Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Analyse: Ein neues Etikett für Russlands Politik im GUS-Raum | Russland-Analysen | bpb.de

Russland-Analysen Propaganda / Nawalnyj (19.02.2024) Analyse: It’s fake! Wie der Kreml durch Desinformationsvorwürfe die Diskreditierung von Informationen in ein Propagandainstrument verwandelt Kommentar: Der Kampf um die Deutungshoheit. Deutsche Medien zu Ukraine, Krim-Annexion und Russlands Rolle im Jahr 2014 Von der Redaktion: dekoder-Special "Propaganda entschlüsseln" Kommentar: Erste Gedanken zum Tod und zum Leben Alexej Nawalnys Statistik: Politisch motivierte strafrechtliche Verfolgung in Russland Chronik: 23. Januar – 09. Februar 2024 Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen und Übergangsjustiz (16.12.2023) Analyse: Russland vor Gericht bringen: Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen Dokumentation: Die Brüsseler Erklärung Analyse: Optionen der Übergangsjustiz für Russland dekoder: "Das unbestrafte Böse wächst" dekoder: "Ist es nicht Patriotismus, wenn alle Kinder zu uns gehören?" Chronik: 01. November – 14. Dezember 2023 Getreidehandel in Kriegszeiten / Wasserwege (06.12.2023) Analyse: Russlands Getreideexporte und Angebotsrisiken während des Krieges gegen die Ukraine Analyse: Russland setzt den Getreidehandel als Waffe gegen die Ukraine ein Analyse: Die strategische Bedeutung des russischen Wolga-Flusssystems Chronik: 23. – 29. Oktober 2023 Hat das Putin-Regime eine Ideologie? (15.11.2023) Von der Redaktion: 20 Jahre Russland-Analysen Analyse: Macht und Angst Die politische Entwicklung in Russland 2009–2023 Kommentar: Russlands neuer Konservatismus und der Krieg Kommentar: Chauvinismus als Grundlage der aggressiven Politik des Putin-Regimes Analyse: Verschwörungstheorien und Russlands Einmarsch in die Ukraine Kommentar: Die konzentrischen Kreise der Repression dekoder: Ist Russland totalitär? Chronik: 03. – 20. Oktober 2023 LGBTQ und Repression (30.09.2023) Analyse: Russlands autoritärer Konservativismus und LGBT+-Rechte Analyse: Russlands Gesetz gegen „Propaganda für Homosexualität“ und die Gewalt gegen LGBTQ-Personen Statistik: Gewalt gegen LGBTQ+-Menschen und Vertrauen in Polizei und Gerichte unter LGBTQ+-Menschen in Russland Dokumentation: Diskriminierung von und Repressionen gegen LGBTQ+-Menschen in Russland Kommentar: Wie sehr geht es bei der strafrechtlichen Verfolgung von "Rehabilitierung des Nazismus" um politische Repressionen? Von der Redaktion: Ausstellung: "Nein zum Karpfen" Chronik: 31. Juli – 04. August 2023 Chronik: 07. – 27. August 2023 Chronik: 28. August – 11. September 2023 Technologische Souveränität / Atomschlagdebatte (20.07.2023) Von der Redaktion: Sommerpause, на дачу – und eine Ankündigung Analyse: Die Sanktionen machen sich bemerkbar: Trübe Aussichten für die russische Chipindustrie Analyse: Kann Russlands SORM den Sanktionssturm überstehen? Kommentar: Russisches Nuklearroulette? Die Atomschlagdebatte in der russischen Think-Tank-Fachöffentlichkeit Dokumentation: Die russische Debatte über Sergej Karaganows Artikel vom 13. Juni 2023 "Eine schwerwiegende, aber notwendige Entscheidung. Der Einsatz von Atomwaffen kann die Menschheit vor einer globalen Katastrophe bewahren" Umfragen: Die Einstellung der russischen Bevölkerung zu einem möglichen Einsatz von Atomwaffen Chronik: 13. Juni – 16. Juli 2023 Chronik: 17. – 21. Juli 2023 Wissenschaft in Krisenzeiten / Prigoshins Aufstand (26.06.2023) Kommentar: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine – Ein "Virolog:innen-Moment" für die deutsche Osteuropaforschung? Kommentar: Osteuropaforschung im Rampenlicht: ein Drahtseilakt zwischen Wissenschaft und Aktivismus Kommentar: Ein Moment der Selbstreflexion für Russlandstudien Kommentar: Wissenschaft im Krieg: Die Verantwortung der Regionalstudien und was daraus folgt Kommentar: Verträgt sich politisches Engagement und Wissenschaft? Zur öffentlichen Position des Fachs Osteuropäische Geschichte dekoder: Mediamasterskaja: Wissenschaftsjournalismus – seine Bedeutung und seine Herausforderungen dekoder: Prigoshins Aufstand gegen