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Analyse: Wirtschaftspolitische Kontroversen und Personaldiskussionen | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Wirtschaftspolitische Kontroversen und Personaldiskussionen

Gunter Deuber

/ 14 Minuten zu lesen

Angesichts der schwachen Konjunkturdaten hat die Wirtschaftspolitik in Russland in den letzten Monaten eine erhöhte Bedeutung erlangt. Seit April werden markante wirtschaftspolitische Kontroversen zwischen Regierung, Präsidenten, Ministerien und der Zentralbank öffentlich ausgetragen. Der Konflikt führte vorerst nur zu personellen Umbesetzungen. Eine populistische wirtschaftspolitische Kehrtwende droht derzeit noch nicht. Allerdings verweisen die personellen Veränderungen auch auf zwei wichtige Aspekte. Erstens hat Präsident Putin seine Rolle als "wirtschaftspolitischer Schiedsrichter" gestärkt. Zweitens erscheint mittelfristig eine noch interventionistischere Wirtschaftspolitik – mit starker Rolle der Präsidialverwaltung – möglich.

Vladimir Putin, Dimitri Medwedew und weitere Vertreter der russischen Regierung. Wegen schwacher Konjunktur rücken wirtschaftspolitische Fragen zunehmend in den Fokus der russischen Politik. Auch mit personellen Folgen. (© picture-alliance/dpa)

Wirtschaftliche Stagnation wird zur Realität


In den letzten Monaten haben in Russland viele makroökonomische Indikatoren, darunter das schwache BIP-Wachstum (1,6 % gegenüber dem Vorjahr für das erste Quartal 2013) und die geringe Investitionsdynamik, negativ überrascht. Für Ökonomen ist das Wachstum des ersten Quartals sehr relevant, da diese Kennziffer ein wichtiger Impulsgeber für das zu erwartende Jahreswachstum ist. Unter plausiblen Annahmen scheint es kaum noch möglich, dass die russische Volkswirtschaft auf das Gesamtjahr gerechnet über 3 % wachsen kann. Auch für die kommenden Monate wird erst einmal ein schwaches Wachstum erwartet. Wobei bei der Bewertung der Daten die Erwartungen eine große Rolle spielen. Das Wall Street Journal hat die BIP-Zahlen des ersten Quartals wie folgt kommentiert: "Russland mit düsterem Wachstum". Zum gleichen Sachverhalt kommentierte die lokale Investmentbank Uralsib in Moskau: "Russlands BIP-Wachstum übertrifft Erwartungen"; denn immerhin lagen die 1,6 Prozent über den teils noch pessimistischeren Prognosen des Wirtschaftsministeriums und einiger lokaler Marktbeobachter. Angesichts zunehmender Skepsis bezüglich der Konjunkturdynamik ist es nicht verwunderlich, dass Premier Dmitrij Medwedew am 21. Mai in der Komsomolskaj Prawda erklärt, er sei zuversichtlich, dass man "eine Krise wie 2008–2009 wird vermeiden können und dass kein Bedarf bestehe Dosenfleisch, Suppe, Streichhölzer und Salz zu bunkern". An der aktuellen russischen "Wachstumsdebatte" haben sich auch ausländische Akteure beteiligt. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) hat zum jährlichen Treffen ihrer Anteilseigner Anfang Mai in Istanbul ihre BIP-Prognose für 2013 sehr prononciert auf 1,8 % Prozent reduziert – was deutlich unter der (mittleren) Prognose des russischen Wirtschaftsministeriums von 2,4 % liegt – und dies öffentlichkeitswirksam kommuniziert. Zudem knüpfte die EBRD an die Prognose den Hinweis, dass engagiertere Reformanstrengungen notwendig seien. Der Einfluss externer und politisch nicht gänzlich neutraler Stimmen, wie der EBRD, auf die wirtschaftspolitische Debatte in Moskau ist allerdings normalerweise begrenzt. Insofern ist die Stellungnahme der russischen Investmentbank Renaissance Capital, zum fast gleichen Zeitpunkt von größerem Interesse. Ihr Russland/GUS-Chefökonom hat im Mai in einer Studie davor gewarnt, dass Russland nicht nur ein kurzfristiges Wachstumsproblem habe, sondern bereits in der sogenannten "Mittleren Einkommensfalle" gefangen wäre. Und ohne grundlegende Reformen drohe auch mittelfristig ein enttäuschendes Wirtschaftswachstum, da das alte Wachstumsmodell Russlands an strukturelle Grenzen stößt. Vladimir Tikhomirov, der Chefökonom einer weiteren russischen Investmentbank (Otkritie Financial Corporation) wird noch deutlicher. Er geht davon aus, dass Russland "zunehmend in dem Wirtschaftsmodell stagniert, das es aus der Sowjetzeit geerbt habe".

