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Russland und Ukraine

Kerstin S. Jobst

/ 11 Minuten zu lesen

Die russisch-ukrainischen Beziehungen sind geprägt von einem Prozess der Ver- und Entflechtungen. Ein Blick auf die Beziehungen nach dem Zerfall der Sowjetunion bis zum Beginn des Euromajdan.

Das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine ist nicht schon immer von Konflikten geprägt. (© picture alliance / AP Photo)

Einleitung

Im März 2019 jährte sich der Tag der Annexion der Halbinsel Krim durch die Russländische Föderation zum fünften Mal. Von einem Großteil der Staatengemeinschaft wird die Annexion als völkerrechtswidrig eingeschätzt und weist sowohl für Moskau als auch für die Krim-Bewohner – abseits des hohen symbolischen Wertes – ökonomisch eine durchwachsene Bilanz auf. Der andauernde Kampf zwischen regulären und irregulären ukrainischen Einheiten einerseits und Separatisten andererseits um die international nicht anerkannten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine hat seit dem Beginn des sogenannten Euromajdan ca. 13.000 Tote gefordert. Die Konflikte haben eine große Migrationswelle innerhalb der Ukraine und nach Russland ausgelöst, die vom Westen weitgehend ignoriert wird – genauso wie die ukrainisch-russische Krise insgesamt.

Die Ereignisse der letzten Jahre könnten den Anschein erwecken, dass die Beziehung zwischen Ukrainern und Russen eine einzige Konfliktgeschichte sei. Dieser Eindruck ist jedoch genauso falsch wie die Annahme, bei Russen und Ukrainern handle es sich genaugenommen um ein und dieselbe Nationalität – eine Auffassung, die besonders russischerseits immer wieder vertreten wird. Vielmehr ist das ukrainisch-russische Verhältnis ein Paradebeispiel für einen historisch gewachsenen Prozess von Ver- und Entflechtungen. Der Wiener Historiker Andreas Kappeler hat diesen treffend als einer Familie ähnlich beschrieben, in der "Eintracht und Streit" gleichermaßen vorkommen: In dieser gedachten Völkerfamilie nimmt Russland traditionell die Rolle des großen Bruders ein, womit kein gleichberechtigtes, sondern ein asymmetrisches Verhältnis festgeschrieben wurde. Solange die Sowjetunion noch existierte und die ukrainische Sowjetrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg als zweitwichtigste Nationalität – als "secunda inter pares" - nach der russischen geworden war, spielte dies nur eine untergeordnete Rolle. Die Auflösung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) und daraus folgend das Entstehen eines unabhängigen ukrainischen Staates sollten dies ändern.

Von der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl bis zur Auflösung der Sowjetunion

Die auch in der ukrainischen Sowjetrepublik existenten verschiedenen Dissidentengruppen hatten seit den 1960er Jahren überwiegend für eine reformerische Umgestaltung der Sowjetunion plädiert, nicht für einen Systemwechsel. Die größten Zäsuren markierten Michail Gorbatschows Politik der Perestrojka und der Glasnost, die neue Kommunikationsregeln innerhalb der Sowjetunion etablierten, sowie der Reaktorunfall von Tschernobyl im April 1986. Eine bis dahin weitgehend unsichtbare Mobilisierung der ukrainischen Bevölkerung kulminierte im September 1989 in der Gründung einer Umweltaktivisten, Nationalisten und Systemkritiker vereinigenden Bürgerbewegung – "Ruch" (ukrainisch: Bewegung; Narodnyj Ruch Ukraïny). Sie war eine treibende Kraft der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung.

