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Die Franzosen und die Globalisierung – eine neue "exception française"? | Frankreich | bpb.de

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Die Franzosen und die Globalisierung – eine neue "exception française"?

Eddy Fougier

/ 7 Minuten zu lesen

In Frankreich herrscht ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber der Globalisierung, das sich mit der aktuellen Krise tendenziell weiter verstärkt hat. Zugleich ist die französische Wirtschaft in starkem Maße global vernetzt. Die französische Position zur Globalisierung erscheint daher paradox.

Nicht grundlos wurde die Anti-Globalisierungsorganisation in Frankreich gegründet. (Philippe Leroyer) Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de

Die Franzosen haben ein Problem mit der Globalisierung. Die Erscheinungsformen der Skepsis sind inzwischen wohlbekannt. In internationalen und europäischen Meinungsumfragen zählen die Franzosen in der Regel zu den Bevölkerungen mit den größten Vorbehalten gegenüber der Globalisierung. Auch bildet Frankreich eine der Speerspitzen im Kampf gegen ihre wirtschaftlichen Aspekte und spielt eine Pionierrolle in der Antiglobalisierungsbewegung. Die globalisierungskritische Bewegung "Attac" wurde 1998 in Frankreich gegründet, bevor sie sich in zahlreiche andere Länder ausbreitete. Auch erlebte Frankreich im Jahr 1984 als erstes europäisches Land mit dem Wahlerfolg des "Front national" bei den Europawahlen den politischen Durchbruch einer extrem rechten, globalisierungsfeindlichen Partei.

Auch das Konzept der "Deglobalisierung" ist in Frankreich besonders erfolgreich; einer seiner wichtigsten Verfechter, Arnaud Montebourg, ist seit 2012 sogar Mitglied der französischen Regierung und im Kabinett mit Fragen der Reindustrialisierung betraut. Selten war die Idee des Protektionismus in Frankreich so verbreitet wie derzeit in der Wirtschafts- und Finanzkrise. Auch liberalismus- und wachstumskritische Strömungen haben im Nachbarland einen großen Einfluss auf die Debatten. Und nicht zuletzt sind die politischen Entscheidungsträger Frankreichs bekannt für ihre oft globalisierungskritische Haltung und ihren Willen zur Reform des internationalen Finanzsystems und zur Einführung eines internationalen Steuerwesens (mit einer Besteuerung von Finanztransaktionen). Hinzu kommt die Unterstützung der französischen Politiker für eine Weltumweltorganisation und die Verteidigung einer französischen "exception culturelle" (kulturelle Ausnahmestellung), der Sonderstellung des öffentlichen Dienstes in Frankreich, des französischen und europäischen Sozialmodells und der Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union.

Kluft zwischen Realität und Wahrnehmung

Und dennoch ist Frankreich nicht nur einer der Förderer der Globalisierung, sondern auch einer ihrer größten Gewinner. Es zählt zu den Ländern, die weltweit am meisten ausländische Direktinvestitionen, Touristen und internationale Studierende anziehen. Auch wenn die französische Industrie in den vergangenen Jahren an Wettbewerbsfähigkeit verloren hat, zählen einige französische Unternehmen doch zu den Marktführern in ihrer Branche. 2011 erschienen 32 französische Unternehmen auf der Liste der 500 nach Umsatz größten Unternehmen weltweit (Fortune Global 500). Frankreich liegt damit gleichauf mit Deutschland und vor Großbritannien. Zudem ist Frankreich ein wichtiges Exportland, in dem sieben Millionen Arbeitsplätze unmittelbar von der Exportwirtschaft abhängen.

WTO-Generaldirektor Pascal Lamy. Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de

So ist dem Direktor der Welthandelsorganisation Pascal Lamy zuzustimmen, der 2007 sagte: "Frankreich hat von der Globalisierung in starkem Maße profitiert. Zwar ist der ökonomische "Körper" globalisiert, nicht jedoch der "Kopf". Es gibt eine Kluft zwischen Realität und Wahrnehmung." (Le Nouvel Observateur, 29. März 2007). Zu Beginn der 2000er Jahre wählten die beiden Autoren Philip Gordon und Sophie Meunier den Begriff der "verstohlenen Globalisierung" zur Beschreibung eines Landes, das sich zwar in starkem Maße globalisiert hat, dessen Entscheidungsträger diese Entwicklung jedoch nicht eingestehen und dessen Bevölkerung sie ablehnt. Und Sarah Waters erhob im Jahr 2012 den Vorwurf der Doppelzüngigkeit im Hinblick auf die Kluft zwischen dem globalisierungskritischen Diskurs der politischen Entscheidungsträger und ihrem deutlich globalisierungsfreundlicheren Handeln.