Wachstumsschwäche mündet in politischen Auseinandersetzungen


Die skizzierten Positionierungen zeigen: Russland ist voll in der "Wachstumsdebatte" angekommen, die sich schon länger abgezeichnet hatte. Zugleich bestätigt sich die von einigen Beobachtern (wie z. B. Sergej Aleksashenko, Direktor der makroökonomischen Forschung an der Higher School of Economics in Moskau) Ende 2012 bzw. Anfang 2013 formulierte These, dass 2013 ein Schlüsseljahr für wirtschaftspolitische Reformen wird. Daher ist die wirtschaftspolitische Kontroverse zwischen Regierung, Präsidialverwaltung, Fachministerien und weiteren Akteuren wie Zentralbank und unabhängigen Experten, die sich in den letzten Wochen entwickelt, von erheblicher Bedeutung. Dabei vertreten die Akteure divergierende Einschätzungen und setzen sich öffentlich für sehr unterschiedliche wirtschaftspolitische Reaktionen ein. Das traditionell eher "wachstumsorientierte" Wirtschaftsministerium fordert eine Kombination aus geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen, die auf Ausgabensteigerungen zur Überwindung der Wachstumsschwäche hinauslaufen. Zur Ausgabenausweitung würde man im Wirtschaftsministerium auch ein moderates Aufweichen der erst 2012 eingeführten Budgetregel in Kauf nehmen und die fiskalische Reserven anzapfen. Prinzipiell stimmt es, dass Russland Spielraum hätte die Staatsverschuldung moderat anzuheben, wenn damit Investitionen in die Zukunft und nicht wieder Sozialausgaben bzw. Staatskonsum (wie 2008 und 2009) finanziert würden. Spielraum für Zinssenkungen der Zentralbank sieht man im Wirtschaftsministerium ohnehin und so hört man aus dem Wirtschaftsministerium bereits Stimmen, die das Mandat der Russischen Zentralbank ändern wollen. Danach soll die Zentralbank mit einem sogenannten dualen Mandat ausgestattet bzw. ihr über das Stabilitätsziel für Inflation (und den Rubel) hinaus auch ein Wachstumsziel gegeben werden. Die Zentralbank selbst hat zurückhaltend auf öffentliche Angriffe reagiert und in den letzten Wochen stets betont, dass es angesichts der aktuellen Inflationsdynamik keinen Spielraum für Zinssenkungen gebe. Besonders der Vizepräsident der Zentralbank Alexei Uljukajew hat sich in den letzten Monaten deutlich gegen (politisch) motivierte Zinsschritte ausgesprochen. Unterdessen entwickelte sich auch eine breitere öffentliche Debatte, die den Konjunkturabschwung sowie mögliche wirtschaftspolitische Antworten thematisierte. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass wirtschaftspolitische Themen bei der Präsidentenfragerunde Ende April im russischen Staatsfernsehen prominent vertreten waren. Im personalisierten Politiksystem Russlands ist es auch nichterstaunlich, dass im Zuge der jüngsten wirtschaftspolitischen Kontroverse Einzelpersonen unter Beschuss geraten. Schon am 17. April stellte Präsident Putin auf einem Treffen mit Ministern und regionalen Gouverneuren klar, dass schlecht arbeitende Amtsinhaber mit Ablösung zu rechnen hätten. Man könne sie auch für die aktuelle "Wachstumsschwäche" Russlands verantwortlich machen. Im Einzelnen wurden in den letzten Wochen von verschiedenen Seiten Regierungschef Medwedew, Vize-Premier Wladislaw Surkow und der Zentralbank-Präsident Sergej Ignatjew ins Visier genommen, die sich alle drei politisch derzeit auf dem politisch absteigenden Ast befinden. Vizepremier Surkow hat am 24. April um den Rücktritt angesucht, der am 8. Mai angenommen wurde. Sein Rücktritt erfolgte, nachdem starke Kritik an der Implementierung der Reformziele für die dritte Amtszeit des Präsidenten (gemäß den Dekreten vom Mai 2012) laut wurde. Implizit signalisiert der Surkow-Rücktritt, dass der Präsident mit dem Reformfortschritt im letzten Jahr unzufrieden ist. Surkow war jedoch einer der wenigen ranghohen Amtsträger, der recht klar die Position vertrat, dass die Maidekrete des Präsidenten kaum implementierbar seien. Im Kontext des Surkow-Rücktritts sollte man auch nicht vergessen, dass das Modernisierungsprestigeprojekt Skolkowo im April in die Negativschlagzeilen geriet. Nach Angaben der Justizbehörden besteht der Verdacht von Unregelmäßigkeiten beim Ausgabenmanagement (mit Summen um die 100 Millionen USD). Nach dem Rücktritt Surkows musste Premier Medwedew selbst am 7. Juni einen Bericht über den Fortschritt bei der Erfüllung der Dekrete präsentieren. Sollte er diesen in den kommenden Monaten nicht liefern, dann wird sein Stuhl noch stärker wackeln als bisher und spätestens seit dem Surkow-Rücktritt ist Medwedew klar angezählt, zumal der Surkow-Rücktritt bereits der dritte Abgang in der Medwedew-Regierung in den letzten Monaten ist.

