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Naxaliten: "Größte Herausforderung für die innere Sicherheit" | Indien | bpb.de

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Naxaliten: "Größte Herausforderung für die innere Sicherheit" Maoistische Rebellen kontrollieren bereits große Teile des Landes

Suhas Chakma

/ 6 Minuten zu lesen

Seit Ende der 60er Jahre haben die so genannten Naxaliten – eine maoistische geprägte Guerilla-Bewegung – erheblich an Stärke und Intensität gewonnen. In einigen Regionen hat sich der Konflikt zum offenen Bürgerkrieg ausgeweitet, der jährlich Hunderte Todesopfer fordert.

Junge Frauen in einem Ausbildungslager der Salwa Judum ("Friedensmission") in Chattisgarh
Foto: Asian Center for Human Rights

Die Ursprünge des indischen Naxalismus liegen in den 60er Jahren. Ein Aufstand armer Landarbeiter gegen Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung im Dorf Naxalbari (Unionsstaat Westbengalen) gab der linksextremistischen Bewegung ihren Namen, wobei der so genannte Naxalbari Day als eigentliche Wiege der Massenerhebung gilt. Am 25. Mai 1967 starben bei einem Übergriff der Sicherheitskräfte auf eine öffentliche Versammlung elf unschuldige Menschen, darunter sieben Frauen und zwei Kinder. Die Tat war eine Vergeltungsmaßnahme, denn tags zuvor hatten Unbekannte einen Polizisten getötet, der an Aktionen gegen aufständische Bauern beteiligt war.

Obwohl Landes- und Zentralregierung der Revolte von Naxalbari mit Waffengewalt ein Ende setzten, fanden Ziele und Ideale – unter anderem berufen sich die Naxaliten auf Mao Tse-tungs und dessen Credo, dass die politische Macht aus den Gewehrläufen komme – bald auch in anderen Teilen Indiens Anhänger. In der verarmten und unterentwickelten Telengana-Region des Unionsstaates Andhra Pradesh löste 1980 die so genannte People's War Group (sinngemäß: Volkskriegs-Verband) eine maoistisch geprägten Aufstand aus. Die Ermordung von mutmaßlichen "Klassenfeinden", Kleinbürgern und Polizeispitzeln sowie Verfahren gegen politische Widersacher vor eigens eingerichteten "Volksgerichten" wurden zum Markenzeichen der People's War Group. In den folgenden Jahren breitete sich die Naxaliten-Bewegung von Andhra Pradesh in die Nachbarstaaten Madhya Pradesh, Orissa, Jharkhand und Maharashtra aus.

Während es für den Naxalismus der 60er Jahre zum Teil erheblichen Zuspruch aus Teilen der städtischen Mittel- und Oberschicht gab (vor allem von studentischen Kreisen und der Intelligenz), haben sich Charakter und Zusammensetzung der heutigen Bewegung vollkommen verändert. Die in den 80er und 90er Jahren in Andhra Pradesh und anderen Staaten entbrannten Aufstände werden vor allem von der ländlichen Bevölkerung getragen, wobei Angehörige unterer Kasten und kastenlose Dalits sowie Interner Link: Adivasi, Indiens Ursprungsbevölkerung, den Kern der Aufständischen und Unterstützer bilden.

Seit der Erhebung in dem kleinen Dorf Naxalbari 1967 hat die Bewegung erheblich an Stärke und Intensität gewonnen. Einem Bericht des indischen Innenministeriums zufolge sind bereits 76 Distrikte in 9 von insgesamt 28 Unionsstaaten betroffen. Allein im Jahr 2005 meldeten Hunderte Polizeistationen in Andhra Pradesh, Bihar, Chhattisgarh, Jharkhand, Orissa, Maharashtra, Madhya Pradesh, Uttar Pradesh und Westbengalen Fälle maoistischer Gewalt.

Doch diese Zahlen sind nicht mehr als vorsichtige Schätzungen. Fakt ist, dass Naxaliten bereits in mehr als 160 Distrikten aktiv sind – von nördlichen Uttaranchal im Himalaja bis in den Süden Tamil Nadus, von Maharashtra im Westen bis nach Westbengalen im Osten des Landes. Teile der von Adivasi bewohnten Regionen wurden bereits zu "befreiten Zonen" erklärt. Zu den größten gehören die "Befreiten Gebiete von Dandakaranya" (Dandakaranya Liberated Zones) in Andhra Pradesh, Orissa, Maharashtra und dem südlichen Chhattisgarh, wo der Staat und seine Organe kaum noch Einfluss haben.

