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Analyse: Willy Brandt und Polen – Gemeinsames Gedenken der Präsidenten Komorowski und Wulff am 7. Dezember 2010 in Warschau | Polen-Analysen | bpb.de

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Analyse: Willy Brandt und Polen – Gemeinsames Gedenken der Präsidenten Komorowski und Wulff am 7. Dezember 2010 in Warschau

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Zusammenfassung

Mit ihrem gemeinsamen Auftritt am 7. Dezember 2010 in Warschau haben der polnische Staatspräsident Bronislaw Komorowski und Bundespräsident Christian Wulff an ein entscheidendes Datum der deutsch-polnischen Zeitgeschichte erinnert. Die zutiefst menschliche und moralische Geste des Kniefalls Willy Brandts am Denkmal für die Helden des Aufstands im jüdischen Ghetto vor vierzig Jahren zählt zu den zentralen »europäischen Erinnerungsorten«. Der ebenfalls am 7. Dezember 1970 unterzeichnete deutsch-polnische »Normalisierungsvertrag« war ein erster wichtiger Schritt auf dem langen Weg zur endgültigen völkerrechtlichen Anerkennung der polnischen Westgrenze. Wenn Komorowski und Wulff diesen wichtigen Jahrestag gemeinsam in Warschau begingen, spricht dies für die inzwischen erreichte Qualität der deutsch-polnischen Beziehungen. Doch es wurden auch Unterschiede in der Bewertung deutlich.

Einleitung

In Deutschland gilt der Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal für die Helden des Aufstands im jüdischen Ghetto von Warschau im Frühjahr 1943 als einer der wichtigsten Momente deutscher Nachkriegsgeschichte. Der in den Vereinigten Staaten lebende jüdisch-deutsche Historiker Fritz Stern sieht die Geste Brandts am 7. Dezember 1970 sogar als wesentlichen Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses der Europäer.

In Polen ist das anders. Dort wird die nationale Erinnerungskultur vor allem durch die Vorgeschichte und den Verlauf des Zweiten Weltkriegs, die verschiedenen Erhebungen gegen das kommunistische System (1956, 1968, 1970 und 1976) sowie die Wirkungsgeschichte der Gewerkschaft Solidarnosc und den friedlichen Systemwechsel im Jahr 1989 dominiert. Willy Brandts Kniefall und der deutsch-polnische Normalisierungsvertrag von 1970 sind Bestandteil dieser Erinnerungskultur, stehen aber nicht an vorderster Stelle.

Es gibt aber in Warschau in der Nähe des Ghetto-Denkmals einen kleinen Platz (poln. Skwer Willy Brandta) und ein Gedenktafel, die an die Geste des deutschen Bundeskanzlers von 1970 erinnert. Marian Turski von der Wochenzeitung Polityka und andere setzen sich mit Nachdruck dafür ein, dass das ebenfalls in der Nähe des Ghetto-Denkmals entstehende Museum der Geschichte der polnischen Juden auch eine Abteilung erhält, in der an Willy Brandt erinnert wird.

Es sind vor allem polnische Historiker für neuere und neueste Geschichte, führende Politiker, Publizisten sowie Zeitzeugen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten, die ein seriöses und ehrenvolles Andenken an Willy Brandt bewahren - mitunter über politisch-historische Differenzen hinweg. Das gilt für politische »Schwergewichte« wie die früheren Staatsoberhäupter bzw. Ministerpräsidenten und Außenminister Aleksander Kwasniewski, Tadeusz Mazowiecki, Wlodzimierz Cimoszewicz, Andrzej Olechowski und Dariusz Rosati. Der verstorbene Bürgerrechtler und ehemalige Außenminister Bronislaw Geremek fühlte sich sehr stark mit Brandt verbunden, auch wenn er die Zwiespältigkeit seiner Ostpolitik in den 1970er und 1980er Jahren kritisierte. Auch der verstorbene Außenminister Krzysztof Skubiszewski, eher ein katholischer Konservativer, hatte eine hohe Meinung von Brandt. Für Publizisten wie Adam Michnik und Adam Krzeminski gehört der damalige Kanzler, SPD-Vorsitzende und Präsident der Sozialistischen Internationale zu den großen Europäern - in einer Reihe mit Jean Monnet, Robert Schuman, Jacques Delors, Konrad Adenauer und Charles de Gaulle.