den Kreml: Was war das? dekoder: Prigoshins Aufstand: eine Chronologie der Ereignisse Chronik: 15. Mai – 12. Juni 2023 Deutschland und der Krieg II / Niederlage und Verantwortung (26.05.2023) Kommentar: Ostpolitik Zeitenwende? Deutschland und Russlands Krieg gegen die Ukraine Kommentar: Deutsche Wirtschaft und der Krieg Kommentar: Deutschland, der Krieg und die Zeit Kommentar: Nach einem Jahr Krieg: Deutschland im Spiegel der russischen Medien Kommentar: Der Ukrainekrieg: Kriegsängste, die Akzeptanz von Waffenlieferungen und Autokratieakzeptanz in Deutschland Umfragen: Die Haltung der deutschen Bevölkerung zum Krieg gegen die Ukraine: Waffen, Sanktionen, Diplomatie Statistik: Bilaterale Hilfe für die Ukraine seit Kriegsbeginn: Deutschland im internationalen Vergleich Notizen aus Moskau: Niederlage Chronik: 24. April – 14. Mai 2023 Auswanderung und Diaspora (10.05.2023) Analyse: Politisches und soziales Engagement von Migrant:innen aus Russland im Kontext von Russlands Krieg gegen die Ukraine Dokumentation: Ukraine-Krieg: Bislang nur wenig humanitäre Visa für gefährdete Russen Statistik: Asylanträge russischer Bürger:innen in Deutschland Analyse: Emigration von Wissenschaftler:innen aus Russland: Kollektive und individuelle Strategien Dokumentation: Schätzungen zur Anzahl russischer Emigrant:innen nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine Chronik: 01. März – 23. April 2023 Sanktionen (27.03.2023) Analyse: Die Wirkung von Krieg und Sanktionen auf Russlands Volkswirtschaft im Jahr 2022 Statistik: Russlands Wirtschaft Analyse: Russische wirtschaftliche Anomalie 2022: Ein Blick aus Unternehmensperspektive Umfragen: Wahrnehmung von Sanktionen durch die russische Bevölkerung Chronik: 01. – 28. Februar 2023 Feminismus / Kriegswahrnehmung / Gekränktes Imperium (13.03.2023) Analyse: Feminist_innen machen in Russland Politik auf eine andere Weise Statistik: Kennzahlen und Indizes geschlechterspezifischer Ungleichheit Analyse: Nicht Befürworter:innen und nicht Gegner:innen: Wie verändert sich bei der Bevölkerung in Russland mit der Zeit die Wahrnehmung des Krieges in der Ukraine? dekoder: Die imperiale Formel ist: Russland hat keine Grenzen Repression und stiller Protest / Die Botschaft des Präsidenten (06.03.2023) Analyse: "Nein zum Karpfen": Stiller Protest im heutigen Russland Dokumentation: Repressionen wegen Antikriegs-Akten in Russland seit 2022 dekoder: Die Schrecken des Kreml Analyse: Ein langer Krieg und die "Alleinschuld des Westens". Präsident Putins Botschaft an die Föderalversammlung am 23. Februar 2023 Kriegsentwicklung / Kirchen im Ukrainekrieg (23.02.2023) Analyse: Unerwartete Kriegsverläufe Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick Kommentar: Die Unterstützung der NATO-Alliierten für die Ukraine: Ursachen und Folgen Kommentar: Der Krieg und die Kirchen Karte: Kriegsgeschehen in der Ukraine (Stand: 18. Februar 2023) Eliten (16.02.2023) Analyse: Ansichten der russischen Eliten zu militärischen Interventionen im Ausland Analyse: Zusammengeschweißt und gefesselt durch Illegitimität Ranking: Die politische Elite im Jahr 2022 Meinungsumfragen im Krieg (02.02.2023) Kommentar: Sind Meinungsumfragen im heutigen Russland sinnvoll? Kommentar: Diese vier Fragen sollten Sie sich stellen, bevor Sie Meinungsumfragen darüber lesen, was Russ:innen über den Krieg denken Kommentar: Es gibt noch immer keine öffentliche Meinung – der Krieg in der Ukraine und die Diktatur in Russland lassen uns das besser erkennen Kommentar: Die Meinungsumfragen des Lewada-Zentrums auf der Discuss Data Online-Plattform. Zur Diskussion um die Aussagekraft der Daten Kommentar: Telefonische Umfragen im autoritären Russland: der Ansatz von Nawalnyjs Stiftung für Korruptionsbekämpfung Kommentar: Annäherungen an eine Soziologie des Krieges Kommentar: Methodologische Probleme von russischen Meinungsumfragen zum Krieg Kommentar: Befragungen von Emigrant:innen: Herausforderungen und Möglichkeiten dekoder: "Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen" Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl) Chronik: 01. – 31. Januar 2023