Nach dem gescheiterten Augustputsch in Moskau 1991 erklärte der Oberste Sowjet, das höchste Legislativorgan der Ukraine, am 24. August die ukrainische Unabhängigkeit und ließ diese am 1. Dezember des Jahres mit einem Referendum von der Bevölkerung mit regional unterschiedlichen Ergebnissen, im Mittel aber mit 90 Prozent Zustimmung bestätigen (auf der Krim nur 54 Prozent). Erstmals nach dem Ersten Weltkrieg, als es eine Reihe kurzlebiger ukrainischer Staatsgründungen gegeben hatte, gab es eine unabhängige Ukraine. Boris Jelzin, im Juni des Jahres bei den ersten russischen Präsidentschaftswahlen zum Präsidenten der russischen Teilrepublik gewählt, hatte im Vorfeld vergeblich versucht, die Ukraine an der Seite Russlands zu halten. Ein Kompromiss und zugleich Ausdruck der damaligen Schwäche Moskaus war die Ende 1991 erfolgte Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und die Auflösung der UdSSR.

Nach dem Ende der Sowjetunion – erste Krisen

Alle ehemaligen Unionsrepubliken einschließlich Russland und der Ukraine durchliefen einen schwierigen Transformationsprozess: Neben wirtschaftlichen Problemen, die auch das Resultat der Entflechtung der bis dahin streng zentralistischen Ökonomie waren, gab es Konflikte zwischen den Parlamenten und den jeweiligen Präsidenten sowie zwischen alten und neuen Eliten. Fast überall wurde das entstandene ideologische Vakuum durch nationale Parolen ersetzt, im russischen Fall kam noch so etwas wie ein postimperialer Phantomschmerz hinzu, hatten doch viele Russinnen und Russen mit dem Verlust der Weltmachstellung zu kämpfen. Die russische Schwäche war auch ein Grund dafür, dass Moskau einige zentrale Konfliktfelder mit dem neuentstandenen ukrainischen Staat hinnehmen musste.

Neben der für den Großteil der russischen Bevölkerung unumstößlichen Wahrheit, dass die drei ostslavischen Nationalitäten (neben Russen und Ukrainern die Weißrussen) im Grunde seit den Zeiten der ersten ostslavischen Herrschaftskonzentration, der Kiever Rus´, zusammengehören und deshalb deren separate Staatlichkeiten als unnatürlich empfunden wurde (und wird), kamen weitere Faktoren dazu: Im Januar 1992 hatte der erste gewählte ukrainische Präsident Leonid Kravčuk verfügt, alle auf dem Territorium der Ukraine stationierten sowjetischen Truppen sowie der Schwarzmeerflotte dem ukrainischen Oberbefehl zu unterstellen. Das markierte den Beginn des Streits um die Zugehörigkeit der in Sewastopol auf der Krim konzentrierten Marine im Besonderen als auch um die Halbinsel im Allgemeinen. Die Krim war 1954 unter Chruschtschow aus zuvorderst pragmatischen (u.a. da die durch Weltkrieg stark zerstörte Krim vom ukrainischen Festland aus besser zu versorgen war, um Kiew fester an Moskau zu binden) Gründen der ukrainischen Sowjetrepublik zugeschlagen worden.

Ein anderes, potentielles Problem konnte hingegen gelöst werden: das der in der Ukraine stationierten Atomwaffen. Nach der Auflösung der Sowjetunion war die Ukraine unverhofft zur drittgrößten Atommacht der Welt geworden. Die hatte aber komplikationslos der Vernichtung der auf ukrainischem Staatsgebiet stationierten 176 Interkontinentalraketen zugestimmt. Im Gegenzug verpflichteten sich Russland, die USA und Großbritannien im Budapester Memorandum vom Dezember 1994 gegenüber der Ukraine, deren Souveränität und ihre Grenzen zu achten. Im Zusammenhang mit der Krim-Krise von 2014 wurde immer wieder auf dieses Abkommen hingewiesen, da Moskau damit die territoriale Integrität der Ukraine anerkannt hatte.

