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Analyse: Russland und der EGMR: Mitgliedschaft mit eigenen Regeln | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Russland und der EGMR: Mitgliedschaft mit eigenen Regeln

Caroline von Gall

/ 11 Minuten zu lesen

Am 14. Juli 2015 hat das russische Verfassungsgericht entschieden, dass Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nur noch umgesetzt werden müssen, wenn das Verfassungsgericht geklärt hat, dass diese Urteile nicht gegen die Verfassung verstoßen. Die Entscheidung kommt in einem Moment, da Russland vom EGMR verpflichtet wird, 1.9 Milliarden Euro Entschädigung an die Jukos-Aktionäre zu zahlen.

Das Gebäude des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. (© picture-alliance)

Beitritt zu Europarat und Menschenrechtskonvention

Die russische Verfassung aus dem Jahr 1993 steht in vielen Punkten für eine radikale Wende in der nationalen Verfassungsentwicklung. Sie grenzt sich deutlich von den sowjetischen Vorgängerverfassungen ab. Die Verfassung erklärt Russland zum demokratischen Rechtsstaat, fordert ein pluralistisches Parteiensystem und erklärt in Art. 2 den Menschen, seine Rechte und Freiheiten zu den höchsten Werten. Neu ist aber auch die Bedeutung des Völkerrechts für das innerstaatliche Recht. Nicht nur im Verhältnis zu den sozialistischen Verfassungen, sondern auch im internationalen Vergleich gilt die heutige russische Verfassung als besonders völkerrechtsoffen. Zentral dafür ist Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung, der sagt, dass die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die völkerrechtlichen Verträge auch Bestandteil des innerstaatlichen russischen Rechtssystems sind, und dass völkerrechtliche Verträge Vorrang vor russischen Gesetzen haben. Insbesondere für den Grundrechtskatalog der russischen Verfassung wird der internationale Menschenrechtsschutz zum Referenzrahmen. Nach Art. 17 Abs. 1 werden die Grundrechte und -freiheiten "entsprechend den allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts" garantiert. Art. 55 Abs. 1 sagt, dass die Auflistung der Grundrechte in der Verfassung nicht als Schmälerung anderer allgemein anerkannter Menschenrechte verstanden werden darf. Rechtsvergleichend bedeutsam ist auch, dass Art. 46 Abs. 3 den Gang nach Straßburg zum Grundrecht macht, indem er jeden berechtigt, sich gemäß den völkerrechtlichen Verträgen an zwischenstaatliche Organe zum Schutz der Menschenrechte zu wenden, wenn alle innerstaatlichen Rechtsschutzmittel ausgeschöpft sind.

Diesem Geiste entsprang der Beitritt Russlands zum Europarat im Jahr 1996 und in der Folge zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK). Die EMRK ist einer der wenigen völkerrechtlichen Menschenrechtsverträge, über dessen Einhaltung ein Gerichtshof wacht. Mit der Individualbeschwerde zum EGMR kann der einzelne Bürger gegen seinen eigenen Staat vorgehen. Der EGMR hat seine Aufgabe in der Vergangenheit sehr aktiv wahrgenommen. Mit der Ratifizierung der EMRK im Jahr 1998 verpflichtete sich die Russische Föderation, nicht nur die Konvention und die ratifizierten Protokolle umzusetzen, sondern auch die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu befolgen.

Entscheidungen gegen Russland

Zeugten Verfassung und der EMRK-Beitritt von einem Neubeginn und einem "Heranrücken" an Europa, so blieb die Rechtswirklichkeit in Russland hinter den Forderungen der EMRK zurück. Innerhalb kürzester Zeit stieg die Zahl der Urteile, in denen eine Konventionsverletzung Russlands festgestellt wurde, rasant an. Bis zum Ende des Jahres 2014 waren es schon insgesamt 1.604 Entscheidungen gegen Russland, in 1.503 dieser Urteile wurden Verletzungen der Konvention festgestellt.

