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Analyse: Die Ethnisierung der Migrationsprozesse in Russland | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Die Ethnisierung der Migrationsprozesse in Russland

/ 9 Minuten zu lesen

Der Migrationszufluss nach Russland hat rasant zugenommen. Internationale Migration ist zu einem Faktor des Alltagslebens in Russland geworden. Ethnische Migration wird jedoch von der russischen Bevölkerung als Bedrohung der gesellschaftlichen Sicherheit wahrgenommen. Die Forderung nach nach einer beschränkenden und repressiven Migrationspolitik wird laut.

Der Usbeke Mukhamed-Said arbeitet an einem Gemüsestand auf einem Markt in Moskau. (© AP)

Einleitung

Russland wird zunehmend als neues Immigrationsland dargestellt. Tatsächlich verfügte es zur Zeit der Sowjetunion innerhalb seiner derzeitigen Grenzen über keine wesentliche Erfahrung mit internationaler Migration, was mit einem gut kontrollierten Zustrom ausländischer Studenten und Arbeiter hauptsächlich aus den sowjetischen Bruderstaaten verbunden war. Unter den postsowjetischen Bedingungen hat sich die Situation grundlegend verändert – internationale Migration ist zu einem Faktor des Alltagslebens in Russland geworden. Bei der Anzahl der im Ausland geborenen Bewohner liegt Russland nach den USA auf dem zweiten Platz, die Hauptstadt Moskau nimmt nach London und Paris in Europa den dritten Platz, weltweit den zehnten Platz ein. Diese Veränderung erscheint als tiefgehende soziale Erschütterung, wenn man bedenkt, dass der Großteil der statistischen russischen Immigranten niemals die Entscheidung zur Immigration getroffen hat, sondern durch den Zerfall ihres Landes zu Immigranten geworden ist. Heutzutage stammen die meisten der nach Russland strömenden Migranten aus den ehemaligen sowjetischen Staaten. Das Drama liegt nicht nur in der massenhaften Umsiedlung der Menschen, die schon zu Sowjetzeiten üblich war, sondern auch im Zerfall der ehemaligen Institutionen, Beziehungen und Vorstellungen. Das Ziehen neuer Grenzen, die Veränderung der Vorstellung des Staates als "ein Land – ein Volk" und die Schaffung neuer unabhängiger Staaten, forderten von den postsowjetischen Staaten nicht nur eine praktische, sondern auch eine symbolische Trennung und haben die mit der Migration verbundenen Probleme aus der sozioökonomischen in die ethnopolitische Sphäre übertragen. Zwanzig Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion bleibt die Migration das am stärksten politisierte Diskussionsthema und Migrationsprozesse werden von der Bevölkerung fast ausschließlich durch das Prisma zwischenethnischer Beziehungen wahrgenommen. Das Thema wird auch durch die gegenläufige demografische Situation verschärft: zum Nachteil der Russen und zum Vorteil der Bevölkerung der autonomen Republiken Russlands sowie der neuen Staaten Zentralasiens und des Südkaukasus. Ebenfalls wird der "demografische Druck" Chinas als dramatisch wahrgenommen. Es wird zunehmend komplizierter, den tatsächlichen Umfang und die Bedeutung der Immigration nach Russland zu bewerten: seit 2008 berücksichtigt die Migrationsstatistik keine ethnische Zugehörigkeit mehr, sondern erfasst lediglich die Staatszugehörigkeit.