Kurz vor dem 7. Dezember 2010 hat der Historiker Mieczyslaw Tomala, der schon 1970 bei den Gesprächen zwischen Brandt und der damaligen polnischen Führung als Übersetzer tätig war, seine Memoiren (»Niemcy - moja pasja«) veröffentlicht, in denen er sich an seine Begegnungen mit Brandt erinnert. Polnische Diplomaten mit einer besonders Affinität zu Deutschland zählen Brandt und seine Ostpolitik zu den Fixpunkten ihrer politisch-diplomatischen Sozialisation - etwa Marek Prawda, der als gegenwärtiger polnischer Botschafter in Berlin zum zweiten Mal »auf Posten« in Deutschland ist. Prawda und andere hatten sich für eine Gedenktafel für Willy Brandt in Warschau eingesetzt, die am 6. Dezember 2000 in Anwesenheit des damaligen polnischen Ministerpräsidenten Jerzy Buzek von Bundeskanzler Gerhard Schröder am Skwer Willy Brandta (Ecke ul. Karmelicka und ul. J. Lewartowskiego) enthüllt wurde.

Der polnisch-jüdische Historiker Feliks Tych hat wiederholt in Warschau daran erinnert, welch große innere Genugtuung der Kniefall Brandts damals bei ihm ausgelöst hatte. Gleiches gilt für den verstorbenen Arzt und Bürgerrechtler Marek Edelman, der 1943 zu den Anführern des Aufstandes im Warschauer Ghetto gehört hatte. Für Edelman war Brandts Geste erschütternd und ein deutlicher Hinweis darauf, wie sich das deutsche Volk verhalten sollte. Schon 1937 hatte er Brandt zum ersten Mal in Warschau getroffen.

Der ehemalige Außenminister und jetzige Staatssekretär für den Internationalen Dialog, Wladyslaw Bartoszewski, wertet Brandts Kniefall als große, eines Staatsmanns würdige Geste. Doch, so Bartoszewski, habe Brandt nicht aller damaligen polnischen Opfer gedacht, womit er vor allem die Kämpfer des Warschauer Aufstands im August/September 1944 meinte.

Im Rahmen des wissenschaftlichen Lebens in Polen erinnert nicht zuletzt das Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Breslau/Wroclaw an den damaligen Bundeskanzler und SPD-Politiker. Die 1970er Jahre sind zunehmend Gegenstand der Forschung polnischer Wissenschaftler, wenn es um die Analyse der deutsch-polnischen Beziehungen geht.

Der Kniefall Willy Brandts und die Unterzeichnung des Normalisierungsvertrags am 7. Dezember 1970 werden auch in den Lehrbüchern für den Geschichtsunterricht in den polnischen Schulen erwähnt, wenngleich die Qualität der entsprechenden Ausführungen sehr unterschiedlich ist. Historiker wie Krzysztof Ruchniewicz vertreten die Auffassung, in den Lehrwerken müsse die gesellschaftspolitische und menschliche Dimension der Brandtschen Ostpolitik stärker herausgestellt werden. Nicht zufällig trägt die Deutsch-Polnische Begegnungsschule in Warschau den Namen Willy Brandts.

Es ist sicher verdienstvoll, dass die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung aus Anlasses des 40. Jahrestags des Brandtschen Kniefalls eine Ausstellung unter dem Motto »Willy Brandt und Polen« organisiert hat, die in Danzig, Breslau und Warschau gezeigt wurde. Im Rahmen der Breslauer Eröffnung der Ausstellung sprach auch der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder. Die Warschauer Organisatoren der Friedrich-Ebert-Stiftung loben das Interesse und die Kooperationsbereitschaft der Mitarbeiter des Museums des Warschauer Aufstands, in dessen Räumen die Brandt-Ausstellung gezeigt wurde.

Gedenken über Parteigrenzen hinweg

Angesichts des unterschiedlichen Blicks auf die Geschichte war es von großer Bedeutung für die deutsch-polnischen Beziehungen, dass der konservativ-liberale, der Freiheitsbewegung der Solidarnosc entstammende polnische Staatspräsident Bronislaw Komorowski, Christian Wulff als aus der CDU kommender Bundespräsident und der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel gemeinsam während der Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung zum 40. Jahrestag des Besuchs von Brandt im Warschauer Königsschloss auftraten. Gemeinsam besuchten die drei Politiker auch die Gedenktafel am Skwer Willy Brandta, das Denkmal für die Helden des jüdischen Aufstands 1943 sowie das Denkmal für den Warschauer Aufstand 1944.

