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Analyse: Importierte Rechtssicherheit | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Importierte Rechtssicherheit Ursachen und Perspektiven der Nutzung ausländischen Rechts in Russland

Janis Kluge

/ 11 Minuten zu lesen

Russische Unternehmen nutzen zur Absicherung ihrer Geschäfte untereinander in großem Stil ausländisches Recht und Gerichte, wie Statistiken von Handels- und Schiedsgerichten und Umfragen unter russischen Firmen zeigen. Zurückzuführen ist dies auf die unzureichende Entwicklung des Wirtschaftsrecht und das fehlende Vertrauen in die russischen Wirtschaftsgerichte.

Der inzwischen verstorbene Boris Beresowskij (im Bild) verklagte seinen Landsmann Roman Abramowitsch mit dem Ziel, einen Milliardenanspruch aus der zehn Jahre zurückliegenden Fusion des Aluminiumkonzerns RusAl geltend zu machen. (© picture-alliance)

Russische Unternehmer vor ausländischen Gerichten

Das Handelsgericht im modernen "Rolls Building" in London war schon kurz, nachdem es im Dezember 2011 von Königen Elisabeth II. eröffnet wurde, die Bühne eines aufsehenerregenden Gerichtsprozesses zweier russischer Großunternehmer. Der inzwischen verstorbene Boris Beresowskij verklagte seinen Landsmann Roman Abramowitsch mit dem Ziel, einen Milliardenanspruch aus der zehn Jahre zurückliegenden Fusion des Aluminiumkonzerns RusAl geltend zu machen. Über das Verfahren der beiden exzentrischen Oligarchen wurde ausführlich berichtet, dabei sind Prozesse mit russischer Beteiligung in England keine Seltenheit. In den vergangenen fünf Jahren standen jährlich 25–30 russische Kläger und Angeklagte vor dem Londoner Handelsgericht. Nur Engländer und US-Amerikaner waren hier häufiger anzutreffen.

Auch die Statistiken in den wichtigen internationalen Schiedsgerichten zeugen von einer intensiven Nutzung durch russische Unternehmen. Im Schiedsgericht der Stockholmer Handelskammer stellt Russland stets die größte Fraktion unter den nicht-schwedischen Prozessteilnehmern. Auch in der Statistik anderer europäischer Schiedsgerichte, wie dem "London Court of International Arbitration" (LCIA) und dem Schiedsgericht der Internationalen Handelskammer in Paris, landet Russland jedes Jahr auf den vorderen Plätzen.

Diese Zahlen sind ein Hinweis auf die Rolle, die ausländisches Recht und ausländische Gerichte für die russische Wirtschaft spielen. Zwar ist die Zunahme internationaler Gerichts- und Schiedsverfahren ein allgemeiner Trend, der mit der Vertiefung der wirtschaftlichen Integration einhergeht. Allerdings erklärt diese Entwicklung die Zahlen zu Verfahren mit russischer Beteiligung nicht vollständig. Die Nutzung ausländischer Gerichte durch russische Unternehmen steht in keinem Verhältnis zum Umfang Russlands außenwirtschaftlicher Beziehungen.

Aufschluss ergab eine Befragung, die 2012 von der Moskauer Anwaltskanzlei "Egorov Puginsky Afanasiev & Partners" unter mehreren hundert Kanzleikunden durchgeführt wurde. Dabei gab über die Hälfte der befragten Firmen an, das russische Recht für weniger als 10 % ihrer Verträge zu nutzen. Diese Zahl ist besonders erstaunlich, wenn man die Motive für die Nutzung ausländischen Rechts berücksichtigt: Nur 14 % der Unternehmen nannten ausländische Vertragspartner als Grund. Russische Unternehmen bevorzugen ausländisches Recht also auch dann, wenn es sich um innerrussische Geschäfte handelt.

Was spricht gegen russisches Recht?

Das wichtigste Motiv, einen Vertrag ausländischem Recht zu unterstellen, sind die Mängel des russischen Rechtssystems. Das zeigen die Ergebnisse der Befragung: Einerseits stören die Unternehmen formale Beschränkungen durch russische Gesetze (67 %), andererseits versuchen sie, den russischen Wirtschaftsgerichten aus dem Weg zu gehen (62 %). Dabei geht es um sehr verschiedene Rechtsgeschäfte wie etwa Lieferverträge, Immobiliengeschäfte, Firmenübernahmen oder Lizenzvereinbarungen.

Tatsächlich ist das russische Recht bis vor kurzem im Hinblick auf viele Geschäfte sehr unflexibel gewesen. Besonders reformbedürftig waren das Gesellschaftsrecht und das Vertragsrecht, mit denen Unternehmen ihre Geschäftsbeziehungen und ihre Struktur juristisch fixieren. Das russische Recht kannte lange Zeit viele der moderneren Rechtsinstitute nicht, wie etwa Bedingungen, Garantien oder auch Gesellschaftervereinbarungen.