1997 wurde, nach dem Abschluss verschiedener bilateraler Abkommen u.a. über wirtschaftliche Zusammenarbeit, zwischen der Russländischen Föderation und der Ukraine ein bis 2017 gültiges, aber bereits 2014 gekündigtes Abkommen über die Aufteilung der Schwarzmeerflotte geschlossen. Dieses sprach Moskau den Löwenanteil an den – zumeist schrottreifen – Überresten der ehemaligen Roten Flotte zu. Im Gegenzug erkannte der Kreml abermals die ukrainischen Grenzen an und versprach, die prorussischen Krim-Separatisten nicht länger zu unterstützen. Auf der Krim hatte es seit 1991 immer wieder massive antiukrainische Aktionen gegeben. Kiew konnte diese nur mit Mühe – und wie sich zeigen sollte, nicht dauerhaft – durch einen, in der Ukrainischen Verfassung festgeschriebenen, Autonomiestatus befrieden.

Kiev, Moskau und der Westen

Die innerhalb Russlands konsensfähige Meinung, dass die Ukrainer Teil der großen ostslawischen Völkerfamilie seien und eine separate Staatlichkeit somit letztlich entbehrlich, belastete das ukrainisch-russische Verhältnis genauso wie die Flotten- und die Krim-Frage. Hinzu kamen die Beziehungen zum Westen, insbesondere zur NATO und der Europäischen Union. Ungefähr ab 1994 hatten beide Staaten – Russland unter Jelzin und die Ukraine unter dem neuen Präsidenten Leonid Kutschma – die Zusammenarbeit mit dem Westen intensiviert (u.a. 1995 Beitritt der Ukraine zum Europarat, 1996 Beitritt Russlands zum Europarat, 2002 NATO-Russland-Rat bzw. NATO-Ukraine-Aktionsplan). Der ab 1994 autoritär regierende ukrainische Präsident Kutschma verfolgte außenpolitisch eine, so Kappeler, multivektorale Strategie, die ausgewogene Beziehungen ("Äquidistanz") gegenüber dem Westen und Moskau bzw. Russland bewahrte. Letzteres war nicht zuletzt durch wirtschaftliche Probleme und die beiden Tschetschenien-Kriege zur Defensive gezwungen.

Die Ära Putin und die Orange Revolution

Mit der Wahl Wladimir Putins zum Präsidenten der Russländischen Föderation im Jahr 2000 und der Stabilisierung der Rohstoffpreise gingen ein politisch-ökonomischer Aufschwung und ein deutlich gestärktes Selbstbewusstsein Russlands einher. Die Annäherung ehemaliger Warschauer-Paktstaaten zur NATO (1999 Polen, Tschechien und Ungarn; 2004 Bulgarien, die baltischen Staaten, Rumänien und Slowakei) bzw. zur Europäischen Union (EU-Osterweiterung 2004) stieß im Kreml auf Widerstand. Darunter waren mit Estland, Lettland und Litauen auch drei ehemalige Sowjetrepubliken – zumindest den Beitritt weiterer ehemaliger Unionsrepubliken wie Georgien oder der Ukraine galt es aus russischer Sicht zu verhindern.

Kutschma, dessen Wiederwahl aus verfassungsrechtlichen Gründen 2004 nicht mehr möglich war, hatte sich in seiner zweiten Amtszeit von 1999 bis 2004 deutlich prorussischer gezeigt als nach seiner ersten Wahl 1994. Grund dafür waren der innenpolitische Druck (u.a. wurde er für die Ermordung des politischen Enthüllungsjournalisten Heorhij Gongadse im Jahr 2000 verantwortlich gemacht) und die andauernde wirtschaftliche Krise des Landes, die Kutschma mit dem Verkauf eines Teils der ukrainischen Gaspipelines an Russland beenden wollte. Zur Präsidentschaftswahl 2004 baute Kutschma den amtierenden Ministerpräsidenten Viktor Janukowytsch, der aus dem traditionell prorussischen Osten des Landes stammt und zudem ausgezeichnete Kontakte zu den dortigen Oligarchen besaß, zu seinem Nachfolger auf. Es kam letztlich im November 2004 zur Stichwahl zwischen Janukowytsch und dem Oppositionskandidaten Viktor Juschtschenko, der zuvor durch eine Dioxinvergiftung lebensgefährlich verletzt worden war. Janukowytsch konnte sich nach offiziellen Zahlen mit 49,46 Prozent der Stimmen durchsetzen. Dies löste die Orange Revolution aus. Die gewaltlose Protestbewegung richtete sich gegen die zielgerichteten Fälschungen bei dieser Wahl und gegen das korrupte System als solches und verhalf Juschtschenko in der zweiten Abstimmung im Dezember 2004 schließlich zu seinem Sieg. Die Ostukraine und die Krim hatten bei der Präsidentschaftswahl abweichend gestimmt. Auf der Halbinsel Krim hatte Juschtschenko im Dezember zur Stichwahl nur 15,41 Prozent (in Sevastopol’ 7,96 Prozent) der Stimmen erzielt, Janukowytsch dagegen 81,46 Prozent. Mit dem westlich orientierten Wiktor Juschtschenko als neuen Präsidenten traten die ukrainisch-russischen Beziehungen in eine neue Phase.