In seiner Rede im Schloss bekannte sich der polnische Staatspräsident ausdrücklich zu Brandt, dessen Geste er als zutiefst menschlich und symbolisch bezeichnete. Sie habe, so Komorowski, ein differenziertes Bild der Deutschen gezeigt. Heute sei deutlicher erkennbar denn je, dass diese Geste der polnisch-deutschen Versöhnung gedient habe. Damals sei der Auftritt Brandts durch die wenig später an der polnischen Ostseeküste ausbrechenden Unruhen und die tödlichen Schüsse auf protestierende Arbeiter verdeckt worden. Als die wichtigsten Ereignisse der polnisch-deutschen Versöhnung bezeichnete Komorowoski allerdings die Botschaft der polnischen Bischöfe von 1965 an ihre deutschen Amtsbrüder (»Wir vergeben und bitten um Vergebung«), die Versöhnungsmesse in Kreisau/Krzyzowa 1989, an der die damaligen Regierungschefs Tadeusz Mazowiecki und Helmut Kohl teilnahmen, und die ein Jahr später erfolgte endgültige völkerrechtliche Anerkennung der polnischen Westgrenze. In diesem Rahmen sei auch Platz für die damaligen Anstrengungen Brandts. Zusammen mit Bundespräsident Wulff, so Komorowski, habe man den Kniefall Brandts jetzt ein wenig »korrigiert«, indem man auch dem Denkmal für den Warschauer Aufstand von 1944 Reverenz erwiesen habe, das 1970 noch nicht existierte.

Der polnische Präsident ließ aber auch kritische Töne gegenüber der damaligen Entspannungspolitik von Willy Brandt anklingen. Diese, so Komorowski, habe sich vor allem auf die Versöhnung zwischen den politischen Führungen konzentriert. Als Dissident wäre er damals dankbar gewesen, wenn man von Seiten der SPD hin und wieder deutlicher gegen den Totalitarismus Stellung bezogen hätte.

Auch Bundespräsident Christian Wulff bekannte sich in seiner Rede im Warschauer Königsschloss zu Willy Brandt und machte damit deutlich, wie viel ihn mit dessen damaliger Politik verbindet. Brandts Kniefall als Geste der Demut und der Bitte um Versöhnung, so der Bundespräsident, habe ihn schon damals tief beeindruckt. Wie Komorowski betonte er, Brandt habe das Bild eines anderen Deutschland entwickelt, dies sei eine richtige Botschaft gewesen. Wulff erwies dem polnischen Geschichtsbewusstsein seine Reverenz, indem er auch am Denkmal für den Warschauer Aufstand, nicht nur am Ghetto-Denkmal, einen Kranz niederlegte. Der Normalisierungsvertrag, so der Bundespräsident, sei dem berechtigten Wunsch der Polen entgegengekommen, in gesicherten und unverletzlichen Grenzen leben zu wollen. Gleichzeitig verzichtete Wulff nicht darauf, an das Schicksal von Millionen deutscher Heimatvertriebener und an die damalige bange Frage vieler Deutscher zu erinnern, ob sich aus den Verträgen von Moskau und Warschau mehr Chancen oder mehr Risiken für die deutsche Wiedervereinigung ergäben. Diese Sorgen hätten sich mit der deutschen Wiedervereinigung nicht bestätigt. Wulff kam Polen entgegen, indem er die demokratische Revolution in Polen und in anderen Ländern Ostmitteleuropas würdigte, die eine wirkliche Aussöhnung zwischen Polen und Deutschland sowie eine abschließende Lösung der Grenzfrage ermöglicht habe, so der Bundespräsident. Die Solidarnosc sei die treibende Kraft dieser Revolution gewesen. Der Bundespräsident wies damit indirekt auf die damalige Schwäche der Ostpolitik der SPD hin, die sich mehrheitlich nur schwer mit der polnischen Freiheitsbewegung anfreunden konnte, nutzte dies aber nicht zu einer Attacke auf die Sozialdemokraten - und das vor den Augen der polnischen Öffentlichkeit, in der die SPD nach wie vor einen schweren Stand hat. Der gemeinsame Auftritt des Bundespräsidenten mit dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel passte genau in diesen Rahmen.

