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Analyse: Exportoptionen für russisches Erdgas nach dem Scheitern von South Stream | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Exportoptionen für russisches Erdgas nach dem Scheitern von South Stream

Andres Heinrich

/ 9 Minuten zu lesen

Nach den wiederholten Gaskonflikten mit der Ukraine setzt Gazprom auch weiterhin auf Pipelineprojekte, die derzeitige Transitländer möglichst umgehen. Diese strategischen Überlegungen lassen aber wirtschaftliche, technische und rechtliche Aspekte solcher Projekte oft in den Hintergrund treten. Dies reduziert die Wahrscheinlichkeit, dass die Projekte je realisiert werden.

Bauarbeiten an der "Power of Siberia" Pipeline in der russischen Provinz Sacha (auch Jakutien). (© picture-alliance/dpa)

Einleitung

Während Gazproms Exporte seit 2007 in der Tendenz rückläufig sind (Interner Link: siehe Grafik 1), sind nur 4 % der heimischen Gaslieferungen für Gazprom wirklich profitabel. Daher muss Gazprom weiter sein Augenmerk auf Exporte richten, um Gewinne zu erzielen. Im Folgenden sollen Gazproms Exportoptionen zur Belieferung des EU-Marktes, die Bedeutung russischer Exporte nach Asien für die europäische Erdgasversorgung und die Auswirkungen von Gazproms Pipelineplänen für die Ukraine als Transitland untersucht werden.

Exportpläne

Außerhalb des Gebietes der ehemaligen Sowjetunion sind nach wie vor Europa und die Türkei die Hauptabsatzmärkte für russisches Erdgas. Die Belieferung dieser Märkte erfolgt derzeit über sieben zentrale Exportpipelines, die in Tabelle 1 auf S. 9 aufgeführt werden. Zusätzlich hat Gazprom in den letzten Jahren drei große Projekte zur Ausweitung der Exportkapazitäten nach Europa sowie zwei weitere in Richtung Asien diskutiert.

Die von Gazprom in den letzten Jahren angestoßenen europäischen Pipelineprojekte hatten und haben in erster Linie das Ziel, die Bedeutung der Ukraine als Transitland für russisches Erdgas zu verringern. Während zurzeit die Pipelines durch die Ukraine eine nominelle Kapazität von 183 Mrd. Kubikmetern pro Jahr haben, plant Gazprom die Kapazitäten der Pipelines, die die Ukraine umgehen, von derzeit 125 Mrd. Kubikmetern bis 2020 auf insgesamt 215 Mrd. Kubikmeter auszubauen. Damit würde Gazprom seine Exportkapazitäten nicht nur insgesamt deutlich ausweiten, sondern auch die Bedeutung der Ukraine als Transitland verringern. Gazprom selbst erklärte im Januar 2015 sogar, vollständig auf die ukrainischen Pipelines verzichten zu wollen.

Die neuen Pipelineprojekte – drei Unterwasserpipelines sowie zwei Überlandpipelines – sollen jegliche Transitländer umgehen. Sie werden im Folgenden kurz vorgestellt.

Blue Stream

Die Blue Stream-Pipeline von Russland durch das Schwarze Meer in die Türkei hat derzeit eine Kapazität von 16 Mrd. Kubikmetern, die aber zumeist nicht ausgeschöpft wird. Trotzdem versuchte Gazprom im Jahre 2010, die Türkei zum Bau einer zweiten Röhre zu bewegen, die die Kapazität auf 30 Mrd. Kubikmeter erhöht hätte. Die Türkei lehnte diesen Vorschlag jedoch ab. Im Jahr 2015 vereinbarten beide Parteien dann aber die Erhöhung der Kapazität von 16 auf 19 Mrd. Kubikmeter pro Jahr durch eine Modernisierung der Kompressorstationen.

Bisher wird die Türkei von Gazprom mit rund 16 Mrd. Kubikmetern durch die Blue Stream-Pipeline und mit rund 14 Mrd. Kubikmetern durch die "Trans-Balkan-Pipeline" über Rumänien und Bulgarien beliefert. Gazprom scheint gehofft zu haben, mit dem neuen Projekt "Turk Stream" die Ukraine weitgehend als Transitland ersetzen zu können. Im Januar 2015 gab Gazprom dementsprechend bekannt, dass das Unternehmen von 2019 an kein Gas für den europäischen Markt mehr durch die Ukraine transportieren wolle.