Analyse: Ein neues Etikett für Russlands Politik im GUS-Raum

Dr. Uwe Halbach

/ 8 Minuten zu lesen

Die 2010 gegründete Zollunion ging mit Jahresbeginn 2012 in den Gemeinsamen Wirtschaftsraum über und soll 2015 in die Eurasische Wirtschaftsunion münden. Putins “neues Integrationsprojekt“ kann sowohl als Partner Europas oder als ein Gegenmodell gedacht sein. Allerdings steht Russland vor großen innenpolitischen Herausforderungen, die seinen Ambitionen im postsowjetischen Raum die Grenzen weisen könnten.

Der russische Präsident Wladimir Putin strebt einen verstärkten Integrationsprozess im postsowjetischen Eurasien an. (© AP)

Eine "Eurasische Union"

Die mit Russland und dem GUS-Raum befasste Forschung hat ein neues Thema namens Eurasische Union. Unter diesem Titel kündigte Wladimir Putin in einem Beitrag in der Iswestija vom 3. Oktober 2011 verstärkte Integrationsprozesse im postsowjetischen Eurasien an. Es war dies seine erste strategische Einlassung nach Bekanntgabe seiner Kandidatur für die Präsidentenwahlen im März 2012 und erregte entsprechende Aufmerksamkeit. Dieser Ankündigung folgten Integrationsaktivitäten in auffälliger Nähe zum zwanzigsten Jahrestag der Auflösung der Sowjetunion und der Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Erste Kommentare zu diesem Projekt fielen teils skeptisch, teils alarmistisch aus. Da wurde darauf hingewiesen, dass der postsowjetische Raum seit 1991 so manche "Integrationsblase"geschlagen hat, die kaum mit Inhalt gefüllt wurde. Robert Blake, der für Zentralasien zuständige Mann im U.S. State Department, kommentierte die Herausforderung der Eurasischen Union an die Staaten in der Region seiner Zuständigkeit gelassen: Es sei schwer einzuschätzen, wie ernst es Russland mit diesem Projekt meine. Für Washington sei entscheidend, dass dieser Raum für überregionale Handelsrouten und für die Vernetzung mit der Weltwirtschaft geöffnet bleibe, dass hier keine "zone of exclusion"geschaffen werde. Ein Kommentar in der polnischen Zeitung Rzeczpospolita sah dagegen ein neues russisches Imperium entstehen: Im Unterschied zur Europäischen Union, die derzeit in einer tiefen Krise stecke, könnte dieses von Russland dominierte Integrationsprojekt zum Erfolg führen, stützt es sich doch auf die Verwandtschaft in der politischen Mentalität postsowjetischer Machteliten. Dabei übersah dieser Kommentar freilich, dass im Raum von der Ukraine bis Usbekistan diese Eliten für ihren eigenen Machterhalt die Souveränität ihrer unabhängig gewordenen Staaten beschwören und sich nicht ohne überzeugende Gegenleistung auf integrationsbedingte Einschränkungen von Souveränität einlassen.

Sowjetunion light?