Gabriel selbst äußerte sich, zumindest im historischen Teil seiner Rede, differenziert und dem Jahrestag angemessen. Anschaulich berichtete er, wie sich sein Vater und seine Mutter als Heimatvertriebene in ihrer Einschätzung Brandts diametral unterschieden, und erinnerte damit an die erbitterte Auseinandersetzung zwischen den Befürwortern und den Gegnern der Brandtschen Ostpolitik in der Bundesrepublik in den frühen 1970er Jahren. Brandts Kniefall, so Gabriel, sei für ihn der Anstoß seines anhaltenden Interesses für Polen gewesen - ein Bekenntnis, das bis dato der deutschen Öffentlichkeit in dieser Deutlichkeit nicht bekannt war. Der SPD-Vorsitzende nannte Brandts Geste eine politische Ikone des 20. Jahrhunderts. Kein anderes Zeichen symbolisiere so sehr den Aufbruch zu Entspannung, Abrüstung und Frieden mit Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion.

Es spricht für Gabriel, dass er sich bei Bundespräsident Christian Wulff für den gemeinsamen Auftritt in Warschau bedankte, er verband dies mit der Bemerkung, dass viele deutsche Sozialdemokraten dem Bundespräsidenten dafür dankbar sein würden. Es sei ein großes Verdienst Helmut Kohls, so der SPD-Vorsitzende, dass er die Brandtsche Außenpolitik aktiv und engagiert fortgeführt habe.

Sehr zum Leidwesen des polnischen Staatspräsidenten Bronislaw Komorowski mochte sich Gabriel nicht zu einer selbstkritischen Haltung gegenüber den Schwächen der damaligen sozialdemokratischen Ostpolitik durchringen. Er pries diese Politik als einen der Motoren des KSZE-Prozesses, der im ehemaligen Ostblock aktives mutiges Handeln gesellschaftlicher Kräfte befördert habe, ignorierte dabei aber die bis heute anhaltende Kritik damaliger polnischer Oppositioneller, die diese Politik vorrangig als Entspannung zwischen den Machthabenden in Ost und West apostrophieren. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass die polnische Opposition spätestens seit dem Besuch Brandts in Warschau im Jahr 1985 kein großes Interesse mehr an Kontakten zur SPD hatte.

Medwedjew, Wulff, Obama - Polens Bedeutung in Europa

Der Besuch des Bundespräsidenten in Warschau und sein gemeinsamer Auftritt mit Staatspräsident Bronislaw Komorowski sowie dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel wurden in den polnischen Medien durchweg positiv gewürdigt. Die Hauptnachrichten der Sender TVP1, TVP2 und Polsat brachten am Abend des 7. Dezember ausführliche Berichte, ebenso die wichtigsten Zeitungen (Gazeta Wyborcza, Rzeczpospolita, Polska, Fakt, Nasz Dziennik ) am folgenden Tag. Dabei war der Ton der Berichterstattung eher ruhig und nüchtern. Die Rzeczpospolita veröffentlichte ein Interview mit Gabriel, in dem dieser seine Auffassungen zu den historischen Fragen und zum Stand der deutsch-polnischen Beziehungen klar äußerte.

Der frühere polnische Botschafter in Bonn und in Washington, Janusz Reiter, sagte in einem ausführlichen Interview mit der Gazeta Wyborcza, dass Willy Brandt bei seinem Kniefall im Dezember 1970 aller Opfer der deutschen Okkupation gedacht habe - sowohl der polnisch-christlichen als auch der Juden. Bekanntlich ist dieses Faktum in Polen bis heute umstritten. Adam Krzeminski betonte in einem längeren Text für die Polityka, Brandt habe damals mit seinem Auftritt in Warschau ein großes innenpolitisches Risiko auf sich genommen und dabei einen sehr starken Willen bewiesen. In einem schon im Juli 2010 in der Rzeczpospolita erschienenen äußerst schwachen Artikel (»Pozyteczni idioci«, dt.: »Nützliche Idioten«) verstieg sich der polnische Historiker Bogdan Musial zu der abenteuerlichen These, die Brandtsche Ostpolitik habe im Wesentlichen dazu gedient, deutschen Unternehmen in der damaligen Sowjetunion bessere Kontakte zu ermöglichen.

Ein viel größeres und zum Teil euphorisches Echo in den polnischen Medien fand allerdings der Besuch des russischen Präsidenten Dimitri Medwedjew am 6. Dezember in Warschau, bei dem Polens Präsident Bronislaw Komorowski davon sprach, dass man nun nicht nur ein neues, sondern auch ein gutes Kapitel in den polnisch-russischen Beziehungen aufschlage, während Medwedjew erklärte, er habe jetzt die Hoffnung auf vollwertige Beziehungen zwischen beiden Ländern. Im Rahmen des Besuchs wurde eine Reihe von Verträgen auf den Gebieten Wirtschaft, Infrastruktur, Energie, Kultur und Jugendaustausch unterzeichnet. Medwedjew kündigte außerdem an, dass die Menschen in Polen die ganze Wahrheit über den Massenmord in Katyn erfahren würden. Bereits vor seinem Besuch hatte der russische Präsident der polnischen Seite weitere Dokumente zu Katyn übergeben. In der Gazeta Wyborcza war von einem Tauwetter in den polnisch-russischen Beziehungen die Rede, während es in der Rzeczpospolita etwas nüchterner hieß, der Besuch Medwedjews sei ein Schritt in die richtige Richtung.