Nach der Orangen Revolution – Gaskrise(n) und Konfrontationen

Die politischen Verhältnisse in der Ukraine blieben instabil, auch da die Weltwirtschaftskrise ab 2007 das Land mit voller Wucht traf. Seit dem politischen Umbruch 2004 zermürbte ein allwinterlicher "Gaskrieg" mit der Russländischen Föderation die ukrainische Bevölkerung. Russland strich Anfang 2005 den bis dahin unter dem Weltmarktpreis liegenden Tarif für die Ukraine und erhöhte den Preis für Gas drastisch. Im Januar 2006 stoppte Russland die ukrainischen Gaslieferungen mit der Begründung, die Ukraine hätte Gas abgezweigt, das eigentlich für Staaten in der EU bestimmt gewesen sei. In jedem Fall bemühte sich Russland, die Bedeutung der Ukraine als wichtiges Rohstofftransitland zu mindern, etwa durch Projekte wie durch die Ostsee verlaufende North-Stream-Pipeline, die ab 2005 gebaut und 2011 eingeweiht wurde. Innenpolitisch blieb Juschtschenko etwa in den Bereichen der Korruptionsbekämpfung oder der Wirtschaft hinter den Erwartungen der Bevölkerung zurück. Dies versuchte er durch die Schaffung eines integrativen ukrainischen Geschichtsbildes wett zu machen: Maßnahmen wie die finanzielle Gleichstellung der noch lebenden Angehörigen der Organisation Ukrainischer Nationalisten (UPA) mit denen der Roten-Armee-Veteranen in den westukrainischen Gebieten oder die Stilisierung des mit den Nationalsozialisten kollaborierenden Stepan Bandera zu einem Nationalhelden, verprellte den Teil der ukrainischen Bevölkerung, der durchaus positive Bezüge zur sowjetischen Zeit hatte. Die große Hungersnot von 1932/33, der Holodomor, wurde besonders intensiv als erinnerungspolitische Ressource benutzt, und die Verantwortung vereinfacht "den" Russen zugesprochen, während die ukrainischen Täter keine Rolle spielten.

Nicht folgen konnte die Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer der vom Präsidentenlager gewünschten Westintegration einschließlich des NATO- und EU-Beitritts, präferierten doch viele (gerade im Osten und auf der Krim) eine engere Anbindung an Russland und eine größere Bedeutung der russischen Sprache. Moskau wiederum schuf für die russischsprachige und mit Russland sympathisierende Bevölkerung im Ausland eine besondere, die Außenpolitik determinierende Kategorie – das sogenannte Nahe Ausland (bližnee zarubež'e). Die unter dem russischen Interimspräsidenten Dmitrij A. Medvedev verabschiedete "Militärdoktrin 2020" von 2010 erweiterte die Einsatzoptionen der russländischen Streitkräfte im Ausland, u.a. zum "Schutz" der Bürgerinnen und Bürger Russlands, die in einer der ehemaligen Sowjetrepubliken lebten. Die Militärdoktrin war der Versuch des Kremls, das Vorgehen in Georgien und schließlich auch auf der Krim nachträglich zu rechtfertigen.