Inzwischen hat auch die indische Regierung das Ausmaß des Problems erkannt. Während einer Rede vor den Ministerpräsidenten der von maoistischer Gewalt betroffenen Unionsstaaten bezeichnete Premier Manmohan Singh im April 2006 den Naxalismus als "größte Herausforderung für die innere Sicherheit unseres Landes".

In den vergangenen Jahren wurden im Zuge des Konflikts massive Menschenrechtsverletzungen begangen – sowohl von Aufständischen als auch von staatlichen Sicherheitskräften. Zwischen Januar und September 2006 starben nach Schätzungen des Asiatischen Zentrums für Menschenrechte (Asian Centre for Human Rights, ACHR) mindestens 625 Menschen in neun Unionsstaaten, darunter 109 Angehörige von Polizei und Paramilitär, 265 mutmaßliche Naxaliten sowie 251 Zivilisten. Rund die Hälfte der Todesopfer ist in Chhattisgarh (316) zu beklagen, gefolgt von Andhra Pradesh (105), Jharkhand (72), Maharashtra (46), Bihar (45), Orissa (20), Westbengalen (19) sowie Madhya Pradesh and Uttar Pradesh (jeweils 1 Toter).

Vor allem in Chhattisgarh ist seit Juni 2005 ein massiver Anstieg von Menschenverletzungen zu beobachten. Grund dafür ist die so genannte Salwa-Judum-Kampagne, die auf Initiative des Regionalpolitikers Mahendra Karma (Interner Link: Kongresspartei) ins Leben gerufen wurde. Auch die Zentralregierung unterstützt Salwa Judum, was aus dem lokalen Gondi-Dialekt übersetzt "Friedensmission" bedeutet. Ziel ist es, durch die Bewaffnung von Zivilisten die Sicherheitskräfte zu entlasten und ein militärisches Gegengewicht zu den Naxaliten aufzubauen. Doch damit ist es fast unmöglich geworden, zwischen "Kämpfern" und "Unbeteiligten" zu unterscheiden.

Massive Menschenrechtsverletzungen

Indische Medien berichten über das Naxaliten-Problem
Foto: Stefan Mentschel

Zahlreiche Angehörige der Adivasi sind in den vergangenen Monaten Salwa Judum zum Opfer gefallen. Während Sicherheitskräfte für die Ermordung von Rebellen und Zivilisten verantwortlich gemacht werden, wird maoistischen Rebellen vorgeworfen, eine Vielzahl unbeteiligter Dorfbewohner getötet zu haben. Die Naxaliten schrecken dabei nicht einmal mehr vor dem Einsatz von Landminen zurück. So starben am 28. Februar 2006 bei einer Minenexplosion in Chhattisgarhs Dantewada Distrikt 27 Zivilisten, 32 wurden zum Teil schwer verletzt.

Im Zuge von Salwa Judum wurden ganze Dorfbevölkerungen gezielt in Lager umgesiedelt. Auf diese Weise sollen möglichst viele Adivasi für die "Selbstschutzgruppen" rekrutiert werden. Es gibt Berichte, dass Dörfer, die sich der Räumung widersetzt haben, von Salwa-Judum-Einheiten und Sicherheitskräften angegriffen wurden – nach dem Motto: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Rund 50.000 Menschen leben derzeit unter zum Teil katastrophalen Bedingungen in den Auffanglagern der Regierung. Bürgerrechtler sprechen bereits von einer humanitären Katastrophe, denn es gibt weder genug zu essen noch eine angemessene medizinische Versorgung. Zudem mussten Hunderte Kinder ihre Ausbildung unterbrechen, da oftmals Schulen zu Camps umfunktioniert wurden.