Turk Stream

Die Bedeutung der Türkei, nicht nur als Abnehmerland für russisches Erdgas, sondern auch als Transitland stieg, als der russische Präsident Wladimir Putin im Dezember 2014 während seines Besuchs in Ankara den Plan zum Bau einer weiteren Unterwasserpipeline in die Türkei vorschlug. Der Vorschlag kam kurz nachdem auf Druck der EU das South Stream-Pipelineprojekt aufgegeben worden war, das von Russland durch das Schwarze Meer über den Balkan Erdgas in die EU liefern sollte, aber aus Sicht der EU gegen verschiedene Wettbewerbsregeln verstieß.

Die Turk Stream-Pipeline (auch "Turkish Stream" genannt) sollte ursprünglich mit vier Röhren eine Gesamtkapazität von 63 Mrd. Kubikmetern pro Jahr haben, von denen 14 Mrd. Kubikmeter für den türkischen Markt bestimmt waren, während die restlichen 49 Mrd. Kubikmeter über Griechenland nach Europa exportiert werden sollten. Gaslieferungen durch die erste Röhre mit einer Kapazität von 15,75 Mrd. Kubikmetern sollten bereits Ende 2016 beginnen.

Diese Terminsetzung ist sehr optimistisch, da das Projekt teuer und technisch anspruchsvoll ist. Zusätzlich müssten die europäischen Abnehmer den Bau einer Pipelineinfrastruktur ab der türkisch-griechischen Grenze selbst übernehmen. Die bisherige Infrastruktur ist unzureichend. Auf Druck der USA haben allerdings Serbien und Mazedonien ihre Teilnahme an dem Projekt abgesagt; sie wollen zudem ihre Gasversorgung diversifizieren und kein zusätzliches russisches Gas importieren. Ihr Ausscheiden als Abnehmerländer macht das Projekt unwahrscheinlicher, zumindest aber unwirtschaftlicher. Unterstützung für die Pipeline kam bisher lediglich aus Griechenland und Ungarn.

Der Baubeginn hat sich wiederholt verzögert. Obwohl die erste Röhre von Turk Stream vor Ende 2016 fertiggestellt werden sollte, wurde der Ausbau des internen russischen Pipelinenetzes zur Belieferung der Turk Stream-Pipeline auf Eis gelegt. Zudem wurde im Juli 2015 auch der Vertrag mit der für die Turk Stream-Pipeline beauftragten italienischen Pipelinebaufirma "Saipem" überraschend durch Gazprom aufgelöst.

In der von Gazprom vorgelegten Umweltverträglichkeitsprüfung spricht das Unternehmen im Juli 2015 auch nur noch von zwei Röhren mit einer Kapazität von jeweils 15,75 Mrd. Kubikmetern. Aus Unternehmenskreisen wurde verlautbart, dass die erste Röhre von Turk Stream auf jeden Fall gebaut werde. Dies wohl mit dem Ziel, zumindest die Versorgung des türkischen Marktes komplett unabhängig von der Ukraine betreiben zu können und/oder nach dem Scheitern des South Stream-Projekts das Gesicht zu wahren.

Im Oktober 2015 erklärte Gazprom offiziell, dass es nur noch beabsichtige zwei Röhren mit einer Gesamtkapazität von 32 Mrd. Kubikmeter zu bauen. Der Energieexperte Michail Kortschemkin behauptet allerdings, dass die Turk Stream-Pipeline nur ein Bluff sei, um Druck auf die Ukraine auszuüben. Dafür würde sprechen, dass Gazprom die Verträge mit dem Pipelinebauer Saipem annulliert hat und auch das heimische Pipelinenetz in Südrussland nicht weiter ausbaut.

Nord Stream

Der Ausbau der Nord Stream Pipeline um weitere Röhren wurde zu einem Zeitpunkt vorgeschlagen, als der Bau der Turk Stream Pipeline nach den Parlamentswahlen in der Türkei an Fahrt verloren hatte. Entsprechende Pläne existieren seit der Inbetriebnahme 2011, sie wurden aber noch im Januar 2015 wegen der schwierigen politischen Situation (Ukraine-Krise) und der gesunkenen europäischen Nachfrage nach russischem Gas auf Eis gelegt.