Das unterschiedliche Echo auf die Besuche von Wulff und Medwedjew ist auch ein Indiz für den jeweiligen Stand bzw. die erreichte Qualität in den deutsch-polnischen und den polnisch-russischen Beziehungen. So verlaufen die Beziehungen zwischen Berlin und Warschau nach dem Rückfall der Jahre 2005 bis 2007 inzwischen wieder in ruhigeren Bahnen und hat die Auseinandersetzung über historische Phänomene an Schärfe verloren, wie etwa die fortschreitenden Arbeiten an dem deutsch-polnischen Schulbuch für Geschichte beweisen. Überraschend positiv war ja auch das Meinungsbild in Polen über die deutsch-polnischen Beziehungen, das sich bei einer repräsentativen Umfrage ergab, die von der Konrad-Adenauer-Stiftung beim Institut für Öffentliche Angelegenheiten (Instytut Spraw Publicznych - ISP) in Warschau in Auftrag gegeben worden war. Bei den deutsch-polnischen Regierungskonsultationen am 6. Dezember in Berlin ging Polens Ministerpräsident Donald Tusk sogar so weit, die guten deutsch-polnischen Beziehungen als Modell für das Verhältnis zwischen Polen und Russland zu empfehlen.

Der 40. Jahrestag hat gezeigt, dass Wulff und Komorowski, die am 7. Dezember bereits zum vierten Mal in ihren jetzigen Funktionen zusammentrafen, zu wichtigen Garanten guter deutsch-polnischer Beziehungen gehören.

Die polnisch-russischen Beziehungen dagegen haben sich zwar einerseits seit dem Amtsantritt der Regierung von Donald Tusk im Jahr 2007 verbessert, enthalten andererseits aber auch noch viel Sprengstoff und viele Ungewissheiten, die vor allem aus der komplizierten Entwicklung in Russland resultieren. Immerhin wurde in den Tagen vor dem Medwedjew-Besuch ein Buch der »Polnisch-Russischen Arbeitsgruppe für Schwierige Fragen« mit dem Titel »Biale plamy, czarne plamy« (dt.: »Weiße Flecken, schwarze Flecken«) veröffentlicht, das die wichtigsten historischen Streitfragen zwischen Polen und Russland benennt sowie Vorschläge für eine Annäherung enthält. Der frühere polnische Außenminister und exzellente Russland-Kenner Adam Daniel Rotfeld ist einer der beiden Vorsitzenden dieser Gruppe.

Als Komorowski nach seinen Gesprächen mit Medwedjew und Wulff am 8. Dezember auch noch mit dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama in Washington zusammentraf, zeigte sich wie durch ein Brennglas das gestiegene außenpolitische Selbstvertrauen der polnischen Führung, auch wenn die Gespräche in Washington kaum über Absichtserklärungen hinausgingen. »Trzy dni, trzech prezydentow« (dt.: »Drei Tage, drei Präsidenten«), jubelte die Rzeczpospolita. Am 6. Dezember hatten außerdem die deutsch-polnischen Regierungskonsultationen in Berlin stattgefunden.

Es ist nicht zu übersehen, dass dieses Selbstvertrauen aus einem gestiegenen Gewicht Polens auf dem internationalen und besonders dem europäischen Parkett resultiert, das natürlich nicht mit der Rolle Frankreichs und Deutschlands zu vergleichen ist. Gerade Komorowski hat die Außenpolitik zu einem seiner Arbeitsschwerpunkte gemacht. Jedoch wird auch vor Euphorie gewarnt, dies vor allem von Janusz Reiter, der während der Konferenz im Warschauer Königsschloss auf die gegenwärtige ernste Krise der europäischen Integration hinwies.