Auch Zusicherungen waren nicht geregelt: Wollte eine Firma z. B. ein anderes Unternehmen kaufen, konnte sie nicht alle Angaben des Verkäufers im Vorhinein prüfen. So kann sich nach einigen Monaten herausstellen, dass das gekaufte Unternehmen bestimmte Technologien einsetzt, ohne die dafür benötigten Lizenzen erworben zu haben. Über eine Zusicherung im Kaufvertrag kann der Verkäufer hierfür im Vorhinein die Haftung übernehmen. Dies war bis vor kurzem nach russischem Recht nicht möglich. Das Fehlen dieser Rechtsmechanismen erschwerte es, Geschäfte im Vorfeld abzusichern und schränkte die Ausgestaltung von Übernahmen, Fusionen und Joint Ventures deutlich ein. Inzwischen sind viele dieser Institute eingeführt worden, allerdings mangelt es bislang an Erfahrungswerten aus der Praxis russischer Gerichte.

Der Wunsch, im Konfliktfall nicht vor ein russisches Wirtschaftsgericht (Arbitrashnyj sud), sondern möglichst vor ein Gericht im europäischen Ausland zu ziehen, hat mehrere Ursachen. Zwar werden die russischen Wirtschaftsgerichte für kleinere und einfachere Verträge viel genutzt. Allerdings gelten Unerfahrenheit von Richtern, politische Beeinflussbarkeit und Korruption als Risikofaktoren, die man bei komplizierten Transaktionen mit hohem Streitwert besser vermeidet. Die bekanntesten Beispiele beeinflusster Gerichtsentscheidungen stammen aus der Abwicklung von Chodorkowskijs Yukos-Konzern. Neben der Beeinflussbarkeit ist die Neigung zum Formalismus in russischen Wirtschaftsgerichte ein zusätzlicher Unsicherheitsfaktor: Verträge werden häufig für ungültig erklärt, wenn sie nicht exakt in den strikten Rahmen des russischen Rechts passen.

Verträge nach ausländischem Recht in der Praxis

Grundsätzlich hindert niemand zwei russische Unternehmen daran, untereinander einen Vertrag nach ausländischem Recht zu schließen, in dem für den Konfliktfall ein Gerichtsstand im Ausland gewählt wird. Die wichtigste Alternative zum russischen Recht ist dabei das englische Recht. Dieses ist in der internationalen Geschäftswelt wegen seiner Anpassungsfähigkeit sehr beliebt. Die Wahl des Rechts steht aber auch im Zusammenhang mit dem Gericht, vor dem ein etwaiger Konflikt geschlichtet werden soll. Dabei muss bedacht werden, wie letztlich die Durchsetzung des Gerichtsurteils funktionieren soll.

Eine beliebte Möglichkeit, ein Verfahren in Russland zu vermeiden, ist die Aufnahme einer Schiedsklausel in den Vertrag. In dieser Klausel werden ein Schiedsgericht sowie die genauen Regeln des Schiedsverfahrens bestimmt. Kommt es nun zum Konflikt, kann, bzw. muss dieses Schiedsgericht vor dem Gang zu einem staatlichen Gericht angerufen werden. Die Mindestgebühr am Schiedsgericht der Stockholmer Handelskammer beträgt etwa 7.500 Euro. In der Regel wird es aber deutlich teurer: So gibt das Londoner Schiedsgericht LCIA an, dass die durchschnittlichen Gebühren etwa 190.000 US-Dollar betragen. Dennoch liegt der Streitwert am LCIA in den meisten Fällen unter 5 Mio. US-Dollar.

Die Entscheidungen von Schiedsgerichten sind bindend. Die Urteile lassen sich in einer sehr großen Zahl von Ländern durchsetzen: 156 Staaten (darunter auch Russland) haben sich im "New Yorker Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche" grundsätzlich zu einer Umsetzung von Urteilen verpflichtet. Jedoch läuft die Vollstreckung nicht automatisch ab, sondern wird zuerst von einem staatlichen Wirtschaftsgericht des jeweiligen Landes geprüft. Dieses berücksichtigt auch den ursprünglichen Vertrag in seiner Entscheidung. Für die Durchsetzung in Russland muss dieser Vertrag also vor einem russischen Wirtschaftsgericht Bestand haben. Verträge nach ausländischem Recht sind in Russland nur bei Geschäften mit einem "ausländischen Element", z. B. einem ausländischem Geschäftspartner erlaubt (mehr zur Umgehung dieser Bedingung weiter unten). Wer als russischer Unternehmer den Risiken der heimischen Gerichte vollständig entgehen will, muss also einen Weg zur Durchsetzung im Ausland finden.

