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Interview mit Alfred Grosser | Frankreich | bpb.de

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Interview mit Alfred Grosser

Claire Demesmay

/ 4 Minuten zu lesen

Kaum ein französisches Dorf ohne Gedenkstein für die Kriegsopfer - auch mehr als hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg ist die Erinnerung an Leid und Tod des Grand Guerre in Frankreich greifbar. Wie prägt diese Vergangenheit das Frankreich der Gegenwart? Der Publizist Alfred Grosser im Interview zu französischer Erinnerungeschichte, Identifikationsfiguren und nationalen Narrativen.

Erinnerungsort: Besucher am Beinhaus des französischen Soldatenfriedhofs von Douaumont - in dem Mahnmal liegen schätzungsweise 130.000 Gebeine von gefallenen und nicht identifizierten Soldaten der Schlacht von Verdun begraben. (© picture-alliance)

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Im Interview mit Alfred Grosser

Inhalt

Im Interview mit Alfred Grosser

Die Franzosen interessieren sich leidenschaftlich für den Ersten Weltkrieg, wie das hunderte Jubiläum im Jahr 2014 gezeigt hat. Wie würden Sie das erklären?

Es war der Große Krieg, la Grande Guerre! Nur um eine furchtbare Zahl zu geben, sind im Zweiten Weltkrieg "nur" 600.000 Franzosen gefallen, gegen 7.000.000 Deutsche. Im Ersten Weltkrieg ist Frankreich zerstört worden, aber Deutschland nicht. Und dann kommt der Begriff des ancien combattant [Kriegsveterans], der überall gilt. Die ganzen Feiern waren nur über das gemeinsame Leiden, nie über den Sieg. Der Sieg ist völlig beiseite geschoben worden. Und es ging um das Leiden, das Leiden der Frauen, die übrigens dann erst sehr spät 1944 das Wahlrecht bekommen haben. Die deutschen Frauen haben es wenigstens 1919 bekommen. Aber die Erinnerung! Man braucht nur nach Verdun zu gehen, um zu sehen, warum diese Erinnerung so wach geblieben ist. In allen französischen Dörfern sind Monumente mit langen, langen Listen der Toten des Ersten Weltkriegs.

Wie läuft in Frankreich die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, insbesondere mit Deutschland verglichen?

In Deutschland gibt es nur 1933-1945 und davor ein bisschen. In Frankreich ist alles in bester Ordnung. Man hat eine gemeinsame Vergangenheit, außer für die Kollaboration unter [dem Regime von] Vichy und den Algerienkrieg [1954-1962]. Das sind die beiden "Wundenthemen", über die noch ständig geredet wird. Und es geht gar nicht um die Deutschen im Zweiten Weltkrieg, es geht um das Verhältnis der Franzosen untereinander zwischen 1940 und 1944.

Sie haben diese beiden "Wundenthemen" erwähnt, das Vichy-Regime und den Algerienkrieg. Denken Sie, die Franzosen werden sich mit diesen Themen befassen?

Ja, man befasst sich damit ununterbrochen. Es gibt ununterbrochen Bücher und andere Themen werden jetzt neu aufgegriffen. Zum Beispiel der sogenannte "Negerhandel" im 18. Jahrhundert in Bordeaux und in Nantes, in großen Erinnerungsfeiern an die Verbrechen der Stadt. Wir sind reich geworden, weil wir Sklavenhandel betrieben haben. Hat man doch immer mehr, wie man die Leute aus Nord- und Schwarzafrika hat sterben lassen im Ersten und im Zweiten Weltkrieg. Momentan auf den Champs-Elysées [in Paris] gibt es eine wunderbare Ausstellung auf der Strasse: Hunderte große Bilder über den Ersten Weltkrieg. Darunter wie viele gestorben sind mit Bildern, von denen, die aus Nordafrika und so weiter gekommen sind. Die mit dem sogenannten Mutterland nichts zu tun hatten. Und das hat ja [der Schriftsteller Albert] Camus in seinem Posthume-Roman ["Der erste Mensch"] gezeigt, wie sein Vater gestorben ist, in Frankreich, obwohl er nie im französischen, im sogenannten Mutterland, gewesen war.

zur PersonAlfred Grosser

Alfred Grosser (© picture alliance / Sven Simon)

Alfred Grosser ist Politikwissenschaftler und Publizist. Er wurde 1925 in Frankfurt-am-Main geboren, emigrierte 1933 mit seiner Familie nach Frankreich, um dem Nazi-Deutschland zu entfliehen, und wurde 1937 mit Mutter und Schwester eingebürgert.
Professor Grosser war Lehrstuhlinhaber am berühmten Institut d’études politiques (IEP) in Paris, wo er von 1956 bis 1992 unterrichtete, und ist Präsident des CIRAC (Centre d’information et de recherche sur l’Allemagne contemporaine).

Er gehört zu den großen Vermittlern der deutsch-französischen Beziehung. Gleich nach Ende des Zweiten Weltkrieges hat er sich für die Annäherung zwischen beiden Ländern engagiert, u.a. indem er an der Organisation von deutsch-französischen Jugendbegegnungen mitwirkte. So ist er einer der Vordenker des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags von 1963. Er hat die Gründe und die Natur seines Engagement in seiner Rede im Bundestag zu 1914 und danach am 3. Juli 2014 dargestellt. Sein angestrebtes Europa ist eher das von Robert Schuman als das von Charles de Gaulle.