Viele Kommentare zu Putins eurasischem Projekt unterstellten die Absicht, die Sowjetunion wiederauferstehen zu lassen. Putin betonte hingegen, dass es hier nicht um eine Wiederholung von Vergangenem gehe. Das Ziel sei eine "mächtige supranationale Vereinigung"souveräner Staaten, die eine Brücke zwischen Europa und dem asiatisch-pazifischen Raum bilden soll – keine neue Sowjetunion, aber doch etwas Konkreteres und Effektiveres als die seit 20 Jahren bestehende Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, die alles andere als eine "mächtige supranationale Vereinigung"darstellt, mehr auch als die unterhalb der GUS-Ebene bestehenden Kooperationsformate wie die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft (EurAsEC). Als Ausgangspunkt fungiert die 2010 in Kraft getretene Zollunion zwischen Russland, Belarus und Kasachstan, die drei Viertel des postsowjetischen Raums mit etwa 170 Millionen Menschen und 80 Prozent der ehemaligen sowjetischen Wirtschaftsleistung umfasst. Die Union hat die Zollschranken zwischen ihren Mitgliedstaaten aufgehoben, verschiedene Handelsabkommen implementiert und will sich noch weiter in den GUS-Raum ausdehnen. In einer neuerlichen Ansprache an das Parlament hob der russische Außenminister Lawrow das Integrationspotential der zur Erweiterung anstehenden Zollunion hervor: In der zweiten Jahreshälfte 2011 sei das Handelsvolumen zwischen den drei gegenwärtigen Mitgliedstaaten um 40 Prozent gestiegen. Dieses erfolgreiche Projekt öffne sich nun "unseren Partnern innerhalb der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft und der GUS". Seit November 2011 kam es zu einem Prozess, den russische Quellen als Integrationsmarathon bezeichneten. Da ging die Zollunion mit Jahresbeginn 2012 in den Gemeinsamen Wirtschaftsraum über, der 2015 in die Eurasische Wirtschaftsunion münden soll. Als erstes supranationales Organ wurde eine Eurasische Wirtschaftskommission nach dem Vorbild der Kommission in Brüssel gebildet. Ihr Sitz ist Moskau und ihr Vorsitzender Viktor Christenko, bislang Russlands Minister für Industrie und Handel. Unter ihm arbeitet ein 700köpfiger Apparat, der zu 84 % von Russland besetzt wird. Als Exekutivorgan fungiert ein Kollegium aus je drei Vertretern der Teilnehmerländer für jeweils vier Jahre mit rotierendem Vorsitz. Zu seinen Aufgaben gehört die Regelung der Zolltarife, der Währungspolitik, der Arbeitsmigration und der Kapitalbewegung.

Ein neues Integrationsprojekt?

Putins "neues Integrationsprojekt" knüpft an russische Politik gegenüber dem GUS-Raum in den letzten zehn Jahren an. Ende der 1990er Jahre war nur ein Bruchteil der auf GUS-Ebene getroffenen Vereinbarungen umgesetzt worden. Mehr Effektivität versprach sich der Kreml nun von Formaten unterhalb dieser Ebene, in denen eine begrenzte Zahl postsowjetischer Staaten kooperieren sollte. Auf wirtschaftlichem Feld waren dies die im Jahr 2000 gegründete Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft mit heute fünf Mitgliedstaaten (Russland, Belarus, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan). Auf sicherheitspolitischem Feld war es die Organisation des Kollektiven Sicherheitsvertrags, (engl. CSTO), ein "Bündnis"aus sieben GUS-Staaten (Russland, Belarus, Armenien und die zentralasiatischen Staaten mit Ausnahme Turkmenistans). Regionalformate, an denen Russland nicht beteiligt war wie die Organisation für Zentralasiatische Kooperation oder die sich gar gegen seine Dominanzansprüche im postsowjetischen Raum richteten wie die GUAM (Akronym für Georgien, Ukraine, Aserbaidschan, Moldova) unterlagen einem Bedeutungsverlust oder gingen in größeren Formaten auf, in denen nun wieder Russland dominierte. Es ist noch nicht ganz klar, in welcher Beziehung das "neue Integrationsprojekt"zur GUS-Ebene und zu den bereits bestehenden Regionalformaten unterhalb dieser Ebene steht, die ja ebenfalls gemeinsame Wirtschaftsräume intendieren. Wird hier ein Integrationstheater auf mehreren Bühnen und Ebenen aufgeführt, das letztlich eine "Integration der Integrationen"erfordert? Laut Andrej Kuschnirenko, Leiter der Wirtschaftsabteilung des GUS-Exekutivkomitees, soll die GUS ihre Mitglieder auf die Aufnahme in eine erweiterte Zollunion vorbereiten und auf den Weg zur Eurasischen Union bringen. Auch die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft soll diesem Zweck dienen. Bei ihrem jüngsten Gipfel im März 2012 stellte Putin die Integrationsperspektive klar: Bis 2015 gehen wir in eine Eurasische Wirtschaftsunion über. Zu diesem Zweck soll innerhalb der Organisation ein Eurasischer Wirtschaftsrat geschaffen werden.