Russlands Migrationsbonus

Die Migration nach Russland hat eine weitaus längere Geschichte als die neue russische Staatlichkeit. Schon seit Mitte der 1970er Jahre richtete sich die Bevölkerungsmigration innerhalb der ehemaligen Sowjetunion hauptsächlich nach Russland aus. In dieser Zeit betrug der Migrationsbonus Russlands nach Angaben der Migrationsstatistik ca. 9 Millionen Menschen. Unter Berücksichtigung der Unzulänglichkeiten der Migrationsstatistik stimmen die meisten Experten darin überein, dass das Migrationsvolumen in den postsowjetischen Jahren um das 2–3-Fache größer war als offiziell angegeben. Tatsächlich betrug der Bevölkerungszuwachs 14–16 Millionen. Infolge des Migrationsrückflusses nach Russland in der ersten Hälfte der 1990er Jahre verlor Kasachstan 12 % seiner Bevölkerung, Kirgistan 10 %, Tadschikistan 9 %, Usbekistan und Turkmenistan jeweils 5 %. Unter den Ländern des Südlichen Kaukasus hatten Armenien mit 10 % und Georgien mit 8 % die größten Verluste zu verzeichnen. Aserbaidschan verlor 7 % seiner Bevölkerung. Belarus war das einzige Land, dessen Bevölkerung infolge der Migration aus Russland um 0,2 % wuchs. Die zentralen Motive, die die Menschen zur Umsiedlung bewegten, haben sich entscheidend verändert. Bis zur zweiten Hälfte der 1980er Jahre gehörten die Besiedlung Sibiriens und des Fernen Ostens, die akademische Migration und die Abwanderung aus den Dörfern und kleinen Städten in die Zentren zu den Hauptgründen für Migration. Immer mehr Russen kehrten aus den Republiken, wohin sie der Krieg verschlagen hatte und wo sie an großen Industriebauten gearbeitet hatten, in ihre historische Heimat zurück. Nach dem Ablauf der Arbeitsverträge siedelten sie aus dem Norden in den Süden um. Einen großen Einfluss auf die Migration hatte die Armee, derentwegen nahezu ein Drittel aller Umsiedler migrierten. Eine Rolle spielte auch der Brain-Drain aus regionalen und nationalen Zentren in die großen Verwaltungszentren der Sowjetunion, die in der Regel in Russland angesiedelt waren. Die Grenzen zwischen den Republiken und Regionen spielten keine grundlegende Rolle, sondern hatten im Alltagsleben lediglich eine formale Bedeutung. Die Betonung der ethnischen Unterschiede war nur in der kulturellen Sphäre gestattet. Obgleich sowjetische moralische Vorschriften keine Lösung für ethnische Konflikte waren, konnten sie diese gleichwohl überdecken und eine Atmosphäre der Volkfreundschaft fördern. In den Jahren der Perestroika, des Zerfalls der Sowjetunion und der Schaffung der postsowjetischen Staaten erhielt die Migration einen angespannten Charakter. Die Migranten wurden nun zu Flüchtlingen aus Gebieten bewaffneter Konflikte oder zu Umsiedlern aufgrund prekärer Lebensbedingungen.

Schaffung ethnisch-nationaler Staaten und ethnisch motivierte Migration

Obgleich der Bevölkerungszustrom nach Russland am Vorabend des Zerfalls der Sowjetunion zunehmend eine ethnische Komponente erhielt, war die Migration insgesamt nicht ethnisch motiviert. Eine Ausnahme bildeten die Flüchtlinge aus den Zonen ethnischer Konflikte (Karabach, Baku, Sumgait, Fergana). Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde ethnisch motivierte Migration zu einer maßgebenden Erscheinung, die hauptsächlich mit der Abwanderung der Russen zusammenfiel. Für die ethnischen Russen in den nicht-russischen sowjetischen Republiken, kam der Statuswandel von der dominierenden Gesellschaftsgruppe hin zu einer gesellschaftlichen Minderheit unerwartet. Der Wandel der post-sowjetischen Republiken zu Nationalstaaten wurde vom einen wachsenden Nationalismus begleitet, der in einer Verdrängung der Russen aus Verwaltungspositionen und von Arbeitsplätzen mündete. Bevölkerungsumfragen, die zwischen 1993 und 1995 durchgeführt wurden, zeigten, dass die Ansicht, dass Russland und den Russen in der Entwicklung anderer Völker der ehemaligen Sowjetunion eine fortschrittliche Rolle zukomme, überwiegend von den Russen selbst vertreten wurde, während andere Völker einen diametral gegensätzlichen Standpunkt vertraten. Als eine für die Russen negative Entwicklung erwies sich die Marginalisierung der russischen Sprache. Die überwältigende Mehrheit der Russen beherrschte die nationalen Sprachen nur schlecht. Die schlechtesten Ergebnisse wies Kasachstan auf (0,9 %), wo die russische und russischsprachige Bevölkerung über die Hälfte der Bewohner ausmachte, die besten Ergebnisse erzielten Lettland (38 %) und Armenien (34 %). Zu den Sprachschwierigkeiten kamen Probleme mit dem Erhalt der Staatsbürgerschaft und andere Formen rechtlicher Diskriminierung aufgrund ethnischer Merkmale hinzu. Unter den Bedingungen der Wirtschaftskrise, der Unsicherheit über die Zukunft und der Angst vor dem Verlust des Kontakts zu Verwandten und Freunden in Russland, erwies sich der ethnische Faktor als mächtige Schubkraft, die zur Abwanderung von Millionen Russen führte. Doch auch der Ausbruch von Nationalismus und ethnische Konflikte trugen zu der Emigration von Gruppen nach Russland bei, die außerhalb der Territorien ihrer "Titularnation" lebten. In den 2000er Jahren ging der Anteil der ethnisch motivierten Migration drastisch zurück.

