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Opposition und Protest in Russland | Russland | bpb.de

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Opposition und Protest in Russland

Mischa Gabowitsch

/ 6 Minuten zu lesen

Die Opposition in Russland ist weder zwangsläufig demokratisch noch prowestlich, gleichzeitig bedeuten nationalistische und antiwestliche Einstellungen keine Regimetreue.

Sankt Petersburg, Russland am 5. Mai 2018: Menschen protestieren entlang des Newskij Prospekts auf einer nicht genehmigten Demonstration. (© dpa)

Eine stramme Machtvertikale unter Präsident Putin, daneben eine schwache, wenn auch mutige demokratische Opposition: So wird das politische Gefüge in Russland oft in den Medien dargestellt. Die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger gilt dann als fügsam, gar apathisch; allenfalls eine kleine, kritisch-widerständige Zivilgesellschaft findet zuweilen Erwähnung.

Es gibt jedoch große Bereiche gesellschaftlichen Engagements, die nicht in dieses Schema passen. Die Schwierigkeiten beginnen bereits beim Begriff "Opposition". Der Ausdruck bezeichnet im Russischen zumeist im engeren Sinne Politiker und Parteien jenseits des regierenden "Geeinten Russlands". Viele Menschen, die dem politischen System kritisch gegenüberstehen oder gegen konkrete Missstände protestieren, sehen allerdings diese Opposition auch skeptisch und würden sich niemals als Oppositionelle bezeichnen. Im Gegenzug signalisiert auch ein Lippenbekenntnis zum Präsidenten – etwa in den vielzitierten Meinungsumfragen – keine bedingungslose Unterstützung und sagt kaum etwas über die Bereitschaft zu Protest und Widerstand in konkreten Fällen aus. Schließlich ist Opposition in Russland weder in ihrer Programmatik noch in der Praxis zwangsläufig demokratisch oder prowestlich, während gleichzeitig nationalistische und antiwestliche Einstellungen weder mit Regimetreue noch mit Passivität gleichgesetzt werden können.

Oppositionelle Parteien

Zunächst ist zwischen der sogenannten System- und der außerparlamentarischen Opposition zu unterscheiden. Erstere sind Parteien, denen die Präsidialadministration durchweg die Teilnahme an Wahlen gestattet und Sitze in Parlamenten oder auch Positionen in der Exekutive zugesteht. Dies gibt den Parteifunktionären und ihren Verbündeten Zugang zu attraktiven Ressourcen, nicht zuletzt zu Staatsmedien. Im Gegenzug müssen sie sich an die vom Kreml vorgegeben Spielregeln halten: Kandidatenlisten müssen abgesegnet werden, Wahlen werden manipuliert, allzu radikale Kritik ist verpönt, Einflussmöglichkeiten sind beschränkt.

War die Zahl der offiziell zugelassenen Parteien zeitweise auf sieben geschrumpft, ermöglichte eine 2012 in Kraft getretene Lockerung der Bestimmungen wieder einen großen Zuwachs. Landesweit spielen jedoch weiterhin nur wenige von ihnen eine Rolle, allen voran die "Kommunistische Partei der Russischen Föderation" (KPRF), die nationalistische "Liberal-Demokratische Partei Russlands" (LDPR), die sozialdemokratische Partei "Gerechtes Russland" und das linksliberale "Jabloko". Ungeachtet der formalen Parteiprogramme reicht das Spektrum dabei von durchgängiger Unterstützung der Regierungslinie (LDPR) bis hin zu anhaltender Kritik (Jabloko). Mit teilweiser Ausnahme der KPRF handelt es sich dabei nicht um Volksparteien, sondern eher um Unterstützervereine für jeweils eine Handvoll bekannter Persönlichkeiten auf nationaler oder regionaler Ebene. Dennoch herrscht in den Regionen zuweilen eine überraschende parteiinterne Vielfalt. Die Loyalität gegenüber dem Kreml und die Zusammenarbeit mit außerparlamentarischen Protestbewegungen werden immer wieder zum Zankapfel. Eine Bedrohung für das politische System erwächst daraus jedoch nicht. Dafür sorgt die Präsidialadministration mit Zuckerbrot (der Ruhigstellung Aufmüpfiger mit Posten und Pfründen) und Peitsche: Nicht genehme Kandidaten werden aus dem Rennen genommen, müssen sich vor Gericht wegen Korruption verantworten oder werden auf offener Straße von Unbekannten zusammengeschlagen.