Die Globalisierung als Spiegel eines vielfachen Unbehagens

Doch wie lässt sich dieses Unbehagen der Franzosen erklären? Das französische Misstrauen gegenüber der Globalisierung offenbart vor allem eine Identitätskrise, in der sich Frankreich seit einigen Jahrzehnten befindet. Dabei weisen die Franzosen der Globalisierung die Schuld für die meisten Probleme des Landes zu und entwickeln einen nostalgischen Blick auf eine oft verklärte Vergangenheit. In der Globalisierung hingegen sehen sie eine der Ursachen für Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche und soziale Unsicherheit, wachsende Ungleichheit, Deindustrialisierung, gesellschaftlichen Abstieg und einen massiven Transfer von Arbeitsplätzen und Wohlstand in Richtung der Schwellenländer. Mit Nostalgie hingegen erinnern sich die Franzosen an die "dreißig goldenen Jahre" (1945-1975) und das, wofür sie stehen: die Idee eines steten wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts, eine Wohlstandsgesellschaft mit einer ausgeglichenen Vermögensverteilung, ein harmonisches Zusammenspiel von wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit sowie einen Gesellschaftsvertrag, der auf Solidarität und Sicherheit aufbaut und die Führungselite eng an den Rest der Bevölkerung bindet.

In den Augen einiger Franzosen der Hauptgrund für eine starke Zuwanderung: die Globalisierung. (© AP)

Für einen beträchtlichen Teil der Franzosen steht die Globalisierung zudem für eine wachsende Durchlässigkeit der Grenzen, massive Migration und eine Schwächung nationaler Bindungen. Etliche unter ihnen scheinen dem Frankreich der Dörfer und Kirchtürme nachzutrauern. In einer multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft hingegen, die sich zerrissener und aggressiver zeigt, gelingt es vielen von ihnen nicht mehr, ihren Platz zu finden. Die Globalisierung scheint republikanischen Werten zu widersprechen, indem sie wachsenden Ungleichgewichten in der Wohlstandsverteilung den Boden bereitet und ein System der Finanz- und Privatinteressen sowie eine Beschränkung der Rolle des Staates und seiner Handlungsspielräume begünstigt. Die republikanischen Werte bauen auf den Grundsätzen der Gleichheit, des Verdienstes und des Vorrangs des Allgemeinwohls vor Einzelinteressen auf. Auch scheint die Globalisierung im Widerspruch zur französischen politischen Kultur zu stehen, die auf einem starken Staat und seiner Schutzfunktion sowie einer kulthaften Wertschätzung politischer Willenskraft beruht. Und nicht zuletzt könnte die Globalisierung den Platz des Landes im internationalen Gefüge in Frage stellen und in Zeiten einer kulturellen Vorherrschaft der USA Kultur, Rang und Einfluss Frankreichs in der Welt gefährden. Aus diesem Grund geht in Frankreich die Kritik an der Globalisierung häufig mit einer kritischen Haltung gegenüber den USA und Skepsis gegenüber dem angelsächsischen Modell eines eingeschränkten Sozialstaates einher.

Wie das Beispiel der französischen Position zur europäischen Integration illustriert, ist das Land zwar zu einer Öffnung bereit – doch nur unter der Bedingung, dass das eigene Modell auf die europäische Ebene übertragen wird und Europa zu einer Art "großem Frankreich" heranwächst. Dass diese Haltung in einem klaren Widerspruch zur heutigen Entwicklung der Globalisierung steht, erklärt auch die tiefgehende Spaltung, die seit über zwanzig Jahren die wirtschaftliche und politische Debatte in Frankreich prägt. In ihrem Zentrum steht die Auseinandersetzung um eine französische Sonderrolle, die vieldiskutierte "exception française".