Kontinuität und Putins schützende Hand über der Zentralbank


Im Kontext der skizzierten wirtschaftspolitischen Kontroverse hat sich Präsident Putin deutlich hinter die Politik der Zentralbank gestellt. In der Präsidentenfragestunde Ende April hat Putin explizit die (noch) restriktive Zinspolitik der Zentralbank verteidigt, während andere Regierungsvertreter – z. B.Wirtschaftsminister Andrei Belousow – diese öffentlich als zu wenig expansiv kritisierten. Putin dagegen hält die Geldpolitik der Zentralbank "größtenteils für gerechtfertigt, da sie auf ein Absenken der Inflation abzielt, und das sei im Interesse der Bürger und der Volkswirtschaft." Die Zentralbank-Spitze wird nun neu besetzt, am 23./24. Juni wird Elvira Nabiullina dem bisherigen Zentralbankchef Ignatjew nachfolgen. Ignatjews Amtszeit läuft zu diesem Datum regulär aus und er kann nicht erneut an die Zentralbankspitze berufen werden. Als frühere Wirtschaftsministerin und Ex-Wirtschaftsberaterin des Präsidenten steht Nabiullina zweifellos Putin nahe. Möglicherweise wird sie an der Zentralbankspitze zinspolitisch etwas weniger restriktiv bzw. wachstumsfreundlicher als ihr Vorgänger Ignatjew agieren, dem von Kritikern ein zu starker Fokus auf Inflationsbekämpfung nachgesagt wurde. Zu viel Präsidentennähe soll Nabiullina auch nicht unterstellt werden, da die neue Zentralbankchefin eher als Kompromisskandidatin zu sehen ist, die sowohl für die "Preisstabilitätsfraktion" in der Zentralbank als auch die "Wachstumsfraktion" im Wirtschaftsministerium akzeptabel war. Dennoch sind die möglichen mittelfristigen Folgen der Nabiullina-Nominierung auch nicht zu unterschätzen. Unter der neuen Zentralbankführung erscheint es mittelfristig möglich, dass das Zentralbankmandat modifiziert wird. Es könnte – ähnlich wie bei der amerikanischen Zentralbank – ein Mehrfachmandat aus Inflations- und Beschäftigungsziel geben. Gegen so eine Zieländerung ist nichts einzuwenden, wenn sie in einen sinnvollen politischen Prozess eingebunden ist. Wobei an anderer Stelle auch gerade versucht wird bei der Zentralbank Kontinuität zu signalisieren, denn Ignatjew soll weiter als Berater zur Verfügung stehen. Dies erklärt sich damit, da ihm der recht harmlose Verlauf der globalen Finanzkrise im russischen Finanzsektor, der Ausbau der institutionellen Kapazität und der Rolle der Zentralbank sowie der Übergang zu einem flexibleren Wechselkurs gutgeschrieben werden. Der neuen Zentralbankspitze wird als Vize voraussichtlich Ksenia Judajewa an die Seite gestellt. Die ehemalige Chefvolkswirtin der Sberbank, ausgebildet in den USA, war bis dato als sogenannter Sherpa für die Positionierung Russlands in der G-20 Gruppe der führenden 20 Weltwirtschaftsmächte verantwortlich. Diese