Grenzen des Projekts

Der Integrationsappell richtet sich letztlich an alle Staaten des GUS-Raums. Handels- und Wirtschaftsintegration in dem Raum anzuregen, in dem es einst imperiale Herrschaft ausgeübt hat, erscheint Russland als ein unverzichtbares Attribut dessen, was ihm an Großmachtstellung noch übrig geblieben ist. Das ökonomische Projekt einer Eurasischen Union wird auf sicherheitspolitischer Ebene durch Bemühungen Moskaus begleitet, die Organisation des Kollektiven Sicherheitsvertrags zu stärken, die Schwelle für Interventionen in ihrem Einzugsbereich zu senken und eine gemeinsame Eingreiftruppe auszubauen. Zugleich müsste Russland aber auch klar sein, dass es mit seiner "eurasischen Integration"längst nicht alle Staaten in diesem Raum erreichen kann. Als die nächsten Beitrittskandidaten zur Zollunion gelten Kirgisistan und Tadschikistan. Auf die beiden zentralasiatischen Staaten übt Moskau politischen Druck aus. Ihre Abhängigkeit ist in den vergangenen Jahren vor allem durch die Auswanderung von Arbeitskräften nach Russland gewachsen, und ihr Staatshaushalt ist in hohem Maße auf Überweisungen aus dieser Diaspora angewiesen. In der globalen Wirtschaftskrise ist ihre Abhängigkeit von Krediten und Subventionen aus Russland noch gewachsen. Zudem deckt Russland ihren Energiebedarf. Mit dem Beitritt dieser beiden Länder, die zu den ärmsten und strukturschwächsten im GUS-Raum gehören, würde sich allerdings ein Entwicklungsgefälle innerhalb der Zollunion auftun. Welche Gefahr von divergenter Entwicklung in Wirtschafts-oder gar Währungsunionen ausgeht, dafür liefert auf einem ganz anderen Niveau die Euro-Zone derzeit ein Beispiel, das auch in Russland diskutiert wird. Zudem würde die Außengrenze des Gemeinsamen Wirtschaftsraums mit seinen durchlässigen Binnengrenzen an Afghanistan heranrücken, von dem seit Jahren Drogenströme über den postsowjetischen Raum verlaufen. Usbekistan und Turkmenistan sind dagegen wohl kaum erreichbar. In einer Rede zum Tag der Verfassung Usbekistans am 8.Dezember 2011 betonte der usbekische Präsident Islam Karimow die Souveränität seines Landes und äußerte seinen Argwohn über den politischen Charakter solcher Integrationsprojekte. Das usbekische Volk müsse wachsam sein gegenüber Versuchen, die sowjetische Geschichte falsch zu interpretieren, nämlich im Sinne einer Verpflichtung zur Integration und Wahrung eines gemeinsamen historischen Erbes postsowjetischer Staaten. Auch der Südkaukasus liegt außerhalb eurasischer Reichweite. Georgien ist das "nahe Ausland", das seine Abwendung von Russland und von Regionalorganisationen unter russischer Vorherrschaft am deutlichsten bekundet. Aserbaidschan praktiziert zwar eine ausgewogenere Außenpolitik zwischen Russland und westlichen Partnern, verweigert sich aber ebenfalls Regionalorganisationen unter russischer Vorherrschaft. Selbst Armenien, das enge sicherheitspolitische Bindungen an Russland wahrt und als einziges Land der Region in der Organisation des Kollektiven Sicherheitsvertrags vertreten ist, bleibt außerhalb des eurasischen Integrationsprojekts. Denn mit der Zollunion hat es keine gemeinsame Grenze, sondern ist für seinen Außenhandel auf Transitrouten über Georgien und den Iran angewiesen. Da richtet sich der Blick nun besonders auf den gemeinsamen Nachbarschaftsraum zwischen der EU und Russland, der von Belarus über die Ukraine bis Moldova reicht. Aus russischer Sicht ist Belarus der engste Partner im eurasischen Integrationsverbund und die Ukraine das Land, ohne das Integration im postsowjetischen Raum äußerst unvollständig wäre. Laut einer Meinungsumfrage vom September 2011 betrachtet eine Mehrheit der Russen (60 %) beide Staaten nicht als Ausland. In den politischen Problemen, die sich derzeit zwischen Kiew und Brüssel zeigen, sieht Russland gewisse Chancen, die Ukraine in seinen Orbit zurückzuführen.