Widersprüche, offene Fragen

In den Ansprachen und Diskussionsbeiträgen während der Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung am 7. Dezember im Warschauer Schloss zeigte sich, dass vor allem zwei historische Phänomene bis heute sehr unterschiedlich analysiert und bewertet werden. Das ist zum einen der Kniefall Brandts 1970 selbst und zum anderen sein Warschau-Besuch im Jahr 1985, bei dem es nicht zu einem Treffen mit dem oppositionellen Arbeiterführer und späteren Staatspräsidenten Lech Walesa kam. Es lohnt sich, gerade die polnischen Positionen dazu und auch gravierende Unterschiede zwischen den polnischen und den deutschen Bewertungen genauer zur Kenntnis zu nehmen.

Geht es um den Kniefall, dann reicht die ganze Spannweite der Bewertungen von Adam Krzeminskis Resümee, der schon 1993 schrieb, Brandt habe mit dieser Geste einen psychologischen Umschwung eingeleitet, und Peter Benders Feststellung von 1995, ganz Polen, von einigen antisemitischen Nationalisten abgesehen, habe Brandt geglaubt und sich von ihm verstanden gefühlt, einerseits bis zur 2005 publizierten Feststellung von Michael Wolffsohn und Thomas Brechenmacher andererseits, der Kniefall sei mitnichten ein Schlüssel zum Herzen der Polen gewesen.

Ohne Zweifel versuchten die damaligen kommunistischen Machthaber um Wladyslaw Gomulka und Jozef Cyrankiewicz, den Kniefall vollständig zu ignorieren und zu verschweigen. In allen offiziellen Gesprächen mit Willy Brandt verloren sie kein Wort über diese bewegende Geste. Das bestätigt Mieczyslaw Tomala, der damals bei diesen Unterredungen und anderen Gesprächen als Übersetzer anwesend war. Auch in später erschienenen Tagebüchern und Memoiren kommunistischer Staatslenker wie Cyrankiewicz wird der Kniefall systematisch ausgeblendet.

Die Warschauer Machthaber stellten den deutsch-polnischen Vertrag vom 7. Dezember 1970 in den Vordergrund, mit dem eine Bestätigung der polnischen Westgrenze vollzogen, ein Bekenntnis zum Gewaltverzicht abgelegt und eine Normalisierung der bilateralen Beziehungen eingeleitet wurde. Dieser Vertrag war ein großer Erfolg für die polnische Führung - mit dem unangenehmen Beigeschmack, dass vier Monate zuvor schon ein vergleichbarer Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion abgeschlossen worden war, in dem beide Seiten die Anerkennung der polnischen Westgrenze quasi präjudiziert hatten.

Auch wenn die staatliche Zensur bemüht war, Nachrichten über den Kniefall und Fotos des knienden Willy Brandt zu unterdrücken, stimmt die generalisierende Feststellung von Wolffsohn/Brechenmacher nicht, dass die Medien die Demutsgeste nicht gezeigt hätten. Fotos erschienen nicht nur in der jüdischen Folks Sztyme und in der Regierungszeitung ycie Warszawy; die Nachrichtenagentur PAP brachte zumindest Fotos, die suggerieren sollten, Brandt stehe vor dem Denkmal. Adam Krzeminski betont, die Geste habe sich sehr schnell herumgesprochen und hätte somit viele Polen erreicht. Karol Szyndzielorz, damals Journalist bei ycie Warszawy, berichtete, der Kniefall des deutschen Kanzlers habe die Umstehenden am Ghetto-Denkmal tief bewegt.

Andererseits vertritt Krzysztof Ruchniewicz die Auffassung, es habe damals in Polen kaum Reaktionen gegeben. In dem vor kurzem erschienenen Buch von Wlodzimierz Borodziej »Geschichte Polens im 20. Jahrhundert« wird der Kniefall nicht erwähnt. Janusz Reiter vertritt die Auffassung, die Mehrheit der polnischen Gesellschaft sei damals noch nicht darauf vorbereitet gewesen, über Versöhnung zu sprechen. Sicher gab es auch nicht wenige Polen, die damals der Meinung waren, Brandt habe vor dem »falschen«, eben dem jüdischen Denkmal gekniet. Der Überlebende der Shoah und langjährige Leiter des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, Feliks Tych, berichtet, die damalige Geste des Kanzlers habe bei ihm zwar ein tiefes Gefühl der Genugtuung ausgelöst, aber man müsse wohl auch einräumen, dass davon nur die Warschauer Intelligenz bewegt gewesen sei, nicht aber die ganze polnische Bevölkerung. Für einen Teil der polnischen Gesellschaft dürfte auch die Tatsache eine Rolle gespielt haben, dass Brandt den Normalisierungsvertrag gemeinsam mit einem führenden Repräsentanten des herrschenden kommunistischen Regimes unterzeichnete - jenes Regimes, das eine Woche später auf die protestierenden Arbeiter an der polnischen Ostseeküste schießen ließ. Der während der Vertragsunterzeichnung noch triumphierende Wladyslaw Gomulka musste wenig später abtreten.