beiden Neubesetzungen an der Zentralbankspitze stehen nicht für einen staatsinterventionistischen Kurs und erschrecken auch ausländische Marktteilnehmer nicht, was wohl auch so beabsichtigt ist. Vor der endgültigen Neubesetzung der Position an der Zentralbankspitze mit Nabiullina wurden auch zwei weitere Namen als Nachfolger von Ignatjew gehandelt: Vize-Zentralbankchef Uljukajew und Ex-Finanzminister Kudrin. Eine wirkliche Alternative – im Sinne eines Kompromisses wie bei Nabiullina – waren beide nicht. Uljukajew gilt als zu sehr auf geldpolitische Stabilität ausgerichtet und damit zu wenig "wachstumsfreundlich". Dem Ex-Finanzminister Alexej Kudrin sagt man für den Zentralbankposten eine zu große Politiknähe nach; hätte er ein Angebot überhaupt angenommen. Kudrin wird weiter unterstellt, dass er "nur" für einen ganz einflussreichen Posten, wie "wenigstens" als Premier, in die russische Führung zurückkehren werde. Interessanterweise ist nun Uljukajew offenbar für das Wirtschaftsministerium vorgesehen, was man auch als Schritt werten kann, ihm mehr "Wachstumsorientierung" zu geben. Der Posten an der Spitze des Wirtschaftsministeriums könnte freiwerden, da der bisherige Wirtschaftsminister Belousow wirtschaftspolitischer Präsidentenberater werden dürfte. Ungeachtet der zuvor skizzierten personellen Änderungen ist in der Wirtschaftspolitik aber erst einmal mit Kontinuität zu rechnen. In der landesweiten Präsidentenfragestunde Ende April hat Putin über die Notwendigkeit von einigen "Anpassungen der Wirtschaftspolitik" gesprochen, jedoch betont, dass die "Grundprinzipen der Wirtschaftspolitik (in Russland) unverändert bleiben". Insofern steht außer Frage, dass der Präsident z. B. keine Kehrtwende bei der Geld- und Fiskalpolitik beabsichtigt. Auch die jüngsten Postenveränderungen in Schlüsselministerien bzw. der Zentralbank sprechen nicht für eine Kehrtwende. Wobei die detaillierte Interpretation der Posten-Neubesetzungen keineswegs trivial ist. Einerseits sieht es so aus, als wäre beabsichtigt die Zentralbank etwas "wachstumsfreundlicher" auszurichten, während das Wirtschaftsministerium eher etwas "Stabilitätsorientierung" aus der Zentralbank bekommt. Aus diesem Blickwinkel sieht es sogar so aus, als sollte das Konfliktpotential zwischen beiden Institutionen entschärft werden. Allerdings sind auch die Implikationen der Ernennung von Belousow als wirtschaftspolitischer Präsidentenberater zu beachten. Dieser Schritt deutet eher darauf hin, dass der Präsident eine interventionistische Wirtschaftspolitik anstrebt. Zudem schwächt ein prominenter Wirtschaftsberater des Präsidenten die Rolle der Regierung Medwedews weiter und erhöht den Einfluss der Präsidialverwaltung in der Wirtschaftspolitik.