Von der ethnisch motivierten zur ethnisch heterogenen Migration

Der Migrationszufluss nach Russland, der sich aus dem postimperialen Raum und den angrenzenden Ländern zusammensetzt, war immer multiethnisch in seiner Zusammensetzung, doch war dies stets eine statistisch erfasste Multiethnizität. In Wirklichkeit trugen zu diesen Zahlen im Wesentlichen Russen, andere Völker Russlands, Ukrainer, Weißrussen und Moldawier bei. Die Auswanderer aus dem Kaukasus, aus Zentralasien oder China stellten, auch wenn sie als Teil des ethnischen Migrationsspektrums betrachtet wurden, eine Minderheit von nicht mehr als 15 % dar. Eine klar neue Tendenz trat 2005/ 2006 in Verbindung mit dem drastischen Wachstum der Migrationsaktivität der zentralasiatischen Republiken auf. Die Rekrutierung zentralasiatischer Arbeiter in den Bereichen Bau und kommunale Dienstleistungen verlief anfangs auf offiziellem Wege und später auch in Form einer inoffiziellen und nicht dokumentierten Arbeitsmigration. Zentralasien wandelte sich zur wesentlichen Entsenderegion für Arbeitskräfte. Im Jahr 2007 lag Usbekistan unter diesen Herkunftsländern auf dem ersten Platz: jeder fünfte ausländische Arbeiter in Russland, in 2009/2010 bereits jeder dritte stammte aus Usbekistan. Tadschikistan trägt 16 % und Kirgi­stan 7 % bei. In der Gesamtheit stammt die Hälfte aller Arbeitsmigranten in der Russischen Föderation aus den zentralasiatischen Ländern. Wenn früher überwiegend Russen, Tataren, Deutsche und Koreaner die zentralasiatischen Länder verließen, so sind es seit 2007 in erster Linie die dort heimischen Völker. Die Arbeitsmigration aus den zentralasiatischen Ländern nach Russland hat die Bedeutung von Arbeitskräften aus der Ukraine und China erheblich verringert – bis 2006 waren sie die zentralen Herkunftsländer von Arbeitskräften und befreiten Russland zeitweilig von der Notwendigkeit, in den GUS-Staaten nach Arbeitsmigranten zu suchen. Ungeachtet dessen bleibt China eines der wichtigsten Entsendeländer für den russischen Arbeitsmarkt. Die jährliche Anzahl der Chinesen, die zur Arbeit oder zum Studium nach Russland kommen, liegt stabil bei 200.000 bis 260.000. Eine Verschärfung der Grenz- und Migrationskontrollen ermöglichte die Reduzierung des Schattenanteils der chinesischen Migration und Beschäftigung, nichtsdestoweniger bleiben die Probleme bestehen. Nach Schätzung der Experten übersteigt die Zahl der Chinesen in Russland die offiziellen Angaben um das 2- bis 2,5-Fache. Die Anwesenheit der Chinesen ist insbesondere hinter dem Ural, in den südlichen Regionen Sibiriens, in der Baikalregion und im Fernen Osten sichtbar, wo sie gut die Hälfte der ausländischen Arbeitskräfte stellen. Indessen arbeiten Chinesen in fast allen Regionen Russlands. Alle angegebenen Daten über die ethnische Struktur des Migrationszuflusses nach Russland beziehen sich auf entsprechende Dokumentationen, welche die Realität jedoch nicht in ihrer Gänze wiederspiegeln. Nach Angaben des Föderalen Migrationsdienstes (FMS) hatten von 9,1 Millionen registrierter Migranten im Jahr 2010 1,3 Millionen eine offiziellen Arbeitserlaubnis, 4 Millionen gaben als Motiv persönliche Gründe, eine ärztliche Behandlung oder ihre Ausbildung an, obgleich ein Teil dieser Menschen mit dem Ziel des Geldverdienens immigrierte. Über die Tätigkeiten von 3,8 Millionen Migranten ist nichts bekannt. Zusätzlich halten sich 600.000 bis 700.000 Immigranten mit ständigem Wohnsitz im Land auf und nicht weniger als eine Million arbeitete und lebte ohne Registrierung und Arbeitserlaubnis. Der Wandel der ethnischen Struktur des Migrationszuflusses nach Russland – von einer überwiegend russischen hin zu einer ethnisch heterogenen Zusammensetzung – wirkte sich auch auf den qualitativen Charakter der Migration aus. Das kollektive Profil der Migranten verschob sich hin zu einem ärmeren, weniger gebildeten und beruflich schlechter vorbereiteten Teil des sozialen Spektrums. An die Stelle der Bewohner großer Städte traten Emigranten aus kleinen Städten und vom Land, die die russische Sprache nur schlecht beherrschen. Für die meisten Arbeitsmigranten ist die Beschäftigung in Russland ein langfristiges Projekt: lediglich ein Drittel von ihnen reist für nur eine "Saison" ein. Die Mehrheit verbringt den größten Teil des Jahres in Russland, und etwa ein Viertel lebt dauerhaft dort. Viele haben ihre Familie mitgebracht bzw. sie in Russland gegründet und betrachten Russland als ihren dauerhaften Aufenthaltsort. Es haben sich Migrantennetzwerke gebildet, die für die Rekrutierung neuer Arbeiter, ihre Registrierung und Einreise nach Russland, für Kontakte zu den Rechtsorganen und den Verwaltungen und für die Überweisung von Geldern in die Heimat sorgen. Es wurden Migrations-Gesellschaften und ethnische Rechtsschutzorganisationen gegründet.