Mittlerweile überlagern die Straßburger Entscheidungen die russische Gesetzgebung und Rechtsanwendungspraxis in allen Bereichen. Von den 655 Verstößen gegen das Recht auf ein faires Verfahren betreffen die bekanntesten Entscheidungen die Verfahren gegen die Jukos-Gründer Michail Chodorkowskij und Platon Lebedew sowie die Enteignung der Jukos-Aktionäre. Nahezu alle bekannten Oppositionspolitiker siegten mit Beschwerden gegen das repressive Vorgehen des Kremls. Dies gilt für Kasparow, Nawalnyj und Jaschin sowie den ermordeten Oppositionspolitiker Boris Nemzow. Weniger bekannte Namen tragen die Fälle der zahlreichen Bürger, die beim Militär oder in Polizeigewahrsam einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt waren. In bestimmten Bereichen bearbeitet der EGMR Rügen mittlerweile nicht mehr als Einzelfälle, sondern fasst sie aufgrund von bereits zuvor festgestellten grundlegenden strukturellen Problemen in sogenannten Pilotverfahren zusammen. Dies betrifft die Nicht-Vollstreckung von Urteilen und den Zustand in den Untersuchungsgefängnissen.

Kritik an der im Vergleich zu den meisten anderen Mitgliedstaaten hohen Anzahl von Beschwerden aus Russland wird mit Argumenten hinsichtlich Transformationsschwierigkeiten, aber auch der Größe des Landes und der Einwohnerzahl begegnet. Die besonders prekäre Menschenrechtssituation zeigt sich aber insbesondere daran, dass Russland dasjenige Land ist, in dem mit Abstand am häufigsten das Recht auf Leben verletzt wurde. Die Statistiken des EGMR zählen bis zum Ende des vergangenen Jahres 244 Fälle (darauf folgen die Türkei mit 122 Verletzungen und Bulgarien mit 15 Verletzungen). Viele der hierzu entschiedenen Beschwerden betreffen Militäraktionen in Tschetschenien.

Mit den Menschenrechten als Vehikel kommen aber indirekt auch zahlreiche außenpolitische Konflikte vor die Straßburger Richter. Sowohl Georgien als auch die Ukraine haben in verschiedenen Fällen wegen russischer Menschenrechtsverstöße in den Ländern Staatenbeschwerde erhoben. So wird sich der EGMR demnächst dazu äußern müssen, ob die Handlungen der sogenannten Separatisten in der Ostukraine Russland zuzurechnen sind.

Russische Reaktionen

Die Entscheidungen des EGMR haben in den letzten Jahren punktuell zu Rechtsprechungsänderungen geführt; eine grundsätzliche Bereitschaft, die Ziele der EMRK umzusetzen, ist indes nicht zu erkennen. Es ist nicht gelungen, die Richter so auszubilden, dass sie die Rechtsprechung des EGMR kennen und in ihren Urteilen beachten können. Vor allem aber fehlen signifikante Reformen zur Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz, zur Stärkung der Rechte des Angeklagten im Strafprozess, eine Reform des Strafvollzugs sowie eine Aufarbeitung der Militäreinsätze in Tschetschenien. Zuletzt hat die Parlamentarische Versammlung des Europarats im Jahr 2012 die Probleme detailliert in einem Bericht zusammengefasst (Externer Link: http://assembly.coe.int/nw/xml/XRef/X2H-Xref-ViewPDF.asp?FileID=18998&lang=en).

Das Verfassungsgericht zwischen Allianz und Konkurrenz zum EGMR

Im Vergleich zu den anderen Verfassungsorganen war das Verfassungsgericht bisher ein Verteidiger der EMRK in Russland. Es hat in ständiger Rechtsprechung betont, dass nicht nur die EMRK, sondern auch die Rechtsprechung des EGMR als integraler Bestandteil des russischen Rechts anzusehen und bei der Rechtssetzung und -anwendung von den russischen Gerichten beachtet werden müssen.

Darüber hinaus hat das Verfassungsgericht 2010 sogar ein Recht zur Wiederaufnahme eines in Russland rechtskräftig entschiedenen Verfahrens anerkannt, wenn in der Sache eine Entscheidung des EGMR erging, die eine Konventionswidrigkeit festgestellt hat. Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes erfordere es, dass eine endgültige, bindende Entscheidung des EGMR im betroffenen Land auch ausgeführt werde. Daher sei eine Wiederaufnahme unumgänglich: "Alles andere würde eine Beschränkung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz bedeuten" so das russische Verfassungsgericht damals.