Noch intensiver kommen all diese Mittel gegen die außerparlamentarische Opposition zum Einsatz: ein ideologisch breites Spektrum an Parteien, Vereinigungen und informellen Gruppen, die dem durch die Obrigkeit regulierten Politikbetrieb die Straße vorziehen und mangels Zugang zu Massenmedien über eigene Zeitungen oder das Internet kommunizieren. In den 1990er-Jahren gehörte dazu vor allem das "nationalpatriotische" Milieu, das sich gegen Präsident Jelzin stellte und mit den kommunistischen und nationalistischen Parteien verbunden war, dazu eine Handvoll linke Gruppen sowie Menschenrechtler, die in der Tradition der Dissidenten gegen die Kriege in Tschetschenien protestierten. Seit die liberalen Parteien jedoch 2003 aus der Duma gedrängt wurden, entschieden sich auch ihre ehemaligen Funktionäre und Aktivisten häufig für den Straßenprotest. Gerade in der Provinz bildeten sich mit der Zeit unerwartete Solidaritäten: Nationalisten und Anarchisten, Linke und Liberale betonten angesichts staatlicher Repressalien zunehmend ihre Gemeinsamkeiten. Lockerungen oder auch einschneidende Ereignisse wie die Besetzung der Krim im Jahr 2014 konnten sie jedoch auch schnell wieder entzweien. Das oppositionelle Milieu blieb durchweg klein und den meisten unbekannt, bis die Fälschungen bei den Dumawahlen 2011 eine landesweite Protestwelle ins Rollen brachten. Die Proteste verschafften der außerparlamentarischen Opposition unverhofft ein Publikum und einen gewissen Zulauf. Besondere Bekanntheit erlangte der Anti-Korruptions-Blogger und nationalliberale Politiker Alexej Nawalny. Bereits 2013 erzielte dieser einen Achtungserfolg bei der Wahl zum Moskauer Bürgermeister. Im Frühjahr und Sommer 2017 war er der Star einer neuen Welle von Massenprotesten gegen Korruption, die anders als in den Jahren 2011-13 maßgeblich von ihm und seinen – zunehmend jüngeren – Unterstützern organisiert wurden.

Protest und gesellschaftliches Engagement

Gemeinsam ist diesen Milieus das Anliegen, Russlands politisches System als Ganzes umzubauen oder zumindest dessen Personal auszuwechseln. Daneben gibt es jedoch zahlreiche Formen des Protests "von unten". Vor allem Eingriffe in Umwelt und Stadtbild durch die – miteinander identischen oder verzahnten – staatlichen und wirtschaftlichen Eliten erzeugen regelmäßig Widerstand. Initiativen gegen Abholzung oder Raubbau, gegen verdichtende Bebauung oder den Abriss bzw. Umbau historischer Gebäude gibt es in jeder größeren und vielen kleineren Städten, Umweltproteste vereinzelt auch in ländlichen Gegenden. Auch die Privatisierung gemeinschaftlich genutzter Flächen wie etwa Parks zugunsten von Investoren, aber auch der Russisch-Orthodoxen Kirche ruft zuweilen Protest hervor. Solche Initiativen bleiben jedoch fast ausnahmslos lokal. Im Vergleich zu Westeuropa institutionalisieren Protestierende in Russland ihre Aktivitäten eher ungern. Anstatt Vereine zu gründen und formale Rechte einzuklagen, stützt man sich lieber auf bestehende Freundschaftsnetzwerke und den gemeinsamen Bezug zu konkreten Orten.

Gerade bei klassischen Menschenrechtsthemen wie Polizeigewalt oder der Verfolgung Homosexueller wenden sich einzelne Opfer zwar durchaus an Anwälte oder spezialisierte Bürgerrechtsorganisationen, die sich regelmäßig bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg klagen. Mit Petitionen und über persönliche Kontakte lässt sich in konkreten Fällen jedoch oft mehr erreichen. Viele Protestierende weigern sich schon deshalb, ihre Aktivitäten als politisch oder gar oppositionell zu bezeichnen. Zum einen führt eine solche Einordnung fast unweigerlich zu staatlichen Repressalien. Zum anderen haben lokale Umwelt- oder Denkmalschützer oft berechtigte Angst, ihr konkretes Anliegen könne von Moskauer Oppositionspolitikern für eigene Zwecke vereinnahmt werden. Diese unterschiedlichen Perspektiven führen nicht selten zu Spannungen: Um das System von unten zu reformieren, schließen sich politischen Aktivisten vor allem seit Putins Wiederwahl 2012 gerne lokalen Bewegungen an. Diese sind darüber jedoch nicht immer erfreut – und nutzen im Gegenzug Großdemonstrationen eher als Bühne für ihre ortsspezifischen Themen statt als Ausdruck einer Unterstützung für die Opposition.

