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Kommentar: Die Befreiung vom Geschlecht | bpb.de

Kommentar: Die Befreiung vom Geschlecht

Bogumił Łoziński

/ 6 Minuten zu lesen

Der Schutz der traditionellen Familie ist eines der zentralen Themen der anti-LGBT-Aktivist/-innen. (© picture-alliance, NurPhoto, Artur Widak)

Der Streit zwischen der LGBT-Bewegung und konservativen Kreisen lässt sich im Kern auf das Problem zurückführen, ob im Namen der Freiheit die Wahrheit über das eigene Geschlecht abgelehnt werden kann.

Gleiche Rechte

Die Debatte über die Forderungen der LGBT-Personen in Polen findet auf vielen Ebenen statt, u. a. auf einer ideologischen, rechtlichen, gesellschaftlichen, politischen sowie religiösen Ebene. Personen mit einer nicht heteronormativen sexuellen Orientierung sind der Ansicht, dass sie nicht die gleichen Rechte haben und diskriminiert werden. Es gilt sehr deutlich zu unterstreichen, dass alle Polen, unabhängig vom Geschlecht oder der sexuellen Orientierung, gleiche Rechte haben. Das garantieren die Verfassung und die nachgeordneten Rechtsakte. Es entspricht nicht der Wahrheit, dass Angehörige der homosexuellen Minderheit in Polen rechtlich diskriminiert werden.

Allerdings gibt es wie in jedem Land bestimmte Personengruppen, die außer den Bürgerrechten bestimmte Privilegien genießen, zum Beispiel haben manche Berufsgruppen das Recht auf einen vorzeitigen Renteneintritt. Die Sonderrechte sind das Ergebnis einer gesellschaftlichen Vereinbarung. Auch die Rechte für Ehe und Familie sind solche Privilegien. Es geht zum Beispiel um das Recht der gemeinsamen steuerlichen Veranlagung, um kinderbezogene Vergünstigungen oder steuerliche Rechte. Die LGBT-Bewegung fordert, gleichgeschlechtlichen Paaren dieselben Privilegien einzuräumen wie sie heterosexuelle Ehen haben, wozu auch das Recht auf die Adoption von Kindern gehört. Allerdings müsste, um diese Forderung zu erfüllen, die polnische Verfassung geändert werden, die eindeutig festlegt, dass die Ehe eine Verbindung zwischen Mann und Frau ist. Im Sejm, der eine Verfassungsänderung vornehmen kann, gibt es aktuell nicht die erforderliche Mehrheit dafür. Natürlich kann das Modell geändert werden, können gleichgeschlechtliche Paare dieselben Privilegien wie Ehepaare aus Mann und Frau erhalten. Aber es muss die Unterstützung der deutlichen gesellschaftlichen Mehrheit gegeben sein, und diese Unterstützung gibt es nicht. Noch einmal unterstreiche ich, dass es hier nicht um Diskriminierung geht, sondern um zusätzlich zugestandene Rechte.

Die gesellschaftliche und politische Debatte

Die gesellschaftliche und politische Debatte über die Forderungen der LGBT-Bewegung wurde in Polen von extremen Milieus dominiert. Die Politiker rechter Gruppierungen bedienen sich einer scharfen Rhetorik, die häufig die Grenzen des Zulässigen überschreitet. Beispielsweise behaupten sie, dass Homosexuelle keine Menschen seien. Es gibt auch radikale rechte Organisationen, die LGBT-Personen direkt angreifen, zum Beispiel während der "Gleichstellungsparaden" (parada/marsz równości). Allerdings muss einem bewusst sein, dass es sich dabei um extreme Einstellungen und Verhaltensweisen handelt, die sogar in den eigenen Kreisen kritisiert werden. Leider wird in der Welt aber auf dieser Grundlage das Bild von der Situation der LGBT-Personen in Polen gezeichnet, als ob solche extremen Auswüchse allgemein verbreitet wären.

Auf der anderen Seite begannen auch LGBT-Personen, nachdem sie jahrelang ihre Forderungen mit friedlichen Methoden zur Sprache brachten, radikale, nicht rechtskonforme Mittel einzusetzen. Ein Beispiel: Einem Aktivisten wurde Gewalt angetan – er gehört zu einer Stiftung, die sich öffentlich dagegen positioniert, Homosexuellen besondere Rechte zu geben, und auch die Beschädigung der Autos dieser Stiftung kommt inzwischen häufig vor. Als der mutmaßliche Täter festgenommen wurde, setzten aufseiten der LGBT-Community scharfe Proteste ein, um ihn freizubekommen, zumal er sich als bisexuell erklärt hat.

In linken Kreisen fanden radikale Methoden, die häufig darauf beruhen, dass Rechte verletzt werden, Unterstützung. Diese Kreise vertraten die Meinung, dass LGBT-Personen über dem Recht stehen. Das weckt natürlich den Widerstand der Mehrheit der Gesellschaft, die das Privileg der Straflosigkeit aus dem Grund, dass jemand Anhänger der LGBT-Forderungen ist, nicht akzeptiert.

Besonders empörend sind für Christen die Angriffe von LGBT-Personen auf Symbole des Glaubens, u. a. indem auf Bildnisse Jesu oder der Muttergottes der Regenbogen als Symbol der Homosexuellen gemalt wird oder indem Transparente gezeigt werden, auf denen eine Monstranz mit dem Allerheiligsten neben dem weiblichen Geschlechtsorgan zu sehen ist. Für gläubige Menschen ist so etwas schmerzlich, unabhängig von den Erklärungen der Urheber. Unterdessen behaupten die LGBT-Milieus, dass sie tolerant seien, fordern, dass man andere respektieren, die Welt gerecht sein müsse usw. In der Realität beschmutzen sie mit solchen Verhaltensweisen das, was anderen heilig ist, und machen die Welt schlechter.