Als völkerrechtsfreundlicher Akteur in der russischen Politik erwies sich das Verfassungsgericht auch in den Entscheidungen zur Todesstrafe. Obwohl die russische Verfassung die Entscheidung über die Abschaffung der Todesstrafe ausdrücklich dem Gesetzgeber überlässt, erachtet das Verfassungsgericht die Ausführung der Todesstrafe als völker- und verfassungsrechtswidrig. Damit positionierte sich das Gericht deutlich gegenüber der Duma.

Allerdings hatte das Verfassungsgericht bisher immer offen gelassen, ob es sich selbst an die Rechtsprechung des EGMR gebunden sah, bzw. was für die russischen Gerichte gelte, wenn EGMR und russisches Verfassungsgericht in einer Sache unterschiedlicher Ansicht sind.

Die Entscheidung vom 14. Juli 2015

Dieser Fall trat im Jahr 2010 ein. Kläger war Konstantin Markin, ein Soldat der russischen Armee und alleinerziehender Vater von drei Kindern, dem der Anspruch auf Erziehungsurlaub verweigert wurde. Der Anspruch stand nach dem russischen Gesetz nur Frauen zu. Das russische Verfassungsgericht hatte dies bestätigt und seine Beschwerde abgewiesen. Die Sicherheit des Landes lasse für Männer in der Armee Erziehungsurlaub nicht zu. Frauen seien in der Armee zahlenmäßig schwächer vertreten und ihre Beurlaubung daher einfacher zu organisieren. Außerdem habe die Frau als Mutter in der russischen Gesellschaft eine besondere Rolle und verdiene daher besonderen Schutz durch die Verfassung. Der EGMR hielt diese Argumentation für nicht überzeugend. Er sah in der Entscheidung des russischen Verfassungsgerichts eine Diskriminierung des Soldaten. In dem Urteil kritisierte der EGMR die Entscheidung des russischen Verfassungsgerichts besonders heftig: Die Argumentation des Verfassungsgerichts, dass der Erziehungsurlaub von Soldaten die nationale Sicherheit gefährde, beruhe auf einer bloßen Annahme, die nicht belegt werde. Die Interessen des Vaters und das Diskriminierungsverbot würden nicht gewürdigt. Besonders kritisiert wird die Ausführung des Verfassungsgerichts, dem Soldat bliebe ja die freie Entscheidung, zu kündigen (siehe hierzu auch Interner Link: Lisa McIntosh Sundstrom, Valerie Sperling: Sind Frauenrechte Menschenrechte? Genderdiskriminierungsfälle in Russland und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, in: Russlandanalysen, 2015, Nr. 302, S. 6–11).

Für die russische Verfassungslehre war diese Entscheidung ohne Zweifel eine Herausforderung. Es galt die Kollision zwischen EGMR und Verfassungsgericht aufzulösen. Auftakt für die anschließende Debatte über die Umsetzung der EGMR-Rechtsprechung bildet der berühmte Artikel von Verfassungsgerichtspräsident Walerij Sorkin "Predel ustuptschiwosti" ("Grenzen der Nachgiebigkeit") in der "Rossijskaja gaseta" vom 29. Oktober 2010. Sorkin beschreibt die Entscheidung des EGMR als Wendepunkt im Verhältnis von Verfassungsgericht und dem Gerichtshof in Straßburg. Offensichtlich fühlte sich Sorkin vom EGMR persönlich angegriffen. In der Forderung des EGMR, die russische Gesetzgebung zu ändern, sieht Sorkin eine Kompetenzüberschreitung. Wenn eine Entscheidung des EGMR im Hinblick auf das Wesen der EMRK fragwürdig sei und die nationale Souveränität sowie grundlegende Verfassungsprinzipien betreffe, habe Russland das Recht, einen "Verteidigungsmechanismus" gegen solche Entscheidungen zu entwickeln. Der EGMR dürfe die historischen, kulturellen und sozialen Besonderheiten in den Mitgliedstaaten nicht unberücksichtigt lassen.