Eine etwas stärkere Vernetzung lässt sich bei sogenannten Sozialprotesten beobachten, bei denen es um Themen wie Lohnrückstände oder Sozialabbau geht. Vom Staat unabhängige Gewerkschaften sind in Russland zwar bis auf wenige Ausnahmen sehr schwach, und auch die Wirtschaftskrisen seit 2009 trieben im Vergleich zu vielen anderen Ländern nur wenige Menschen auf die Straße. Dennoch entstehen regelmäßig überregionale – wenn auch zumeist relativ kurzlebige – Protestbewegungen, die durchaus Erfolge erzielen. In den Jahren 2004 und 2005 reagierten vor allem Rentner mit Massenprotesten auf die Umwandlung diverser Vergünstigungen in Geldleistungen. Vier Jahre später stieß die Einführung von Kfz-Einfuhrzöllen auf erheblichen Widerstand in Grenzregionen im äußersten Osten und Westen des Landes. Zuletzt protestieren Darlehensnehmer, als sich durch den Rubel-Einbruch infolge der Krimkrise ihre in Fremdwährung aufgenommenen Hypotheken verteuerten. Fast zeitgleich führte die Einführung einer Lkw-Maut zugunsten einer Firma aus dem persönlichen Umfeld des Präsidenten zu landesweiten Protestaktionen, die die Gewerkschaft der Berufskraftfahrer organisierte. In all diesen Fällen konnten die entsprechenden Bewegungen die Einführung der kontroversen Maßnahmen wenigstens zeitweise ausbremsen. Noch ungewiss bleibt der Ausgang anderer Bewegungen, etwa der "Traktorproteste" von Landwirten aus Südrussland gegen ihre Enteignung durch Agrarriesen.

Im Spannungsfeld zwischen Opposition und Lokalprotest lässt sich zudem in den letzten Jahren ein neues Phänomen beobachten: Ein Format entsteht lokal und wird rasch landesweit aufgegriffen, ohne dass die Aktionen zentral koordiniert würden. Ein frühes Beispiel dafür waren die als "Strategie-31" bekannten Aktionen für die in Artikel 31 der Verfassung verankerte Versammlungsfreiheit. Ähnlich strukturiert sind aber auch die aus Nowosibirsk stammenden "Monstrationen", die mit absurden Slogans Elemente von Kunstperformance und politischem Protest verbinden – oder die "Russischen Läufe", mit denen Nationalisten im Namen der Volksgesundheit Leibesertüchtigung und Enthaltsamkeit im öffentlichen Raum zelebrieren. Einem derartigen Format folgt auch das "Unsterbliche Regiment". An dieser ursprünglich aus Tomsk stammenden Aktion, bei der zum Gedenken an den Zweiten Weltkrieg Menschen mit Porträts von Angehörigen durch die Stadt laufen, nehmen inzwischen jährlich Hunderttausende teil.

Generell ist das Kriegsgedenken eines der Hauptfelder gesellschaftlichen Engagements – etwa in Form von freiwilligen Suchtrupps oder Reenactment-Bewegungen. Vordergründig staatstragend, bietet dieses Thema jedoch auch politischen Sprengstoff. Einerseits stehen Bewegungen wie das Unsterbliche Regiment nicht zuletzt für das liberale Projekt, ein zuvor staatszentriertes Gedenken zu individualisieren. Andererseits rekrutieren sich aus dem militäraffinen Milieu oft gewaltbereite Aktivisten, die etwa als Freiwillige in den Donbass ziehen und auch zur russischen Führung ein ambivalentes Verhältnis haben.

Mischa Gabowitsch, geboren 1977, ist Zeithistoriker und Soziologe. Er studierte in Oxford und Paris und promovierte an der Pariser Ecole des hautes études en sciences sociales (Hochschule für Sozialwissenschaften, EHESS). Er hat an der Princeton University unterrichtet und ist derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Einstein Forum in Potsdam.