Die endlose Debatte um eine "Sonderrolle" Frankreichs

Die Debatte entzweit jene, die unter Verweis auf eine notwendige Anpassung des Landes an die Globalisierung eine französische Sonderrolle ablehnen, und jene, welche diese voller Entschlossenheit verteidigen, indem sie die Globalisierung entweder rundweg ablehnen oder diese zu "französisieren" versuchen. Zur ersten Gruppe zählen die Unternehmer und Liberalen sowie diejenigen, die häufig als "Abstiegsbeschwörer" (déclinologues) bezeichnet werden. Seit den 1980er Jahren kämpfen sie für eine "Normalisierung" Frankreichs im Vergleich zu anderen europäischen Staaten und beklagen die Reformunfähigkeit des Landes und die Zögerlichkeit der Franzosen. Aus ihrer Sicht muss Frankreich endlich die von der OECD seit langem geforderten und von der Wirtschaftszeitung "The Economist" beschriebenen Maßnahmen umsetzen: Strukturreformen, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Sozialreformen, Senkung der öffentlichen Ausgaben usw. Bis zu Beginn der Krise in den Jahren 2008-2009 erschien ihnen das angelsächsische Modell als Modell der Wahl und Margaret Thatcher als Vorbild des Reformwillens. Inzwischen wurde dieses angelsächsische vom deutschen Modell und Margaret Thatcher von Gerhard Schröder und seiner Agenda 2010 abgelöst.

Die zweite Gruppe hingegen verweigert eine Anpassung und verteidigt das französische Modell. Ihr gehören beispielsweise die Gewerkschaften und ein Teil der Linken an, die für das französische Sozialmodell eintreten, das auf einem weit entwickelten System sozialer Sicherungen und hohen öffentlichen Ausgaben beruht. Doch auch Nationalisten zählen zu dieser Gruppe, die Einflüsse aus dem Ausland auf das französische Modell ablehnen. Vertreter der zweiten Gruppe gelten als Anhänger dessen, was in Frankreich eine "andere Politik" als diejenige genannt wird, die linke wie rechte Regierungen seit den 80er Jahren verfolgt haben. Während die zweite Gruppe die Anhänger der ersten als "ultraliberal" und "unpatriotisch" schmäht, verurteilen Vertreter der ersten Gruppe ihre Gegner als populistisch und weltfremd.

Die Kluft zwischen beiden Haltungen durchzieht die französische Gesellschaft seit den 1980er Jahren. Umfragen belegen, dass Führungskräfte, Hochschulabsolventen und höhere gesellschaftliche Schichten einer Anpassung Frankreichs an die Entwicklung der Globalisierung tendenziell eher aufgeschlossen gegenüberstehen, während Vertreter der unteren Mittelschicht (Arbeiter, Angestellte), Arbeitslose, Geringqualifizierte und Menschen ohne Bildungsabschluss einen solchen Prozess eher ablehnen. Auch die sozialistische Partei und die gaullistische Bewegung Frankreichs zeigen sich seit den 1980er Jahren gespalten in ihrer Haltung gegenüber der Globalisierung, der europäischen Integration und dem wirtschaftlichen Liberalismus. Einige Politiker sahen sich gar veranlasst, ihren jeweiligen Parteien den Rücken zu kehren und neue politische Gruppierungen zu gründen. Und nicht zuletzt hat diese Spaltung wichtige Abstimmungen in Frankreich beeinflusst, darunter den ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2002, als Jean-Marie Le Pen die Stichwahl erreichte, oder das Referendum über den europäischen Verfassungsvertrag im Mai 2005, den die französischen Wähler ablehnten.

Die Franzosen führen weiter eine scheinbar unlösbare Debatte in der eine Anpassung an die Globalisierung, die ein beträchtlicher Teil der Franzosen als Verzicht auf ihre Interessen und Werte empfindet, einer Ablehnung der Globalisierung gegenübergestellt wird. Für welchen Weg Frankreich sich letztlich entscheiden wird, bleibt abzuwarten. Sicher ist jedoch, dass Globalisierung und eine "exception française" gar nicht unbedingt im Widerspruch zueinander stehen.

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Eddy Fougier, geb. 1968, ist Politikwissenschaftler und assoziierter Forscher am Institut de Relations Internationales et Stratégiques in Paris.