Im Juni 2015 gab Gazprom allerdings bekannt, dass es plant, zwei weitere Röhren für Nord Stream bauen zu wollen. Das würde die bisherige Kapazität von Nord Stream von 55 auf 110 Mrd. Kubikmeter verdoppeln. Die Fertigstellung der beiden Röhren ist für 2019 geplant. Dies ist eine überraschende Entscheidung, nachdem frühere Versuche des Unternehmens für einen Ausbau der Pipeline erfolglos verliefen. Es stellen sich mit Blick auf EU-Regulierungen rechtliche Fragen sowie ökonomische hinsichtlich des europäischen Gasbedarfs: Kann und will die EU so viel russisches Gas abnehmen?

Zudem war Nord Stream 2013 mit 27 Mrd. Kubikmetern nur zur Hälfte ausgelastet, da die weiterführenden Pipelines OPAL ("Ostsee-Pipeline-Anbindungsleitung" mit einer Kapazität von 36 Mrd. Kubikmetern pro Jahr) und NEL ("Nordeuropäische Erdgasleitung" mit einer Kapazität von 20 Mrd. Kubikmetern pro Jahr) in Deutschland der EU-Regelung für den Zugang dritter Lieferanten zu Pipelines unterliegen. Demnach müssen 50 % der Kapazität für Wettbewerber zur Verfügung gestellt werden. Als NEL im November 2013 in Betrieb genommen wurde, verbesserte sich die Nord Stream-Auslastung 2014 auf 36 Mrd. Kubikmeter.

Aber selbst bei vollständigem Zugang zur OPAL-Pipeline würde deren Kapazität bei der jetzt geplanten Kapazitätsverdopplung von Nord Stream nicht ausreichen. Vielmehr müsste das europäische (deutsche) Pipelinenetz ausgebaut werden, um das zusätzliche russische Gas aufzunehmen. Die EU aber will die Ukraine als Transitland erhalten. Es darf deshalb bezweifelt werden, dass die EU ihre Zugangsbeschränkungen speziell für Gazprom aussetzt und die zusätzlichen Infrastrukturprojekte genehmigt.

"Power of Siberia"-Pipeline nach China

Parallel zur Arbeit an den Problemen mit dem europäischen Absatzmarkt begann Gazprom seine Pläne für Exportpipelines nach China zu forcieren. Am 21.5.2014 unterzeichneten Russland und China nach langen Verhandlungen einen Gasliefervertrag: Ab 2018–2020 sollen über eine Laufzeit von 30 Jahren 38 Mrd. Kubikmeter russischen Erdgases pro Jahr nach China geliefert werden. Der vereinbarte Gaspreis liegt unter dem Preis, den Gazprom in Europa erzielt. Beschlossen wurde auch der Bau einer neuen Pipeline ("Power of Siberia", russ.: "Sila Sibiri").

Die 3.000 Kilometer lange Pipeline soll bis 2020 die zwei Erdgasfelder in Ostsibirien mit der russisch-chinesischen Grenze sowie mit dem geplanten Flüssiggas-Terminal in Wladiwostok verbinden. Die komplette Fertigstellung soll 2022 erfolgen. Die ersten Gaslieferungen sollen 2018 beginnen. Die Kapazität soll zu Beginn bei 5 Mrd. Kubikmetern liegen und sukzessive auf 38 Mrd. Kubikmeter erweitert werden. Die ersten Arbeiten wurden Anfang Juni 2015 begonnen.

China bestand auf dieser ostsibirischen Route, da damit die hochindustrialisierte chinesische Küstenregion besser bedient werden kann; es sprach sich gegen die seit Jahren mit Gazprom diskutierte Altai-Route nach Nordwestchina aus. Bisher gingen rund 97 % der russischen Erdgasexporte in die Türkei und nach Europa. Zusammen mit drei Flüssiggas-Projekten, die auch auf den asiatischen Markt ausgerichtet wären, könnten sich Russlands Gasexporte in diese Region 2020–25 auf rund 85 Mrd. Kubikmeter belaufen oder rund 27 % aller Gasexporte. Dies würde für Gazprom eine Diversifizierung der Absatzmärkte bedeuten, auch bezüglich der Förderstätten, die für die neue Pipeline nach China in Ostsibirien liegen.