Integration nach europäischem Vorbild?

Putin lehnt seine Eurasische Union an europäische Integrationserfahrung an, und das zu einem Zeitpunkt, an dem dieses Vorbild in der Euro-Krise an Strahlkraft verliert. Die Botschaft lautet: Die Zugehörigkeit zur Eurasischen Union tue den Bemühungen einiger ihrer Mitgliedstaaten um Integration nach Europa keinen Abbruch. Die beiden Integrationsprozesse könnten sich gegenseitig befruchten. An einigen Stellen wird dieser europäische Bezug jedoch fragwürdig. So sieht Putin die Eurasische Union als Teil eines "Großeuropa", das auf gemeinsamen Werten wie Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft beruht. Von einer ausgeprägten Neigung zu den politischen Freiheitswerten kann bei den drei Staaten, die den Nukleus des "neuen Integrationsprojekts"bilden, kaum die Rede sein. An anderer Stelle vergleicht Putin die Eurasische Union in Hinsicht auf Freizügigkeit mit der Schengenzone und verspricht Arbeitsmigranten den freien Verkehr über die Grenzen der Mitgliedstaaten. Doch heute schon stoßen Arbeitsmigranten, die z. B. aus einem als Beitrittskandidat vorgesehenen Land wie Tadschikistan kommen, auf xenophobe Reaktionen in der russischen Bevölkerung und bei russischen Behörden. Im Kernland der "eurasischen Integration"sind fremdenfeindliche nationalistische Tendenzen in den letzten zwei Jahren unübersehbar gewachsen. Ist die Eurasische Union wirklich als Partner Europas gedacht oder doch eher als ein Gegenmodell, mit dem Russland in Integrationskonkurrenz zur Europäischen Union in einem gemeinsamen Nachbarschaftsraum tritt? Bisherige Reaktionen Russlands auf die Östliche Partnerschaftsinitiative der Europäischen Union, die sich seit 2009 an Osteuropa und den Südkaukasus richtet, sprechen eher für die Konkurrenz-als für die Kooperationsthese. Doch gleichzeitig erweist sich sowohl im Falle Europas als auch Russlands das Vermögen, dieses Osteuropa an sich zu binden, als begrenzt. Die Europäische Union steckt derzeit in ihrer größten Krise. Aber auch Russland hat nach den Parlamentswahlen vom 4. Dezember 2011 und den Protestbewegungen gegen Wahlfälschung genug mit sich selbst zu tun. Dem Kernland der "eurasischen Integration"könnten anhaltende innenpolitische Herausforderungen bevorstehen, die seinen Ambitionen im postsowjetischen Raum die Grenzen weisen. Als Modernisierungsmotor hat sich Russland in diesem Raum bislang ohnehin nicht erwiesen.

Lesetipps

  • Chernyshev, Sergei: Towards a United Eurasia, in: Russia in Global Affairs, May–September 2010 http://eng.globalaffairs.ru/print/number/Towards-a-United-Eurasia-14999.

  • Halbach, Uwe: Russlands Ambitionen einer Eurasischen Union, in: Gernot Erler, Peter W.Schulze (Hrsg.): Die Europäisierung Russlands. Moskau zwischen Modernisierungspartnerschaft und Großmachtrolle, Frankfurt a.M. 2012, 214–226.

  • Trenin, Dmitri: Post-Imperium. A Eurasian Story, Carnegie Endowment for International Peace, Washington etc. 2011.

Fussnoten

Dr. Uwe Halbach ist bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin tätig.