Auf jeden Fall entfalteten Brandts Kniefall und die Unterzeichnung des deutsch-polnischen Normalisierungsvertrags im Dezember 1970 eine Langzeitwirkung. Der Publizist Klaus Bachmann verweist in diesem Zusammenhang auf Umfragen des Meinungsforschungsinstituts OBOP. Danach meinten im Jahr 1969 45 Prozent der Befragten, die größte militärische Bedrohung für Polen gehe von der Bundesrepublik Deutschland aus, während im Jahr 1975 nur noch 9 Prozent dieser Ansicht waren. 1969, so OBOP, hätten 86 Prozent der Befragten von einer realen Kriegsgefahr gesprochen, 1975 nur noch 28 Prozent.

Tatsächlich wurde Willy Brandt für Teile der polnischen Gesellschaft zu einem Symbol des guten Deutschen. Wolffsohn und Brechenmacher stellen zu Recht fest, dass die kommunistischen Machthaber Polens 1970 eben diese wirklichkeitssprengende Wucht der Brandtschen Demut erahnt hätten, als sie versuchten, eine Nachrichtensperre über den Kniefall zu verhängen. Vermutlich erlosch diese Sympathie, als führende deutsche Sozialdemokraten im Zuge der Verhängung des Kriegsrechts in Polen im Dezember 1981 auf Distanz zu Solidarnosc gingen, indem sie der Friedenssicherung in Europa Vorrang vor den Freiheitsbestrebungen der Polen einräumten.

Keine Begegnung mit Lech Walesa

Bis heute wird Kritik an Willy Brandt laut, wenn es um seinen Warschau-Besuch im Dezember 1985 geht. Kritische Anmerkungen kommen vor allem von Politikern und Publizisten, die damals der demokratischen Opposition gegen das Regime des Generals Wojciech Jaruzelski angehörten. Trotz eines Briefwechsels zwischen Lech Walesa und Willy Brandt und diverser Bemühungen von Mitarbeitern und Beratern Walesas sowie anfänglichen Sondierungen im Umfeld Brandts kam es nicht zu einem Treffen zwischen dem polnischen Nobelpreisträger und Symbolfigur der um ihre Wiederzulassung kämpfenden Solidarnosc und dem langjährigen SPD-Vorsitzenden bzw. Präsidenten der Sozialistischen Internationale, der ja ebenfalls Träger des Friedensnobelpreises war.

Brandt ging es um eine neue Initiative zur Belebung der Entspannungspolitik, für die er auch die Equipe um Jaruzelski gewinnen wollte. Er machte sich Sorgen wegen des angehäuften Potentials an Atomwaffen. Eine Sondierung der innenpolitischen Lage in Polen und ein intensiver Gedankenaustausch mit den verschiedenen Strömungen der demokratischen Opposition standen nicht im Zentrum seines Interesses.

Unter dem Druck der Führung um Jaruzelski und angesichts der abwiegelnden Haltung führender Vertreter der Katholischen Kirche verzichtete Brandt auf ein Treffen mit Walesa, das sowohl in Danzig wie auch in Warschau möglich gewesen wäre. Offenbar wurde er in seiner Haltung auch durch die Deutsche Botschaft in Warschau bestärkt, die davor warnte, dass ein beabsichtigtes Treffen mit Walesa dazu führen könne, dass die Jaruzelski-Führung Brandts Besuch insgesamt stornieren würde - eine krasse Fehleinschätzung, da es sich das innen- wie außenpolitisch relativ stark isolierte Regime nicht hätte leisten können, den Präsidenten der Sozialistischen Internationale und Friedensnobelpreisträger auszuladen.

Immerhin traf sich Brandt mit Vertretern der katholischen Strömung der Opposition, darunter dem späteren Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki, nicht aber mit Repräsentanten der laizistischen, linksliberalen Strömung wie Bronislaw Geremek, was ebenfalls möglich gewesen wäre. Zwischen Brandt und Jaruzelski kam es insgesamt zu sechs (!) Begegnungen.