Mit der Entscheidung vom 14. Juli 2015 (Externer Link: http://doc.ksrf.ru/decision/KSRFDecision201896.pdf) ist das russische Verfassungsgericht dem nachgekommen. Es verweist auf Art. 15 der Verfassung, dem zufolge die Verfassung Vorrang vor allen anderen Normen und damit auch vor dem Völkerrecht hat. Insofern müsse das Verfassungsgericht vor der Umsetzung von EGMR-Urteilen in Russland entscheiden, ob diese mit der Verfassung vereinbar seien. Damit nimmt das Verfassungsgericht das letzte Wort an sich. Mit dem bloßen Verweis auf Art. 15 umgeht es aber die eigentliche Rechtsfrage: Denn wenn auch die Verfassung – dem Wortlaut der Verfassung selbst zufolge – unzweifelhaft Vorrang genießt, bleibt Russland völkerrechtlich an die EMRK gebunden und zur Umsetzung der Urteile verpflichtet. Es wäre eher darum gegangen, einen Mechanismus zu finden, der beide Pflichten in einen Einklang bringen kann. Das deutsche Verfassungsgericht löst dies, indem es am Vorrang der Verfassung festhält, gleichzeitig aber fordert, dass bei der Auslegung des Grundgesetzes die Rechtsprechung des EGMR beachtet werden muss. Das russische Verfassungsgericht öffnet hier indes viel zu weit eine Hintertür, die ins Leere führt, da die völkerrechtliche Verpflichtung bestehen bleibt. Weiterhin revidiert das russische Gericht in großen Teilen seine völkerrechtsfreundliche Rechtsprechung. Es fragt sich, was von dem vom Verfassungsgericht angenommenen Recht auf Wiederaufnahme bleibt, wenn ein Verfahren in Russland nach einem Sieg des Klägers in Straßburg wieder aufgenommen werden muss, das Verfassungsgericht dann aber anders entscheiden dürfte. Darauf, sowie auf die völkerrechtsfreundlichen Normen der Verfassung geht das Verfassungsgericht nicht hinreichend ein. So führt die Entscheidung zu einer größeren Rechtsunsicherheit. Dies gilt auch im Hinblick auf die Pflicht, Urteile anderer internationaler Gerichte wie des Gerichtshofs der Eurasischen Wirtschaftsunion zu befolgen. Folgt man den Argumenten der Entscheidung, bedürften auch dessen Urteile vor der Umsetzung einer Überprüfung durch das Verfassungsgericht Russlands.

Dabei ist der Zeitpunkt der Entscheidung bemerkenswert: Das Gericht hätte schon früher die Gelegenheit gehabt, diese Frage zu entscheiden. In ähnlichen Verfahren hatte es sich allerdings um eine Aussage gedrückt. So muss man darauf schließen, dass das Verfassungsgericht gerade jetzt ein Signal setzen will.

Die Entscheidung kommt zu einem Zeitpunkt, da Russland sich mit Forderungen der ehemaligen Jukos-Aktionäre auseinandersetzen muss, denen der EGMR 1,9 Milliarden Euro Entschädigung wegen eines Verstoßes gegen das Recht auf ein faires Verfahrens zugesprochen hat. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts legitimiert die Nicht-Umsetzung von EGMR-Entscheidungen und die Kritik an Straßburg. Die politische Elite wird in ihrem gegenwärtigen anti-westlichen Kurs bestätigt.

Sie ist aber auch ein Signal an die russischen Menschenrechtsverteidiger, indem sie eine wichtige Argumentationsgrundlage schwächt. Nun ist es nicht mehr so einfach, sich vor russischen Gerichten auf das Völkerrecht zu berufen.

Auch Straßburg wird mit der Entscheidung brüskiert. Bisher wurde die Kritik am EGMR allein von Verfassungsgerichtspräsident Sorkin vorgetragen, das Verfassungsgericht selbst hatte sich nicht gegen den europäischen Gerichtshof gestellt. Zuletzt hatte Sorkins antiwestliche Rhetorik im März dieses Jahres einen neuen Höhepunkt erreicht, auch wenn der EGMR hier nicht direkt angegriffen wurde. Nach dem Urteil vom 14. Juli zeigte sich Sorkin auf den ersten Blick wieder versöhnlich: In einem Aufsatz in der Rossijskaja Gasata vom 21. Oktober 2015 (http://www.rg.ru/2015/10/21/zor kin.html) betonte er die Gemeinsamkeiten zwischen EMRK und russischer Verfassung und die Notwendigkeit, an der EMRK festzuhalten. Doch gleichzeitig verleiht er dem Konflikt zwischen Verfassungsgericht und EGMR eine geopolitische Dimension: Es sieht die Gefahr eines neuen Kalten Krieges und warnt, dass der EGMR in diesem Konflikt zum Schaden Russlands instrumentalisiert werde.