Trotz der Diversifizierung kann die ostsibirische Route nicht gegen den europäischen Markt ausgespielt werden, da auch die entsprechenden Fördergebiete vollständig getrennt sind. Westsibirisches Erdgas kann nicht nach Asien umgeleitet werden, da die benötigte Pipelineinfrastruktur fehlt. Die Frage wird nun sein, ob Gazprom die Finanzkraft besitzt, die Infrastruktur in Ostsibirien zu bauen.

Altai-Pipeline

Im Mai 2015 ist zusätzlich ein Abkommen über den Bau einer westlichen Gaspipeline nach China durch das Altaigebirge unterzeichnet worden, die 2020 ihren Betrieb aufnehmen soll. Die Altai-Pipeline soll eine Kapazität von 30 Mrd. Kubikmetern pro Jahr haben, die durch eine zweite und dritte Röhre bis auf 100 Mrd. Kubikmeter erhöht werden könnte.

Die Produktion des Bowanenkowo-Gasfeldes auf der Jamal-Halbinsel, auf dem seit 2012 gefördert wird, das aber aufgrund mangelnder Nachfrage in Europa nicht ausgelastet ist, ist für den Export durch die Altai-Pipeline vorgesehen. Damit würde eine wirkliche Diversifizierung des Absatzmarktes erreicht, weil Erdgas, das bisher nur auf dem europäischen Markt verkauft werden konnte, nun auch in China vermarktet werden könnte. Allerdings sind die Mengen, die dem europäischen Markt "entzogen" werden könnten, auf absehbare Zeit recht gering. Im Oktober 2015 fehlte außerdem noch ein letztverbindliches Abkommen für die Altai-Pipeline.

Schlussfolgerungen

Erdgasexporte nach Europa sind nach wie vor die Haupteinnahmequelle für Gazprom. Von daher bemüht sich das Unternehmen auch weiterhin, sich von Transitländern unabhängig zu machen. Die Pipelineprojekte des Unternehmens sind dabei von strategischen Überlegungen geprägt und vernachlässigen wirtschaftliche, technische und rechtliche Aspekte oftmals.

Der geplante Ausbau der Nord Stream-Pipeline macht einen gleichzeitigen Ausbau des deutschen Pipelinenetzes erforderlich, um das Gas zum Abnehmer zu bringen. Bereits jetzt können vorhandene Kapazitäten aufgrund von EU-Regelungen nicht voll genutzt werden. Aufgrund der fehlenden Pipelineinfrastruktur auf dem Balkan ist die Turk Stream-Pipeline für eine Versorgung des europäischen Marktes keine sehr realistische Lösung; eine Versorgung der Türkei allein durch Unterwasserpipelines erscheint möglich, ist aber teuer.

Zumindest aber üben beide Pipelineprojekte Druck auf die Ukraine aus und stärkt Gazproms Verhandlungsposition. Das Unternehmen scheint in Zukunft auf kurzfristige Transitverträge mit der Ukraine zu setzen, die mit Hilfe der EU ausgehandelt und von ihr "garantiert" werden. Zudem ist der Anteil der Ukraine am Gastransit bereits zurückgegangen; nur noch rund 50 % der russischen Erdgasexporte nach Europa und in die Türkei fließen durch das Land. 1995 waren es 95 %, 2005 immerhin noch 75 %. Ein völliges Ausscheiden der Ukraine als Transitland ist aber nicht abzusehen.

Die Überlandpipelines nach China sind weniger problembeladen, auch wenn Gazprom große Investitionen tätigen muss und auf dem chinesischen Markt nur geringere Gewinne machen kann. Die Diversifizierung nach China könnte nur dann eine Bedrohung für die Marktmacht Europas als Abnehmer darstellen, wenn sie über die Altai-Pipeline erfolgt, was in ferner Zukunft liegt. Die Power of Siberia-Pipeline hingegen stellt keine Bedrohung dar, da über sie keine Gasmengen vom europäischen Markt umgeleitet werden können.

Lesetipps

Fussnoten

Dr. Andreas Heinrich ist Experte für die Energiepolitik in der ehemaligen Sowjetunion und arbeitete bis August 2015 an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Er ist dort derzeit assoziierter Wissenschaftler im Rahmen des Forschungsprojektes "Auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Energiepolitik? Energiesicherheitsdebatten in Polen und Deutschland", das aus Mitteln der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung gefördert wird.