Die Wahrnehmung der ethnischen Migration

Den Angaben vieler Umfragen zufolge, die im Laufe bereits vieler Jahre geführt wurden, sieht etwa ein Drittel der russischen Staatsbürger Immigration und Immigranten negativ. Im Jahr 2011 waren sogar 58 % der Russen bereit, die Losung "Russland den Russen" zu unterstützen. Wie Putin in seinem programmatischen Vorwahl-Artikel konstatierte, ist dies mit der nationalen Frage verbunden: "Die Menschen sind schockiert über den aggressiven Druck auf ihre Traditionen, die gewohnte Lebensordnung und Bedrohungen, die zum Verlust der national-staatlichen Identität führen könnten".2 Es ist zu ergänzen, dass mit Migranten viele negative Entwicklungen assoziiert werden, einschließlich eines Anstiegs von Verbrechen und die Erhöhung der Preise auf den Märkten. Sogar die Rückkehr von Russen ruft bei gut 10 % der russischen Staatsbürger ablehnende Emotionen hervor. Besonders negativ werden aber die Chinesen wahrgenommen, sowie Angehörige der Völker des Kaukasus und Zentralasiens. Die zunehmende ethnische Diversität der Migranten und die Unsicherheit über das Ausmaß nicht erfasster Migration brachten viele Mythen über eine ethnische "Invasion" nach Russland hervor. Das Ausmaß der ethnischen Migration wird stark übertrieben. Das Ausmaß der Übertreibung spiegelt die jeweiligen "Ängste" gegenüber einzelnen Migrationsgruppen wider. So wurde von der russischen Bevölkerung in einer repräsentativen Umfrage im Jahre 2006 die Zahl der chinesischen Migranten im Lande im Durchschnitt um den Faktor 885 überschätzt, was auf das Dauerthema einer möglichen territorialen Expansion zurückzuführen ist. An zweiter Stelle liegen die Tschetschenen, deren Anteil um das 120-fache überschätzt wird. Die Zahlen für Migranten aus Zentralasien und auch Aserbaidschan werden um das 30- bis 50-fache überschätzt.3 Das schnelle Wachstum der Anzahl ethnischer Gruppen in den Migrationsströmen ist besonders auffällig in den Grenzgebieten und den großen Städten. Moskau und seine Vorstädte beherbergen die Hälfte aller Immigranten in Russland. Im Rating der Moskauer Probleme rangiert das zahlenmäßige Wachstum der ethnischen Migranten dauerhaft auf dem 3. oder 4. Platz und übertrifft damit die Probleme Armut, schlechte medizinische Versorgung oder den kommunalen Haushalt bei weitem. Die größten Ängste vor ethnischer Migration sind unterdessen nicht für jene Orte kennzeichnend, die die Immigranten anziehen, sondern für deren benachbarte Territorien. Je mehr eine Region oder Stadt ethnisch homogen erscheint, desto stärker sind die geäußerten Befürchtungen. Das Streben nach Präventivmaßnahmen gegen die "heraufziehende Bedrohung" wird durch die Ungewissheit der Zukunft verstärkt und zwingt die Menschen dazu, vom Staat diskriminierende Maßnahmen gegen die Migranten und eine einschränkende Migrationspolitik zu fordern. Die Position der Mehrheit der Russen steht im Widerspruch zu den Bedürfnissen der russischen Wirtschaft und den demografischen Problemen. Dieser Widerspruch führt zu einer inkonsequenten Politik, die entweder nach den Notwendigkeiten der demographischen Entwicklung und des Arbeitsmarktes handelt, oder der erhitzten öffentlichen Meinung folgt. Übersetzung: Kristina Puzarina und Ann-Catherine Roth Über die Autorin: Dr. Olga I. Vendina ist leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin des Geografischen Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Fussnoten