Nur gemäßigte und gezielte Konjunkturspritzen sind wahrscheinlich


Mit Unsicherheit behaftet ist noch der Ausgang der aktuellen wirtschaftspolitischen Kontroverse über mögliche (staatliche) konjunkturelle Stützungsmaßnahmen. Die meisten Beobachter (auch der Autor dieses Beitrages) gehen von einem gemäßigten Mix an gezielten Stützungsmaßnahmen aus, die zum Teil schon angelaufen sind. Der staatliche Ausgabenspielraum wurde durch die Anfang April gestiegene Ölpreisannahme im Budget (von 97 auf 105 US-Dollar) leicht erhöht. Zudem wird das Finanzministerium Ausfälle bei den Privatisierungserlösen, die mal wieder unter Plan liegen, aus dem Budget abdecken. Der Leitzins der Zentralbank wird trotz derzeit nach oben tendierender Inflation im Lauf der kommenden Monate voraussichtlich recht deutlich um 1–1,5 Prozentpunkte gesenkt. Die anstehenden Veränderungen an der Zentralbankspitze stehen einem deutlichen Leitzinssenkungspfad nicht entgegen. Zudem hat sich die Zentralbank in den letzten Monaten mehr Spielraum für Zinssenkungen verschafft und Überlegungen angestellt, wie ihr Inflationszielband auszuweiten wäre; letzteres könnte gegebenenfalls eine etwas expansivere Geldpolitik erleichtern. Allerdings ist in Russland für die Versorgung der Volkswirtschaft mit Liquidität und Krediten weniger der Leitzins relevant als vielmehr andere Marktzinsen und Refinanzierungsmöglichkeiten. Insofern wird es wahrscheinlich auch weitere Refinanzierungserleichterungen für Banken (entweder durch die Zentralbank selber oder im Zusammenspiel mit dem Finanzministerium) und gegebenenfalls erweiterte staatliche Garantien geben. Wobei die direkte Wirkung der Geldpolitik nicht überschätzt werden sollte, da sich das Kreditwachstum nicht schwach entwickelt. Derzeit liegt das Kreditwachstum trotz Wirtschaftsschwäche inflationsbereinigt bei rund 11 % gegenüber dem Vorjahr und auch 2012 sind die Kredite schon stark angestiegen. Das noch recht hohe Kreditwachstum deutet zudem darauf hin, dass derzeit die großen staatsnahen Banken im Rahmen ihrer normalen Geschäftspolitik sowieso wieder zur Konjunkturstützung beitragen. Angesichts der fundamentalen Wachstumsschwäche und geldpolitischen Lockerung wird auch der Rubel in den nächsten 6–12 Monaten wohl weiter schwach notieren, was die Binnenkonjunktur leicht stützen sollte. Des Weiteren werden die großen staatsnahen Unternehmen bzw. Monopole nun ihre Investitionen – im Gegensatz zur ursprünglichen Planung – wahrscheinlich ausweiten. An sich war hier 2013 ein Rückgang der Investitionsausgaben bei den großen staatsnahen Unternehmen von 12 % bzw. 18 % im Vergleich zu 2012 und 2011 geplant. Direkt über das Staatsbudget wird wahrscheinlich auch die Investitionsneigung über den begrenzten Kauf sogenannter Infrastrukturanleihen (oder Anleihen der Staatlichen Eisenbahn) gefördert. Zu massiven Ausgabensteigerungen besteht aber derzeit nicht der fiskalpolitische Spielraum. Zumal die heimische Nachfrage kurzfristig stimulierende Fiskalmaßnahmen auch äußerst kontraproduktiv sein können angesichts der bereits niedrigen Arbeitslosigkeit bzw. hohen Kapazitätsauslastung in der russischen Volkswirtschaft. Damit wird auch deutlich: Derzeit hemmen strukturelle Wachstumsprobleme, die in den letzten 2 Jahre mit einem Konsum- und Konsumentenkreditboom zugedeckt wurden, und nicht ein Nachfrageausfall die wirtschaftliche Dynamik. Der begrenzte fiskalische Spielraum wird auch daran deutlich, dass über mittelfristige Einnahmeerhöhungen, wie etwa die Anhebung der Anforderung an staatsnahe