Was waren die Gründe dafür? Offenbar verabsolutierte Brandt die Erfahrung, dass öffentlicher und äußerer Druck auf Diktaturen auch zu deren zeitweiliger Verhärtung beitragen kann. Er wollte die Opposition nicht ermutigen, ohne ihr dann im Ernstfall wirklich beistehen zu können. Brandt überschätzte die Stabilität bzw. Zukunftsträchtigkeit des Jaruzelski-Regimes und unterschätzte die Fähigkeit der Solidarnosc, sich zu regenerieren. Auch von einem Treffen mit Walesa hätte ein international beachtetes friedenspolitisches Symbol ausgehen können.

Offensichtlich war die gesamte damalige SPD-Führung mit Ausnahme von Hans Koschnick schlecht über die innenpolitische Lage in Polen informiert bzw. wollte sich nicht genauer informieren. Brandt sah zu wenig, dass auch die polnische Opposition eine große Friedenskraft war, wie sich später in den Verhandlungen am Runden Tisch zeigte, und dass sie großes Interesse an einer deutsch-polnischen Versöhnung hatte. Insgesamt zeigten sich die Schwächen der damaligen sozialdemokratischen Entspannungs- und Polen-Politik. Den Sozialdemokraten fehlte der Mut, sich genauer auf das damalige Polen mit all seinen Widersprüchen einzulassen.

Alle diese Fakten und Zusammenhänge werden von SPD-nahen Historikern wie Bernd Rother bis heute nicht vollständig zur Kenntnis genommen, da sie kaum polnische Quellen zu Rate ziehen. Andererseits hatte die SPD-Politikerin Angelica Schwall-Düren den Mut, bei der Eröffnung der Willy Brandt-Ausstellung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Danzig genau diese Schwächen der Brandtschen Entspannungspolitik zu benennen.

Brandt selbst hat später in seinen Erinnerungen und auch mündlich beispielsweise gegenüber dem verstorbenen polnischen Außenminister Bronislaw Geremek eingeräumt, dass er die Bedeutung gesellschaftlicher Bewegungen im ehemaligen Ostblock wohl unterschätzt habe. Geremek setzte sich später für die Errichtung eines Denkmals für Willy Brandt in Warschau ein, wie der polnische Botschafter in Deutschland, Marek Prawda, berichtet. In einer Rede im Deutschen Bundestag im Januar 2002 nannte Geremek Brandt einen großen Deutschen und erinnerte an seinen Kniefall 1970. Schon beim Staatsakt zum Tode Brandts im Oktober 1992 hatte ihn der inzwischen verstorbene damalige polnische Außenminister Krzysztof Skubiszewski als deutschen Staatsmann und großen Europäer gewürdigt.

Fazit

Das gemeinsame Auftreten der Präsidenten Komorowski und Wulff am 7. Dezember 2010 in Warschau und auch die Tatsache, dass der SPD-Vorsitzende Gabriel an diesem Tag »mit ins Boot geholt wurde«, hat sicher dazu beigetragen, den Namen Willy Brandts in der polnischen Öffentlichkeit wieder etwas mehr zu verankern. Die Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung war ein guter Anlass, auf der Basis von Brandts Vermächtnis über die Zukunft des krisengeschüttelten Europa zu diskutieren. Bei der Brandt-Ausstellung zeigen sich junge Besucher vor allem vom Kampf Brandts in seiner Jugend gegen Unterdrückung und von seiner antikommunistischen Haltung beeindruckt. Die Älteren wie Adam Krzeminski verweisen nicht zuletzt auf das große innenpolitische Risiko, mit dem er seine Entspannungspolitik betrieb. Ohnehin sucht jede neue Generation ihren eigenen Zugang zur Geschichte. Vieles wird von den polnischen Historikern, Museumspädagogen, Schulbuchautoren und historisch versierten Publizisten abhngen. Wenn die polnischen Nationalkonservativen Brandts Wirken verschweigen oder negieren, ist das nicht weiter verwunderlich, passt er doch nicht in ihr ideologisch verqueres Deutschlandbild.

Vielleicht wird Brandts Kniefall am 7. Dezember 1970 eines Tages in Polen doch noch zu einem wichtigen Topos des Erinnerns. Immerhin ist Polen seit Brandt ein wichtiges Thema für deutsche Kanzler. Er selbst hat schon früh die Sicherheit dieses Staates als wesentliches Anliegen begriffen.

Über den Autor

Reinhold Vetter lebt als freier Publizist in Warschau und Berlin. 2010 ist seine Biografie des polnischen Arbeiterführers und späteren Staatspräsidenten Lech Walesa, »Polens eigensinniger Held: Wie Lech Walesa die Kommunisten überlistete«, im Berliner Wissenschafts-Verlag erschienen.

Fussnoten