Der Streit um die Wahrheit

Der Streit um die LGBT-Forderungen hat eine weit reichende zivilisatorische Dimension. Die Umsetzung eines Teils der Forderungen würde eine Veränderung der Paradigmen bedeuten, auf die sich das gesellschaftliche Leben in Polen stützt. Es geht hier um die LGBT-Ideologie, auch Gender-Ideologie genannt. Die LGBT-Community bestreitet, dass es eine solche Ideologie gibt, aber die Analyse der ideellen Grundlagen, denen ihre Forderungen entspringen, und vor allem die Vorstellung vom Menschen und der Gesellschaft erfüllen die Kriterien einer Ideologie eindeutig. Ihr Kerngedanke besteht darin, den Menschen von seinem Geschlecht zu befreien. Dies ist eines der Hauptthemen der sogenannten dritten Welle des Feminismus. Dessen Vertreterinnen sind der Meinung, dass die Ungleichheit nicht dadurch aufgehoben wurde, dass rechtliche Gleichheit oder sogar bestimmte Privilegien erreicht wurden. Daraus ergab sich die Idee, sich vom biologischen Geschlecht zu befreien und das kulturelle Geschlecht als das maßgebende anzuerkennen, das heißt Verhaltensmuster und Rollen, die wir dem jeweiligen Geschlecht zuschreiben. Die Konsequenz dieser Herangehensweise ist die Möglichkeit, ein beliebiges Geschlecht zu wählen; es reicht, sich entsprechend zu verhalten, unabhängig von den biologischen Bedingungen.

Die konservative Seite lehnt diese Einstellung entschieden ab und weist darauf hin, dass Freiheit nicht im Widerspruch zur Wahrheit stehen kann. Ein Mensch, der 1,60 Meter groß ist, kann zwar behaupten, dass er zwei Meter groß ist – aber es entspricht nicht der Wahrheit. Ähnlich ist es im Falle des Geschlechtes. Eine Frau kann behaupten, dass sie ein Mann ist, und sogar die Rolle eines Mannes spielen, aber sie ist weiter eine Frau, denn das Geschlecht ist keine Frage der Wahl. Bei Transsexuellen spitzt sich dieses Problem auf extreme Weise zu. Die LGBT-Community, die sagt, im Namen der Transsexuellen aufzutreten, ist der Ansicht, dass die Möglichkeit der freien Wahl des Geschlechtes die Probleme Transsexueller lösen würde. In manchen Ländern kann man bereits auf der Grundlage einer Erklärung das Geschlecht in den Dokumenten ändern lassen, so oft man will. Jedoch besteht die Lösung für das Drama der Transsexuellen nicht darin, ihnen die freie Wahlmöglichkeit des Geschlechtes zu garantieren. Sie wollen eine Antwort auf die Frage "Wer bin ich? Welches Geschlecht habe ich?" finden. Nicht die Freiheit der Wahl ist die Lösung des Problems, sondern die Wahrheit.

Die polnischen Konservativen sind sich dessen bewusst, dass die Ideologie der Befreiung vom Geschlecht in der westlichen Welt die dominierende gesellschaftspolitische Strömung ist. Ihre offizielle Ausdrucksform ist das sogenannte Gender Mainstreaming. Diese politische Strategie für Gleichberechtigung beruht darauf, die Chancengleichheit für Frauen und Männer in der Hauptströmung der Politik zu verankern. Das Gender Mainstreaming wurde als offizieller Bestandteil der Gleichheitspolitik in die Dokumente der Europäischen Union und der Vereinten Nationen aufgenommen. Zum ersten Mal 1995 auf der Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen in Peking und 1997 in die Artikel 2 und 3 des Amsterdamer Vertrages der Europäischen Union. Die EU-Mitgliedsstaaten sind verpflichtet, in ihren Handlungen, Plänen und Analysen die Perspektive der kulturellen Geschlechtsidentität zu berücksichtigen. Beispielsweise müssen alle Projekte, die aus europäischen Fonds finanziert werden, die Grundsätze des Gender Mainstreaming umsetzen. Es lässt sich nicht ausschließen, dass die Ideologie der Geschlechtergleichheit nicht auch das gesellschaftliche Leben in Polen dominieren wird. Nur dass sie als Utopie, die auf einer falschen Annahme beruht, ohnehin zum Scheitern verurteilt ist (das ist aus der Geschichte bekannt, Beispiele wären die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts), wenn der Prozess auch lange dauern und viele menschliche Leiderfahrungen und Dramen mit sich bringen kann. Daher treten die Konservativen in Polen entschieden gegen die Ideologie der Befreiung vom Geschlecht ein. Das bedeutet jedoch keinesfalls, LGBT-Personen zu diskriminieren.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Fussnoten

Bogumił Łoziński, Journalist und Publizist, ist stellvertretender Chefredakteur der auflagenstärksten katholischen Wochenzeitung Gość Niedzielny . Interviews führte er beispielsweise mit Kardinal Josef Ratzinger und dem Philosophen Leszek Kołakowski. Er kommentiert gesellschaftspolitische Themen und Ereignisse in den polnischen Medien.