Unternehmen bis zum Jahr 2015 nicht nur 25 % sondern 35 % ihres Jahresüberschusses als Dividende zu zahlen, diskutiert wird. Solche Bestrebungen zeigen den begrenzten fiskalischen Spielraum, und viele staatsnahe Unternehmen (Sberbank, VTB, Gazprom) sind sogar der Forderung nach Dividendenzahlungen von 25 % des Reingewinns, u. a. durch Nutzung von Bilanzierungsspielräumen zwischen russischen und internationalen Rechnungslegungsstandards, nicht nachgekommen (die Gazprom Dividende 2012 liegt z. B. bei 25 % des Jahresüberschuss nach lokalen Rechnungsstandards, aber nur bei 12 % gemäß internationalen Rechnungslegungsstandards). Die Spannungen um die Dividendenzahlungen sind exemplarisch für die Probleme, die eine Teilmodernisierungsstrategie der russischen Wirtschaft mit sich bringt. Das Ziel international konkurrenzfähige Großkonzerne aufzubauen ist inkompatibel mit deren Behandlung als verlängerter Arm des Staates bzw. des Staatshaushaltes. Vor allem im Bereich der Fiskalpolitik sollten die aktuellen wirtschaftspolitischen Diskussionen auch nicht losgelöst vom längeren politischen (Konjunktur-)Zyklus gesehen werden. Um eine unspektakuläre Wiederwahl in 2018 abzusichern und vor allem auch für den Wahlzyklus (der wohl ab 2016 beginnen wird) hinreichend Spielraum zu haben, muss erst einmal die fiskalische Konsolidierung fortgesetzt werden. Zudem wird die russische Volkswirtschaft wohl auch ohne deutliche Rohstoffpreissteigerungen oder massive Fiskalausgaben im zweiten Halbjahr 2013 aller Voraussicht nach – von niedrigem Niveaus ausgehend – wieder mit etwas positiveren Nachrichten aufwarten können. Da sich die russische Konjunktur schon im zweiten Halbjahr 2012 deutlich abgeschwächt hat, sollten die (Jahres-)Wachstumsraten heuer im zweiten Halbjahr schon angesichts dieser schwachen Basis leicht anziehen. Zudem würde schon eine normale Ernte im dritten Quartal einen positiven Wachstumsbeitrag leisten und auch die Inflation absenken; 2012 litt Russland bekanntlich unter einer extremen Dürre mit hohen Agrarpreissteigerungen. Schon die zu erwartenden leichten Verbesserungen der Wachstumszahlen werden die wirtschaftspolitische Kontroverse in Russland – und damit das Motiv für personelle Veränderungen – etwas entschärfen, obwohl die fundamentalen wirtschaftspolitischen Probleme damit natürlich nicht gelöst sind. In Bezug auf mögliche personelle Änderungen ist es nicht ganz verwunderlich, dass auch der Name Kudrin in den letzten Wochen im Zusammenhang mit diversen Funktionen genannt wurde. Eine Kudrin-Rückkehr hat es diesmal (noch) nicht gegeben und war wohl von Kudrin selber nicht gewollt, obwohl ihm offenbar ein Posten angeboten wurde. Es sieht also alles danach aus, dass Putin seine wirtschaftlichen Reformziele noch mit dem aktuellem Personal und vor allem mit eigenen Ideen und Instruktionen umsetzen will. Wobei Kudrin immer zurückkehren könnte, falls die Reformfortschritte weiter hinter den Erwartungen des Präsidenten zurückbleiben. Allerdings ist auch die Position Putins in Bezug auf den geringen strukturellen Reformfortschritt im Bereich Wirtschaft nicht unkritisch zu sehen. Seit dem Erlass seiner Präsidentendekrete im Mai 2012 hat er sich kaum um deren Implementierung gekümmert und dies eher Surkow überlassen. Angesichts der geringen Fortschritte im spezifischen Kontext Russlands wäre wohl mehr Engagement des Präsidenten nötig gewesen, wobei Putin h sich indes in den letzten 12–18 Monaten eher um eine Straffung der politischen Zügel als um wirtschaftliche Reformen gekümmert hat.

Russland auf Kurs zu mehr Interventionismus in der Wirtschaft?!


Inhaltlich ist der bisherige Verlauf der wirtschaftspolitischen Kontroverse der letzten Monate eher positiv zu bewerten. Es wurde deutlich, dass einmal erreichte eher orthodoxe wirtschaftspolitische Positionen und Reformschritte, auch wenn diese kurzfristig nicht unbedingt politische Popularität versprechen, beibehalten und nicht schnell wieder revidiert werden. Die allgemeine makroökonomische Stabilität und die dafür notwendigen Aspekte wirtschaftspolitischer Oberziele werden beibehalten. Eine deutliche Aufweichung der Fiskalregel oder eine Gefährdung der Preisstabilität über eine zu starke Politisierung der Zentralbank könnte zudem dem Präsidenten mittelfristig schaden. Seine Popularität lebt auch davon, dass es die Zentralbank in den letzten Jahren geschafft hat die Inflation auf die niedrigsten Niveaus der letzten Dekaden zu senken. Bei den Neubesetzungen an der Zentralbankspitze wurde auch darauf geachtet nicht mit Personen zu überraschen, die als zu wenig liberal angesehen werden könnten. Zudem wurde angesichts des Drucks seitens Putins auf die Amtsinhaberdeutlich, dass die Führung auf eine moderate Modernisierung, wenn auch nur in Teilbereichen der Wirtschaft, drängt. In diesen Zusammenhang sind auch die Bestrebungen der höheren Dividendenanforderungen an Staatsunternehmen oder das auf hohe Beamte und Funktionsträger abzielende Verbot des Transfers von Vermögenswerten ins Ausland zu werten, wobei hier nicht der generelle Kapitalverkehr eingeschränkt wird. Letzteres wäre sehr kontraproduktiv nachdem Russland sich in den letzten Jahren mehr und mehr für Auslandskapital geöffnet hat. Positiv zu vermerken ist auch, dass die jüngste wirtschaftspolitische Kontroverse relativ offen geführt wird. In demokratisch verfassten Ländern gibt es ebenso oft wirtschaftspolitische Debatten mit diametral entgegengesetzten Positionen, wie auch die Eurozonenkrise zeigt. Auch im Westen wird die Unabhängigkeit einzelner wirtschaftspolitischer Institutionen direkt oder indirekt untergraben, und Wechsel an der Zentralbankspitze haben auch schon zu Richtungswechseln in der Geldpolitik geführt (wie etwa 1987 beim Wechsel von Volcker zu Greenspan in den USA oder wie unlängst in Japan). Oder der polnische Premier hat auch vor kurzem von staatsnahen Unternehmen gefordert durch Dividendenerhöhungen zur Haushaltskonsolidierung beizutragen. Die politisch geforderte Dividende eines staatsnahen Unternehmens (KGHM Polska Miedz SA) wurde um 67 % gegenüber dem Managementvorschlag erhöht. Allerdings ist die Sachlage in Russland dennoch eine andere. Das Festhalten an gewissen Regeln, wie der Unabhängigkeit der Zentralbank oder den neuen fiskalpolitischen Regel, ist hier angesichts ansonsten eher schwach funktionierender