In den Lagern erhalten die Adivasi neben ideologischer Schulung auch eine militärische Grundausbildung, wobei selbst Minderjährige als Hilfspolizisten, so genannte Special Police Officers (SPO) rekrutiert werden. Bis März 2006 wurden allein im Distrikt Dantewada 3200 Jungen und Mädchen zu SPO ernannt. Dafür erhalten sie einen monatlichen Sold von 1500 Rupien, umgerechnet etwa 25 Euro. Seit Gründung der Salwa Judum sind die Lager immer wieder Ziel maoistischer Angriffe. Im Juli 2006 brannten Naxaliten ein Camp in Errobore (Distrikt Dantewada) nieder, töteten 31 Bewohner und entführten 9 Männer und 32 Frauen, von denen viele später ermordet aufgefunden wurden.

Katastrophale soziale und wirtschaftliche Lage
Eine wichtige Ursache des Problems sind Armut, Ausbeutung und Unterdrückung. Aber auch die oftmals entschädigungslose Enteignung ganzer Landstriche, in denen die Adivasi seit Jahrhunderten siedeln, treibt die Menschen in die Arme der Extremisten. Interner Link: Offiziellen Angaben zufolge wurden allein zwischen 1950 und 1990 mehr als 8,5 Millionen Adivasi durch Staudämme, Bergwerke und Industrieanlagen sowie die Einrichtung von Nationalparks aus ihrer Heimat vertrieben. In seiner Rede vor den Ministerpräsidenten der von maoistischer Gewalt betroffenen Unionsstaaten erkannte Premier Manmohan Singh auch an, dass die katastrophale soziale und wirtschaftliche Lage sowie mangelnde Zukunftsaussichten "maßgeblich zum Erstarken der Naxaliten-Bewegung" beigetragen haben.

Bevor die Regierung zu dieser Einsicht gelangte, sind vier Jahrzehnte vergangen. Inzwischen setzt sich aber auch im Innenministerium allmählich die Ansicht durch, dass "Naxalismus nicht nur ein Sicherheitsproblem darstellt, sondern auch eine erhebliche sozioökonomische Dimension hat". Daher glaubt man, dass die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der betroffenen Gebiete maßgeblich zur Eindämmung von Extremismus und Gewalt beitragen kann.

Das Innenministerium gibt an, mit einer dreiteiligen Strategie gegen den Naxalismus anzugehen: (1) Stärkung der Geheimdienste auf Ebene der Unionsstaaten, (2) anhaltende bewaffnete Aktionen der Sicherheitskräfte sowie (3) eine beschleunigte wirtschaftliche Entwicklung. Nimmt man allerdings die letzten Monate als Maßstab, dann liegt der Fokus viel stärker auf militärischer Gewalt als auf friedlicher Entwicklung. Und auch die Unterstützung der Salwa Judum trägt eher zu einer weiteren Verschärfung der Lage bei.

Zwar mangelt es in Indien nicht an Programmen, mit denen die Situation der Interner Link: Adivasi verbessert werden soll. Doch allzu oft fehlt es an politischem Willen, sie adäquat umzusetzen. Hinzu kommt, dass in vielen Gebieten die staatlichen Strukturen bereits völlig zusammengebrochen sind. Gleichwohl bleibt es Aufgabe der Regierung, alles zu tun, um die Entwicklungsprogramme unter Achtung der Menschenrechte zu implementieren.

Die Mehrheit der Dalits und Adivasi in den Naxaliten-Gebieten teilt weder die Ideologie der Maoisten noch träumt sie davon, eines Tages mit roten Fahnen zum Sturm auf die Hauptstadt Neu Delhi anzusetzen. Doch es ist die Sprache der Naxaliten, mit der sie sich aufgrund der sozialen und wirtschaftlichen Schieflage identifizieren können. Andersherum bietet diese Schieflage der extremen Linken ein ideales Umfeld, um Anhänger für den bewaffneten Kampf zu rekrutieren. Daher ist es für die indische Regierung unerlässlich, der Entwicklung diesen rückständigen Regionen endlich höchste Priorität einzuräumen. Andernfalls gerät die Situation immer weiter außer Kontrolle.

Fussnoten

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Suhas Chakma ist Direktor des Asiatischen Zentrums für Menschenrechte (Asian Centre for Human Rights, ACHR), einer regionalen Menschenrechtsorganisation mit Sitz in der indischen Hauptstadt Neu Delhi.