In der Entscheidung vom 14. Juli offenbart das russische Verfassungsgericht ein Völkerrechtsverständnis aus der Zeit der Politik der friedlichen Koexistenz. Es betont die Bedeutung von Souveränität, souveräner Gleichheit und der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten. Doch mit der Bindung an den völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz haben sich diese alten völkerrechtlichen Prinzipien verschoben. Mit der Verpflichtung, die Menschenrechte zu schützen, werden ehemals innere Angelegenheiten wie beispielsweise das Verhältnis Bürger – Staat zum Gegenstand der Beziehung der Staaten untereinander. Mit der Bindung an die Entscheidungen des EGMR geben die Staaten einen Teil ihrer Souveränität ab. Kommt der EGMR zu dem Ergebnis, dass ein nationales Gesetz gegen die EMRK verstößt, besteht völkerrechtlich die Pflicht, dieses Gesetz zu ändern. Der nationale Gesetzgeber ist somit eingeschränkt.

Diese Einsicht ist freilich für viele Mitgliedsstaaten ein Problem. Das russische Verfassungsgericht verweist auf ähnliche Sichtweisen bei den Gerichten in Großbritannien, Italien und Deutschland. Im Falle Russlands muss allerdings ergänzt werden, dass Russland zudem die Grundwerte der EMRK nicht teilt. Bis heute gibt es in Russland keine unabhängige Justiz, die einen Schutz der Freiheiten des Einzelnen auch in Opposition zum Staat ermöglichen würde. Auch die demokratische Entwicklung, die Anerkennung von gesellschaftlichem Pluralismus, die der EGMR als Voraussetzung von Freiheitsentfaltung nach der EMRK betrachtet, ist in Russland deutlich schwächer als in den oben genannten, vom Verfassungsgericht vergleichend herangezogenen Staaten. Für russische Menschenrechtler muss daher die These des russischen Verfassungsgerichts, der Verfassung verpflichtet zu sein, die Verfassung vor der Rechtsprechung des EGMR zu schützen, als purer Zynismus erscheinen.

Ausblick

Die Mitgliedschaft der Russischen Föderation in der EMRK war bisher keine Erfolgsgeschichte. Hoffnungen, dass der Beitritt zur EMRK die Transformation fördern würde, haben sich nicht verwirklicht. Es fehlt am politischen Willen, die Ziele der EMRK erfolgreich umzusetzen. Insofern bringt auch die aktuelle Entscheidung kaum Neues. Sie beendet lediglich die völkerrechtsfreundliche Rechtsprechungslinie des Verfassungsgerichts. Ob das Verfassungsgericht in der Zukunft von seinem neuen Recht, dem EGMR zu widersprechen, Gebrauch machen wird, ist völlig offen.

In der aus der Menschenrechtsperspektive unbefriedigenden Situation einer EMRK-Mitgliedschaft ohne eindeutigen Umsetzungswillen bleibt immerhin die Möglichkeit, dass die Urteile des EGMR die Menschenrechtssituation in Russland jedenfalls langfristig beeinflussen. Sie geben den Opfern nicht nur Genugtuung und eine Entschädigung, sie bieten auch eine Grundlage für Debatten über die russische Menschenrechtssituation und liefern trotz der neuen Einschränkung eine wichtige Argumentationsgrundlage für russische Menschenrechtsverteidiger.

Lesetipps

  • Nußberger, Angelika: The Reception Process in Russia and Ukraine, in: Helen Keller, Alec Stone Sweet (ed.): A Europe of Rights .The Impact of the ECHR on National Legal Systems, Oxford University Press 2008, S. 603–674.

  • von Gall, Caroline: Russland und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – Wer hat das letzte Wort? in: Osteuropa Recht, 2012, Nr. 1, S. 40–54.

  • von Gall, Caroline: Vaterland oder Familie? Unterschiedliche Rechtspositionen in Straßburg und Russland. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Konstantin Markin ./. Russland vom 7.10.2010, Az. 30078/06, in: Osteuropa-Recht, 2010, Nr. 4, S. 457–461.

  • Externer Link: www.echr.coe.int

    (Homepage des EGMR, u. a. die Datenbank aller EGMR-Urteile HUDOC)

Fussnoten

Caroline von Gall ist Juniorprofessorin am Institut für osteuropäisches Recht und Rechtsvergleichung der Universität zu Köln.