wechselseitiger Kontrollkompetenzen und Kompetenzabgrenzungen ("Checks and Balances") von hoher Bedeutung. Einen eher unangenehmen Beigeschmack hat indes die starke Persönlichkeitskomponente in der jüngsten wirtschaftspolitischen Kontroverse. Dies gilt vor allem in Bezug auf die starke Rolle des Präsidenten, der sich erneut als der prominente Streitschlichter und "wirtschaftspolitische Schiedsrichter" positioniert hat, der die Wirtschaft "im Handbetrieb zu steuern" respektive die Wirtschaft ohne Reformen der Politik zu reformieren versucht. Unklar ist auch noch, inwiefern die personellen Veränderungen den wirtschaftspolitischen Einfluss des Präsidenten sowie der Präsidialverwaltung erhöhen. Die Befürchtungen, dass der Staatseinfluss im staatskapitalitischen Wirtschaftssystem Russlands wachsen könnte, bestehen fort und nehmen noch zu. Mit Igor Setschin, dem in ausländischen Medien Beinnamen wie "Igor der Schreckliche", "grauer Kardinal" oder "dunkler Helfer" anhaften, übernimmt eine Schlüsselfigur des Staatskapitalismus mehr und mehr eine gestalterische Rolle; wie etwa bei den jüngsten Umgestaltungen im Ölsektor, nachdem die wirtschaftliche Stärke Gazproms zunehmend nachlässt. Abstrakt formuliert, zeichnen sich in immer mehr Branchen sogenannte "hybride Wirtschaftsstrukturen" ab. Dieser Begriff umschreibt einen Zustand, in dem einige wenige staatsnahe Unternehmen einen Markt dominieren und etwas privatwirtschaftlicher Wettbewerb um sehr geringe Marktanteile zugelassen wird. Letzteres geschieht vor allem damit die staatsnahen Betriebe nicht zu träge werden. Aufgrund solcher Trends ist es wenig verwunderlich, dass der als wirtschafsliberal geltende Premier Medwedew immer mehr als technokratischer Verwalter ohne strategische Kontrolle über die Macht erscheint. Angesichts vieler Maßnahmen die auf einen steigenden Einfluss staatskapitalistischer Einflüsse hindeuten, könnten die eher wirtschaftsliberalen Neu-Besetzungen an der Zentralbankspitze und die bis dato geringe Politisierung der Zentralbank sogar als "Täuschungsmanöver" interpretieret werden. Es bleibt zudem abzuwarten ob angesichts der jüngsten Schlagzeilen um die Flucht des Ökonomen und Medwedew-Beraters Sergej Guriev nach Frankreich auch eine politischen Repression beginnt, die auf wirtschaftspolitisch eher liberal ausgerichtete Akteure und sogenannte "liberale Inseln" auf Wissenschafts- und Expertenebene abzielt, die insbesondere in der Mewedew-Amtszeit entstanden sind.

Fussnoten

Gunter Deuber leitet die volkswirtschaftliche Osteuropaanalyse bei der Raiffeisen Bank International (RBI), einer der größten in Russland tätigen Auslandsbanken, mit Sitz in Wien. Der vorliegende Kommentar gibt die persönliche Auffassung des Autors und nicht notwendigerweise die Ansicht der Raiffeisen Bank International wieder.