucht und erklärt, die übergroße Mehrheit der Tibeter sei mit den Verhältnissen zufrieden. Sie hat zweifellos Recht, dass die Proteste vor dem Hintergrund der Olympischen Spiele organisiert worden sind und nicht spontan waren. Und sie waren auch nicht friedlich. Sie haben nicht nur Tibeter das Leben gekostet, sondern auch Han-Chinesen und Angehörige der muslimischen Hui-Minderheit. Doch Zuwanderungen in die Minderheitengebiete, kontinuierliche Eingriffe ins religiöse Leben, steigende Arbeitslosigkeit, die oftmals schlechtere Bezahlung von Angehörigen ethnischer Minderheiten, schlechtere Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten und vor allem das geringe Maß an tatsächlicher Autonomie verstärken die Unzufriedenheit in Tibet und anderen Minderheitengebieten Chinas.

Die soziale Unzufriedenheit tibetischer Jugendlicher mag ein Grund dafür gewesen sein, weshalb sich zunächst friedliche Proteste von Mönchen durch Beteiligung von Jugendlichen zu Gewaltakten verdichteten. Erstaunlich war, dass sich, im Gegensatz zu den Protesten der 1980er- und 1990er-Jahre, im Jahr 2008 Angehörige aller Schichten und aus allen tibetischen Siedlungsgebieten in China daran beteiligten.

Die Vernachlässigung der kulturellen und sozio-ökonomischen Komponenten in der chinesischen Minoritätenpolitik bewirken, dass die Konflikte nicht wirklich aufgelöst werden können. Das Unverständnis von den realen Ursachen schlägt sich nicht zuletzt auch in einer Politik nieder, die weniger auf Konfliktminderung, sondern eher auf Indoktrinierung setzt. Dies zeigen nicht nur die kontinuierlichen "patriotischen Erziehungskampagnen". So hat Anfang 2009 der Ständige Ausschuss des Volkskongresses von Tibet auch beschlossen, den 28. März zum jährlich zu begehenden "Tag der Befreiung von Millionen von [tibetischen] Leibeigenen" auszurufen, zum einen, weil die "Dalai-Lama-Clique" die früheren Verhältnisse wiederherstellen wolle, andererseits, weil die tibetische Jugend nichts über die frühere Zeit wisse. Letztlich dürfte dies von den Tibetern jedoch eher als Schmach denn als Freudentag begriffen werden.

China fühlt sich in der Position der Stärke und lehnt daher eine weitergehende Autonomie grundsätzlich ab. Eine Unabhängigkeit wäre ohnehin nicht vorstellbar, solange die politische Lage in China relativ stabil bleibt. Zu groß ist die quantitative und militärische Überlegenheit der Chi­nesen. Ohne eine grundlegende Demokratisierung Chinas dürfte es auch keine Änderung in der Nationalitätenpolitik Pekings geben. Wie vor allem chinesische Intellektuelle im Ausland glauben, könnte es, nach Installierung eines de­mokratischeren Systems, durchaus eine Chance geben, einen föderativen Staat zu schaf­fen.

Eine föderalistische Regelung böte sich nicht nur für Tibet oder Taiwan an, sondern auch für zahlreiche andere Regionen, in denen Nicht-Han-Völ­ker leben. Sie würde nicht nur den ethnischen Gegebenheiten entsprechen. Auch den räumlichen Bedingungen könnte auf diese Weise Rechnung ge­tragen werden. Die Zentralregierung tut sich auf Grund der Größe und Vielfalt des Landes seit jeher schwer, flexibel und sachadäquat zu handeln. Doch wenn sich die Haltung der Chi­nesen gegenüber den Nicht-Han-Völkern nicht ändert, wird auch ein föderalistisches System die Probleme nicht lösen. Ein dauerhaftes, stabiles föderalistisches System lässt sich nur auf Grund des Konsenses zwischen allen beteiligten Völkern schaffen.

Auch die internationale Staatengemeinschaft wird von dem Prinzip nicht abgehen, dass Tibet ein Teil Chinas ist. Auch weiterhin werden die westlichen Länder nur an den Verletzungen der Menschenrechte in Tibet Kritik üben. Dafür gibt es zahlreiche Gründe – und zwar nicht nur das In­teresse am China-Handel, wie Nichtregierungsorganisationen oft meinen. Für die Staa­tengemeinschaft ist der territoriale Status quo generell ein schützenswertes Prinzip. Wenn die westlichen Staaten, für die Tibet bislang ein Teil Chinas war, plötzlich für die tibetische Unabhängigkeit votierten, wäre dies ein außenpolitischer Affront gegen Chi­na, der auch zu innenpolitischer Verhärtung führen würde. Zugleich würde sich dadurch nichts bewegen. Die Verhärtung würde im Gegenteil den Spielraum der oppositionellen Kräfte in China und in Tibet weiter einengen. Auch würde der gegenwärtige Umgestaltungsprozess in China, der nicht nur ökonomische, sondern auch politische Implikationen hat, geschwächt werden.

Erst ein Systemwandel in China jedoch kann neue Perspektiven in der Tibet-Politik eröffnen. Erst danach kommt auch das außenwirtschaftliche Interesse am "chinesischen Markt" ins Spiel, im Vergleich zu dem Tibet einen weit geringeren ökonomischen "Wert" für die westlichen Industriestaaten besitzt. Solange sich die gegenwärtigen Rahmenbedingungen nicht ändern, kann der Schwer­punkt westlichen Engagements für Tibet nur darauf liegen, dass die Menschen­rechtsfrage gestellt, ein Dialog Pekings mit dem Dalai Lama angeregt und im Interesse der tibetischen Bevölkerung und zur Verbesserung der Lebensbedingungen in Tibet Entwicklungsmaßnahmen eingeleitet werden.

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Prof. Dr. Thomas Heberer, geb. 1947, Professor für Politik Ostasiens am Institut für Ostasienwissenschaften und am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte: Politischer und sozialer Wandel in China, die politischen Kulturen Chinas, Fragen der Nationalitätenpolitik sowie verschiedene Aspekte der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung.