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Analyse: Regionale Diskrepanzen in Russland: Politisch verursacht | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Regionale Diskrepanzen in Russland: Politisch verursacht

Andreas Heinemann-Grüder

/ 11 Minuten zu lesen

Die sozioökonomischen Diskrepanzen zwischen den Regionen haben seit Ende der 1990er Jahre in Russland enorm zugenommen. Das lässt sich nicht allein mit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen, sondern auch mit der Regierungsführung erklären. Die Politik der Zentralisierung unter Präsident Putin gründet auf hoher Umverteilungsmacht; der Zentralismus stößt jedoch an seine Grenzen, wenn die Budgetmittel für die Subventionierung der Regionen abnehmen, die Regionen ihre mandatierten Aufgaben nicht finanzieren können, gleichzeitig aber die Möglichkeiten eigener Steuererhebung durch den Steuerzentralismus eingeschränkt sind.

Dorfleben in Russland: Die russischen Lebensrealitäten sind regional stark differenziert. (© picture-alliance/dpa)

Regionale Vielfalt

Russland ist laut Verfassung ein Föderationsstaat mit 85 Föderationssubjekten ("Ländern"), einschließlich der international nicht anerkannten Einordnung der Halbinsel Krim und der Stadt föderaler Bedeutung Sewastopol. Angesichts der riesigen Distanzen, der unterschiedlichen ökonomischen, ethnischen, klimatischen und landschaftlichen Voraussetzungen haben die Föderationssubjekte nach 1991 zunächst unterschiedliche Transformationswege eingeschlagen. Unter Präsident Putin sind die Regionalregimes dann weitgehend vereinheitlicht worden. Während ethnische und Statusunterschiede zwischen den Regionen gegenüber den 1990er Jahren an Bedeutung einbüßten, haben die sozio-ökonomischen Diskrepanzen enorm zugenommen. Ist die Kluft zwischen den Regionen ein Ergebnis der Putinschen Politik, können also die sozioökonomischen Ungleichheiten auch auf den Zentralismus zurückgeführt werden?

Die Verschiedenartigkeit von Russlands Regionen lässt sich an unterschiedlichen Merkmalen festmachen, darunter der geographische Lage, dem politisch-administrativen Status, dem Grad der Ausprägung demokratischer oder aber autoritärer Verhältnisse, demographischen Kennzeichen, dem Wahlverhalten, ökonomischen Parametern, Indikatoren der menschlichen Entwicklung oder der Konfliktintensität. Nicht alle regionalen Charakteristika überlagern sich, und doch lassen sich typische Muster der Differenzierung erkennen.

In Russland koexistieren Regionen mit einem sozialökonomischen Niveau der afrikanischen Sub-Sahara-Region mit solchen, die mit westeuropäischen Standards verglichen werden können. Die Unterschiede im durchschnittlichen Monatseinkommen differieren zwischen den Regionen mit einem Faktor von bis zu 5,3: Im reichen Moskau verdient man im Schnitt mehr als fünf Mal so viel wie in der armen Republik Kalmykien. Die Arbeitslosigkeit war 2012 in zahlreichen "ethnischen" Republiken und Autonomen Bezirken, also Gebietseinheiten nichtrussischer Völker, überdurchschnittlich hoch, so bei den beiden Spitzenreitern Inguschetien mit 47,7 % und Tschetschenien mit 29,8 %. Im Zeitraum von 1999–2009 verdoppelten sich die Unterschiede hinsichtlich des regionalen Bruttosozialprodukts, wobei die meisten ethnischen Republiken besonders rückständig sind. Zu den ärmsten Regionen gehören die ethnischen Regionen im Nordkaukasus sowie die Republiken Kalmykien und Tywa, die Regionen Altai und Stawropol sowie die Gebiete Brjansk, Kirow und Pskow. Sie alle hängen überdurchschnittlich stark von föderalen Zuwendungen ab. Geringe Einkommenszuwächse oder Einkommensrückgänge waren zwischen 1999–2009 insbesondere in den Gebieten Wologda, Magadan, Samara und den Regionen Kamtschatka, Chabarowsk und Stawropol zu vermerken.

Zwischen 1999–2009 verzeichneten hingegen die Republiken Tschukotka und Dagestan, die Städte föderaler Bedeutung Moskau und St. Petersburg sowie das Leningrader Gebiet und die Gebiete Kaliningrad und Sachalin hohe Zuwächse im Pro-Kopf-Einkommen. Hohe Einkommenszuwächse sind zum Teil, etwa im Falle Dagestans, auf die föderale Umverteilung von Haushaltsmitteln zurückzuführen. Auf Eigenleistung lassen sich die Einkommenszuwächse in den Gebieten Tjumen, Sachalin und im Leningrader Gebiet, in den Städten Moskau und St. Peterburg sowie den Republiken Komi, Tatarstan und Tschukotka zurückführen. Betrachtet man den regionalen Saldo, verrechnet man also Überschüsse und Schulden miteinander, dann zählen zu den Gewinnern die Städte Moskau und St. Petersburg, die Region Krasnojarsk, die Republik Tatarstan und das Moskauer Gebiet (Angaben für 2012). Zu den am meisten verschuldeten Regionen gehören hingegen die Republiken Tschetschenien und Dagestan, der Autonome Bezirk der Nenzen sowie die Gebiete Archangelsk und Astrachan.

Betrachtet man den Index der menschlichen Entwicklung (Human Development Index), dann fallen die regionalen Diskrepanzen zwar weniger krass aus als bei den Einkommen, am geringsten entwickelt sind aber im Schnitt "ethnische" Republiken und die südsibirische Peripherie, der Ferne Osten Russlands und der Nordkaukasus. Das natürliche Bevölkerungswachstum weist hingegen im Uralgebiet, im Nordkaukasus, in Sibirien und der südsibirischen Peripherie überdurchschnittliche Raten auf, während das natürliche Bevölkerungswachstum im europäischen Teil Russlands negativ ist.

Kategorisierung der Regionen oder "Die vier Russlands"

Seit den 1990er Jahren werden Russlands Regionen nach verschiedenen ökonomischen oder politischen Profilen eingeteilt. Teils überschneiden sich die Kategorien, teils werden unterschiedliche Merkmale zu Regionstypen zusammengefasst. Auffällig ist gleichwohl, dass in den bald 25 Jahren seit Auflösung der Sowjetunion jene Faktoren, die die Zuordnung zu einer wachsenden oder rückständigen Region begründen, weitgehend gleich geblieben sind. Gute oder schlechte Ausgangsbedingungen haben dauerhaft Pfadabhängigkeiten geschaffen, sind allerdings auch durch institutionelle Ursachen verstärkt worden.

Ende der 1990er Jahre hat Wladimir Gelman die Regionen in drei Typen unterschieden: (1) ein autoritäres Modell mit einem Machtmonopol (z. B. Tatarstan), (2) hybride Regime mit einem Elitenkompromiss (z. B. das Gebiet Nischnyj Nowgorod) und (3) Elitenwettbewerb, der verhindert, dass eine Gruppe innerhalb der Elite alles gewinnt (z. B. in der Republik Udmurtien). Die Typisierung der Regionen folgte einem Transformationsmodell, das von "Pionieren" und "Nachzüglern" der Demokratisierung ausging. Freilich finden sich im Zeitverlauf erstaunliche Wechsel bei der Zuordnung der Regionen nach dem Regimetyp. Aufgrund der Angleichung der politischen Regime und des Rückgangs von ergebnisoffenem politischem Wettbewerb in den Regionen hat deren Einteilung nach dem Grad der Demokratisierung an Relevanz eingebüßt. Der Grad an Pluralismus, die Anzahl regionaler Vetokräfte und deren Verhältnis zueinander sowie die Offenheit der Regionalregime erklären gleichwohl zu einem erheblichen Teil die Verschiedenheit regionaler Entwicklungspfade.

Wladimir Gimpelson unterscheidet zwischen (1) ressourcenreichen Regionen mit einem extraktiven Profil (nördliche Regionen und die im Fernen Osten); (2) urbanen Industriegebieten, die Schwer- und Leichtindustrie, darunter Rüstungsindustrie, kombinieren (Zentralrussland sowie Teile des Urals und Sibiriens);(3) exportorientierte Regionen und Finanzzentren (Moskau und St. Petersburg) sowie Grenzregionen mit Hochseehäfen (Norden und Ferner Osten); (4) landwirtschaftlichen Regionen, die für den heimischen Markt produzieren (Schwarzerde-Zone und Wolgagebiet) sowie (5) ethnischen Regionen. Dimitrios Giannias klassifiziert mit seinen Ko-Autoren ähnlich: (1) Regionen mit natürlichen Ressourcen, in denen Kraftstoffe, Nichteisen-Metalle und die Holzindustrie mindestens die Hälfte des industriellen Outputs ausmachen (Republiken Karelien, Komi und Jakutien (Sacha), das Leningrader Gebiet, die Gebiete Tjumen, Irkutsk und Magadan, die Region Krasnojarsk); (2) ländliche Gebiete: Regionen, in denen mindestens 45 % der Bevölkerung als agrarisch eingestuft wird (11 Regionen im Süden); (3) Industrie- bzw. High-Tech-Regionen (Moskau, St. Petersburg, Moskauer Gebiet, Swerdlowsker Gebiet, die Gebiete Nischnyj Nowgorod, Nowgorod, Samara, Woronesch, Nowosibirisk und Kaluga); und (4) kommerzielle Agglomerationen, zu denen Moskau, St. Petersburg, das Swerdlowsker Gebiet, die Region Primorje, die Gebiete Nowosibirsk, Samara und Nischnyj Nowgorod gezählt werden; sowie (5) Regionen, die keiner der vorgenannten Kategorien zugehören (etwa die Hälfte aller).

Natalja Subarewitsch (Zubarevič) schließlich spricht von einer Koexistenz von "vier Russlands", sie kombiniert den Grad industrieller Diversifizierung, den Siedlungstyp und das Protestverhalten miteinander. Es gibt demnach 1) reform- und wachstumsorientierte große Städte mit einer liberalen Mittelklasse und einer post-materialistischen Protestkultur; 2) mittlere Städte mit krisenanfälligen Monoindustrien, geringen Industrieeinkommen und sozialen Protesten; 3) kleine Städte und ländliche Gebiete im Süden, im Nordkaukasus und in der nördlichen Peripherie, die durch Subsistenzwirtschaft, schlechte Infrastruktur und Inseln des extraktiven Ressourcenabbaus gekennzeichnet sind; und schließlich 4) ethnische Republiken im Nordkaukasus, die sich durch ethnische und religiöse Konflikte, radikalen Islam, Klanstrukturen und umfangreiche föderale Transferleistungen auszeichnen. Besonders kritisch stellt sich die Lage im Nordkaukasus dar, wo korrupte Institutionen, ineffektive Regierungsführung, defekte Rechtsstaatlichkeit und Unterentwicklung die Bemühungen der Zentralregierung unterminieren, die Region zu integrieren und den islamistischen Extremismus zu bekämpfen.

Erklärungen für die Diskrepanzen

Für hohe Wachstumsraten in den Regionen werden meist der Reichtum an Bodenschätzen, die Konzentration von Handel und Dienstleistungen und die Produktion exportfähiger metallurgischer Erzeugnisse verantwortlich gemacht. Fortgeschrittene und extrem rückständige Regionen sind in postsowjetischer Zeit im Wesentlichen in derselben Kategorie wie früher geblieben: Zwar hat das Zentrum seit der Jahrtausendwende rückständige ethnische Regionen massiv subventioniert, doch sind die Entwicklungsanreize gering geblieben.

Statistische Untersuchungen, die den Grad regionaler Demokratie mit Wirtschaftswachstum verknüpfen, kommen zu mehrdeutigen Ergebnissen. Insgesamt schneiden Regionen mit einem hohen und einem niedrigen Grad an Demokratie (verstanden als inner-regionaler Pluralismus) in Bezug auf das Wirtschaftswachstum besser ab als hybride Regime. Eindeutig ist der negative Einfluss der großen föderalen und der regionalen Bürokratie auf das Wirtschaftswachstum. Aber nicht nur der Umfang der Bürokratie, sondern auch die Qualität der regionalen Institutionen schlägt sich auf das Ausmaß an Korruption nieder. Obschon nur für knapp über dreißig Regionen Angaben von Transparency International vorliegen, scheint die Korruption in weniger entwickelten Regionen überdurchschnittlich hoch. Hohe Korruption geht ‑ vorbehaltlich vertiefter Erhebungen in allen Regionen ‑ mit industriellen Monokulturen und hoher Abhängigkeit von föderaler Umverteilung einher und trägt so zur Externer Link: Zementierung von Entwicklungsrückständen bei.

Die Ursachen für die Zunahme regionaler Diskrepanzen scheinen institutioneller Art. Föderale Umverteilung geschieht in Form von Zuschüssen, um Budgetdefizite auszugleichen, durch direkte Budgetsubventionen, Investitionsfonds und durch zweckgebundene Transferleistungen. Die Umverteilungsschlüssel sind in hohem Maße intransparent. Häufig legen die acht Föderalbezirke und die einzelnen Regionen ihre Entwicklungspläne getrennt auf und nutzen unterschiedliche Kennziffern. Maßnahmen sind deshalb isoliert oder fragmentiert. In die Modernisierung der Infrastruktur wurde mit Ausnahme der olympischen Spiele in Sotschi oder der Nord Stream-Pipeline wenig investiert. Darüber hinaus gehen seit 2013 die Investitionen in Bauvorhaben, Finanzdienstleistungen, Transport und Kommunikation dramatisch zurück. Die Einnahmen der Regionalhaushalte schrumpfen; zudem nimmt der Umfang der föderalen Transfers seit 2009 ab, die Anzahl der "bezuschussten" Regionen ist mittlerweile auf 70 gestiegen. Überschuldete Regionalbudgets zwingen die Regionen zur vermehrten Kreditaufnahme. Infolgedessen ändert sich in Bezug auf die nötige Diversifikation von Mono-Unternehmen und Mono-Regionen nur wenig. Das eigens für die Entwicklung des Fernen Ostens geschaffene Ministerium für Entwicklung des Fernen Ostens hat seinen Zweck selbst nach offizieller Einschätzung nicht erfüllt.

Kontrolle übt die Zentralregierung durch die Zentralisierung von Kompetenzen, durch administrative Aufsicht, durch föderale Transfers, durch einen bilateralen Verhandlungsmodus, vor allem aber über die Personalpolitik aus. Starke Gouverneure demonstrierten bis in die erste Putin-Administration hinein (2000–2004) regionale Autonomie und Lobbyismus gegenüber dem Zentrum. Doch infolge der Ernennung der Gouverneure ab 2004 ist nun die Fähigkeit, politische Unterstützung für Putin zu mobilisieren, entscheidend für das Überleben als Gouverneur geworden. Das Fehlen von regionalen Parteien und die Kontrolle des Kreml über die Parteienregistrierung und den Parteienwettbewerb schränken den innerregionalen Wettbewerb ein, die Gouverneure verbinden sich überwiegend mit der "Partei der Macht" (Einiges Russland). Derweil hat die Zahl der Gerichtsverfahren gegen Gouverneure in den 2000er Jahre um ein Vielfaches zugenommen, mit einem Abschreckungseffekt als Folge. Die exzessive Konzentration von Kompetenzen in der Zentralregierung – und das bei gleichzeitiger Unterfinanzierung der mandatierten Aufgaben der Regionen – erleichtert es den Regionalverwaltungen, die Verantwortung für eine schlechte Wirtschaftsbilanz auf die Zentralregierung abzuschieben, gleichzeitig werden sie jedoch von der Moskauer Regierung und der örtlichen Bevölkerung für Leistungsdefizite zur Rechenschaft gezogen.

Der regionale Regimetyp beeinflusst das Wachstum. Demokratischere Regime passen sich insgesamt besser an den Marktwettbewerb an und offerieren öffentliche Dienstleistungen effektiver, freilich zum Preis hoher Einkommensungleichheit. Demokratischere Regime zeichnen sich durch höhere Durchschnittseinkommen aus; sie reduzieren damit Armut und soziale Abhängigkeit; zudem entwickeln sich Kleinunternehmen dort vorteilhafter. Autokratischere Regimes blockieren hingegen ökonomischen Wettbewerb, agieren protektionistisch, konsultieren sich weniger mit Unternehmen und verhalten sich wie extraktive Rentierstaaten. Da ethnische Regionen im Schnitt autokratischer regiert werden, kann deren Rückständigkeit auch mit der Autokratie erklärt werden.

Politische Reaktionen

Als vorrangige Ziele der Regionalpolitik werden die Verbesserung der kommunalen Wohnungspolitik, die Befriedung der ethnischen Konflikte, die Transparenz des Finanzausgleichs, eine Ausweitung der Einnahmequellen der Regionen und die Erschließung und Entwicklung der Infrastruktur, der Märkte und des Tourismus im hohen Norden sowie im Fernen Osten erklärt. Betrachtet man die zahlreichen Strategiepapiere des Ministeriums für regionale Entwicklung, dann gelten jedoch die Entwicklung von Bildung und Wissenschaft, von Kultur und Tourismus, des Gesundheitswesen, des Sozialwesens, die Sicherung der Renten und schließlich die Energieeffizienz als Prioritäten. Als strategische Regionen werden der Ferne Osten und die arktische Region ausgemacht.

Die Zentralregierung erkennt durchaus, dass für die Regionalentwicklung Steueranreize geschaffen werden und die Kompetenzen zwischen Zentrum und Regionen abgegrenzt werden müssen. Die Finanzbeziehungen sollen weniger auf politischem Opportunismus, sondern auf Regeln und einer kontinuierlichen Bewertung der Regierungseffizienz basieren. Nötig seien gezielte föderale Entwicklungsprogramme. Doch vor einer Dezentralisierung von Kompetenzen und höherer Eigenverantwortung gegenüber den zentralstaatlichen Aufsichtsorganen, wie es von vielen Gouverneuren gefordert wird, schreckt die Moskauer Regierung zurück.

Schlussfolgerungen

Die Machtbeziehungen zwischen Zentrum und Regionen haben sich unter Putin fundamental geändert. Loyalität gegenüber Putin, die sich in Wählerstimmen für Putin bzw. seine "Partei der Macht" ausdrückt, und die Fähigkeit, Sozialproteste zu unterbinden, erhöht die Überlebenswahrscheinlichkeit als Gouverneur. Es sind gerade die autokratischen Regime in den ärmeren ethnischen Gebietseinheiten und in der rückständigen Peripherie, die hohe Wählerzustimmung für Putin hervorbringen. Manche Gouverneure beneiden die Konfliktregionen im Nordkaukasus, weil ethnische Gewalt auch höhere Transferleistungen nach sich zieht.

Die Politik der Zentralisierung unter Präsident Putin gründet auf hoher Umverteilungsmacht; der Zentralismus stößt jedoch an seine Grenzen, wenn die Budgetmittel für die Subventionierung der Regionen abnehmen, die Regionen ihre mandatierten Aufgaben nicht finanzieren können, gleichzeitig aber die Möglichkeiten eigener Steuererhebung durch den Steuerzentralismus eingeschränkt sind. Seit 2008 verschulden sich die Regionen zunehmend; sie geraten in Abhängigkeit von föderalen Zuwendungen. Das gilt mittlerweile selbst für traditionelle Geberregionen wie Tatarstan. Die Hauptsorge der Zentralregierung scheint vor diesem Hintergrund auf sozialen Unfrieden gerichtet zu sein, denn seit 2012 sind in den Regionen zunehmend Proteste gegen steigende Preise bei kommunalen Dienstleistungen zu beobachten, in jüngerer Zeit vor allem in den Städten Barnaul (Region Altai), Murmansk, Nowosibirsk und Pensa. Auch im Nordkaukasus lässt sich die Rekrutierung von Jugendlichen für islamistische Gruppen auf hohe Arbeitslosigkeit, Verteilungskämpfe zwischen marginalisierten ethnischen Gruppen (etwa den Nogaiern und den Völkern Dagestans) und auf den Unmut über grassierende Korruption zurückführen.

Bisher verhindern ein voluntaristischer Politikstil und die Rückkehr zu Modellen sowjetischer Regionalplanung eine Modernisierung rückständiger Regionen. Es ist vor allem die Konzentration exekutiver Macht in einem bürokratischen Staat, die Innovation, die Mobilisierung von Wachstumskräften und die Inkorporation neuer sozialer Gruppen verhindert. Wenn ein Mehr an Pluralismus, innerregionalem Wettbewerb, an Konsultation mit Unternehmern und Offenheit gegenüber Investoren höheres Wachstum in leistungsstarken Regionen erklärt, dann wären gute Regierungsführung und Demokratisierung der Schlüssel zum Erfolg. Regionaladministrationen sehen sich indes unter dem permanenten Druck föderaler Kontrollorgane, und ehe sie etwas falsch machen könnten, unternehmen sie oft lieber nichts. Die letzten Jahre haben Sollbruchstellen im Föderalismus à la Putin deutlich gemacht: Modernisierungshemmnisse infolge exzessiver Kontrolle, durch mangelnde Kompetenzabgrenzung und aufgrund von Steuerzentralismus und Subventionsabhängigkeit. Je weniger der Zentralstaat umverteilen kann, umso größer wird indes der Druck auf die Regionalverwaltungen und umso prononcierter wird deren Ruf nach regionaler Handlungsautonomie zu hören sein.

Lesetipps

Gel’man, Vladimir: Regime Transition, Uncertainty and Prospects for Democratisation: The Politics of Russia’s Regions in a Comparative Perspective, in: Europe-Asia Studies, 51.1999, S. 939–956

Giannias, Dimitrios; Liargovas, Panagiotis; Chepurko, Yuri: Regional Disparities as Barriers to Transition to a Market Economy: The Russian Experience, in: The Journal of Developing Areas, 38.2005, Nr. 2, S. 55–70.

Gimpelson, Vladimir: Economic Reforms in Russia. Working Paper, Economic Reforms and Cooperation Partner Countries Conference, London. 1995.

Golosov, Grigorij V.: The Roots of Electoral Authoritarianism in Russia, in: Europe-Asia Studies, 63.2011, Nr. 4, S. 623–639.

International Crisis Group: The North Caucasus: The Challenges of Integration (I). Ethnicity and Conflict [= Europe Report No. 220], Brussels, 19. Oktober 2012.

Kemoklidze, Nino, Cerwyn Moore, Jeremy Smith, Galina Yemelianova: Many Faces of the Caucasus, in: Europe-Asia Studies, 64.2012, Nr. 9, S. 1611–1624.

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Silkin, Alexander, Andrei Ivanov, David Nyheim, Ekaterina Tatarinova (INCAS Consulting): Strategic Conflict Assessment North Caucasus, London, 2009.

Venard, Bertrand: Corruption: An Empirical Research in Russia, in: Journal of Business Ethics, 89.2009, S. 59–76.

Fussnoten

Dr. Andreas Heinemann-Grüder lehrt Politikwissenschaft an der Universität Bonn und ist Abteilungsleiter am Georg-Eckert-Institut in Braunschweig.