Als Folge der innen- und außenpolitischen Entwicklungen gelangte Juschtschenko bei der Präsidentschaftswahl 2010 nicht einmal in die Stichwahl. Hier traten die zweimalige Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko von der Vaterlandspartei und Wiktor Janukowytsch gegeneinander an – Janukowytsch siegte mit 48,59 Prozent der Stimmen.

Durch die dezidiert prorussische Haltung Janukowytschs verbesserte sich in der Folge das Verhältnis zu Moskau. Nach der Amtseinführung verlängerte er mit der Charkiver Vereinbarung den Vertrag mit Russland zur Nutzung des Kriegshafens und der Marineanlagen von Sevastopol' bis 2042. Im Gegenzug sicherte der russische Präsident Dimitri Medvedev der Ukraine günstigere Konditionen bei Gaslieferungen sowie weitere finanzielle Ausgleichszahlungen zu. Janukowytschs politischer Kontrahentin Tymoschenko wurde nach der Wahl der Prozess wegen vermeintlicher Kompetenzüberschreitung als Ministerpräsidentin bei der Neuaushandlung der Gasverträge mit der Russländischen Föderation 2009 gemacht. Sie wurde verurteilt und saß vom August 2011 bis zum Ende der Regierungszeit Janukowytsch im Gefängnis. Der Prozess wurde national und international als politisch intendiert verurteilt und schadete dem Ansehen der Ukraine und Janukowytschs.

Seit der Georgien-Krise 2008 hatte der Kreml deutlich gemacht, dass Russland den postsowjetischen Raum wieder als seinen Einflussbereich betrachtete. Die Vorstellung einer nicht nur im staatsbürgerlichen oder ethnischen, sondern auch im kulturellen Sinne „russischen Welt“ (russkij mir), umfasste eben auch Menschen außerhalb der Russländischen Föderation. In der Ukraine leben über elf Millionen (22,1 Prozent der ukrainischen Bevölkerung) von diesen. Die auch von der Administration Janukowytsch multivektorale Außenpolitik, insbesondere die Vorbereitungen zur Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union wurde in Moskau folglich kritisch betrachtet. Wie im Vorfeld des russisch-georgischen August-Krieges von 2008 hatte Moskau Druck auf die Ukraine ausgeübt u.a. indem die Einfuhr ukrainischer Waren behindert wurde und mit Preiserhöhungen für Erdgas oder der Einführung der Visumspflicht für ukrainische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gedroht wurde. Gerade letzteres erschien in Anbetracht der ca. 300.000 bis 400.000 ukrainischen Arbeitskräfte in Russland und der zahlreichen grenzüberschreitenden familiären und menschlichen Kontakte als nicht tragbar. Als Reaktion darauf setzte die Ukraine kurz vor der geplanten Unterzeichnung im November 2013 das Assoziierungsabkommen aus.

Die Aussetzung des Abkommens mit Brüssel hatte Folgen: Noch am selben Tag kam es in Kiew zu Demonstrationen gegen die Regierung. Vor allem im Zentrum des Landes und im stark ukrainisch-national geprägten Westen sprachen sich Bürgerinnen und Bürger für die Unterzeichnung des Abkommens aus. Sie verbanden damit die Hoffnung auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und der unter Janukowytsch und seinem kleptokratischen Regime stark gesunkenen demokratischen Standards. Der Euromajdan hatte begonnen, die Annexion der Krim durch Russland und der Beginn des durch Moskau befeuerten Bürgerkriegs im Osten der Ukraine standen bevor.

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Prof. Dr. Kerstin Susanne Jobst forscht und lehrt u.a. zur Geschichte Ostmittel- und Osteuropas, der Schwarzmeerregion und der Kaukasusregion an der Universität Wien.