In seinen regelmäßigen Vorträgen und Meinungsartikeln erklärt er immer wieder die Befindlichkeiten und Positionen im Partnerland. Als "Moralpädagoge" mit deutsch-jüdischen Wurzeln setzt sich Grosser seit Jahrzehnten auch mit der französischen und vor allem deutschen Haltung zu Israel kritisch auseinander. Für seine offenen Worte ist er bekannt.

Alfred Grosser hat viele Bücher veröffentlicht, darunter "Verbrechen und Erinnerung" (1990), "Die Früchte ihres Baumes: Ein atheistischer Blick auf die Christen" (2005), "Von Auschwitz nach Jerusalem: Über Deutschland und Israel" (2009) und "Die Freude und der Tod: Eine Lebensbilanz" (2011). Im Laufe seines Lebens erhielt Professor Grosser wichtige Verdienstorden und Preise, wie den Friedenspreis des deutschen Buchhandels als "Mittler zwischen Franzosen und Deutschen, Ungläubigen und Gläubigen, Europäern und Menschen anderer Kontinente". Ein "Lehrstuhl Alfred Grosser" wurde 1992 an Sciences Po und 2009 an der Universität Frankfurt gegründet.

Wer sind heutzutage die wichtigsten historischen Figuren im nationalen Narrativ Frankreichs?

Das ist sehr unterschiedlich. Ich bin nie einverstanden gewesen mit [dem Historiker] Pierre Nora, mit seinen Büchern über die Erinnerung. Die Erinnerung, die er als "Orte der Erinnerung" empfindet, sind die, die er als Schüler bei [dem Historiker Ernest] Lavisse gelernt hat. Für viele Franzosen sind viele von denen bedeutungslos. Das gilt übrigens genauso für die deutsche Ausgabe, die sehr schön ist und sehr gut ist. Aber die Orte der Erinnerung für Millionen und Millionen von Deutschen und Franzosen sind [nicht] die Orte in diesem Buch und haben nichts mit ihnen zu tun, sie wissen nichts davon. Und man feiert weiterhin den 14. Juli [den französischen Nationalfeiertag in Erinnerung an den Fall der Bastille 1789]. An sich müsste man den 14. Juli 1790 feiern, wo die Fête de la Fédération [Föderationsfest] ganz Frankreich vereinte. Seit nicht ganz Ende des 19. Jahrhunderts ist es ein Militärdefilee, weil die Armee gegen die Republik war, musste man Sie einbinden, also ist die Armee dabei und wir sind – glaube ich – das einzige demokratische Land, das den Nationalfeiertag mit einem Militärdefilee feiert.

Gibt es in Frankreich historische Persönlichkeiten, die die Bevölkerung vereinen?

Ja sicher [der Politiker Georges] Clémenceau [1841-1929], wie auch immer der Versailler Frieden ausgesehen hat, aber gewiss Clémenceau. Viele meinen Charles de Gaulle, zu viele in meinen Augen. [Die Beurteilung ist] sehr übertrieben, denn er hat sehr vieles nicht gemacht, oder schlecht gemacht. Er hat vieles groß gemacht und anderes klein gemacht. Und es gibt so eine allgemeine Verehrung. Überall gibt es Plätze, Avenues und so weiter "de Gaulle". An wenigen Stätten gibt es Erinnerungen an [den Ministerpräsidenten der Vierten Republik 1946-1958] Pierre Mendès France [1907-1982]. Es gibt langsam Überlegungen, wer soll ins Panthéon [die Grabstätte berühmter französischer Persönlichkeiten in Paris] überführt werden. Gott sei dank hat die Familie von Albert Camus nein gesagt. Er soll im Dorf von Lourmarin begraben bleiben. Aber Camus wäre einer dieser Figuren, obwohl ich sagen muss, es gibt Millionen von Franzosen, die haben nie eine Zeile von Camus gelesen, ich meine, man kann nie sagen, "die Franzosen" oder "die Deutschen".

Und die deutschen Erinnerungen. Wer denkt noch an Hindenburg. Jetzt war die Rede vom ersten Präsidenten der Weimarer Republik, Friedrich Ebert. Fragen Sie mal junge Deutsche, ob sie wissen, wer Friedrich Ebert war. Gewiss nicht. Und vieles verschwindet in der Vergangenheit, auch weil man in Deutschland Geschichte als Fach bis zum Abitur haben muss [sic], aber man wird nicht über Geschichte überprüft beim Abitur, wenn man es nicht besonders will. In Frankreich wird auch langsam die Geschichte vernachlässigt. Und ich finde das sehr schade, denn man kann die Gegenwart – außer mit der Geschichte – nicht verstehen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Dr. phil. Claire Demesmay, geb. 1975, leitet das Programm Frankreich/deutsch-französische Beziehungen im Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Kontakt: E-Mail Link: demesmay@dgap.org