Wurde keine wirksame Schiedsklausel vereinbart, bleibt bei einem Konflikt noch die Möglichkeit, vor einem staatlichen Gericht im Ausland zu klagen. Das Londoner Handelsgericht spielt hier eine zentrale Rolle, weil es seine Jurisdiktion im internationalen Vergleich sehr großzügig interpretiert. Voraussetzung für die Eröffnung eines Verfahrens ist die Zustellung der Klageschrift. Dies kann persönlich innerhalb Englands (wie im Fall Beresowskij vs. Abramowitsch) oder über einen gesonderten Antrag auch im Ausland geschehen. Voraussetzung für die Zustellung im Ausland ist, dass das Londoner Gericht eine Verbindung des Falls zu England sieht. Dies kann eine Gerichtsstand-Klausel in dem Vertrag sein, auf den sich die Klage stützt. So klagte die "Russian Commercial Bank", eine zypriotische Tochter der russischen Staatsbank VTB, im Jahr 2009 in London gegen den russischen Unternehmer Fjodor Choroschilow auf Rückzahlung von Krediten, die für die Exploration von Öl-Lizenzen vergeben wurden. Grundlage waren hier Kreditverträge zwischen Choroschilow und der VTB-Tochter, in denen englisches Recht und England als Gerichtsstand festgelegt waren.

Zuweilen genügt es aber auch, wenn die Verbindung zu England eher indirekt ist. Im Prozess des nach Israel emigrierten Oligarchen Michael Cherney gegen Oleg Deripaska entschied sich das englische Gericht nach einer sehr ausführlichen Abwägung für die Zustellung der Klage im Ausland, obwohl die einzige tatsächlich belegte Verbindung zu England war, dass die umstrittene Vereinbarung in einem Londoner Hotel getroffen wurde. Im Fall Cherney vs. Deripaska war für das Gericht Ausschlag gebend, dass Cherney aufgrund der politischen Beziehungen Deripaskas in Russland kein faires Verfahren bekommen würde, ja sogar um Leib und Leben fürchten musste. Grundlage dieser Überzeugung waren wenig schmeichelhafte Gutachten verschiedener Wissenschaftler über das russische Rechtssystem. Der Konflikt mit einem Streitwert von über 1 Mrd. Euro endete schließlich in einer außergerichtlichen Einigung Cherneys mit Deripaska.

Doch nicht nur der weite Interpretationsspielraum bei der Zuständigkeit macht das englische Handelsgericht interessant. Seine Urteile lassen sich außerdem problemlos und quasi automatisch in allen Ländern der EU sowie allen für die russische Wirtschaft wichtigen Offshore-Staaten durchsetzen. Außerdem stehen dem Gericht umfassende Möglichkeiten des vorläufigen Rechtsschutzes zur Verfügung, wie etwa das weltweite Einfrieren von Eigentum ("worldwide freezing order"). Allerdings ist die Durchsetzung der Urteile in Russland nicht möglich, da zwischen England und Russland kein Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Gerichtsurteilen besteht. Deripaska musste den Prozess in London aber aufgrund seiner Investitionen außerhalb Russlands ernst nehmen. Sobald ein russischer Staatsbürger im weiten Zugriffsbereich des englischen Handelsgerichts über Eigentum verfügt, kann er die Urteile dieses Gerichts nicht ignorieren. Erreicht ein russischer Kläger gegen einen im Ausland exponierten Landsmann die Eröffnung eines Verfahrens in London, genießt er damit vollumfänglich die Vorzüge der englischen Rechtssicherheit.

Folgen der Jurisdiktions-Flucht

Eine sichtbare Folge der Vermeidung der russischen Jurisdiktion ist die tiefgehende Verzahnung der russischen Ökonomie mit Offshore-Standorten im Ausland. Hier sprechen die Direktinvestitions-Statistiken der russischen Zentralbank eine deutliche Sprache: Unter den zehn wichtigsten Quellen von Direktinvestitionen liegt in mindestens sechs Fällen der Verdacht nahe, dass ein maßgeblicher Teil des Kapitals ursprünglich aus Russland kommt. Besonders offensichtlich ist dies im Fall der Republik Zypern: Mitte 2015 stammten mehr als ein Drittel der Direktinvestitionen in Russland aus Zypern (104 Mrd. US-Dollar von insgesamt 303 Mrd. US-Dollar, siehe auch Abbildung unten), während gleichzeitig ein knappes Drittel der russischen Direktinvestitionen im Ausland in Zypern lagen (114 Mrd. von insgesamt 385 Mrd. US-Dollar).

Zwar hat die Bedeutung der Offshores in Russland vielschichtige Ursachen, doch lassen sich einige Zusammenhänge zwischen den Nachteilen des russischen Rechts und der Popularität von Offshores aufzeigen: Viele zypriotische Holdings werden gegründet, um Gesellschaftsformen oder Transaktionen zu realisieren, die nach russischem Recht aus formellen Gründen nicht möglich sind. Außerdem werden Offshore-Holdings von russischen Geschäftspartnern eingesetzt, um die Bedingung des "ausländischen Elements" zu erfüllen und einen Vertrag nach ausländischem Recht in Russland abschließen zu können. Nicht zuletzt fungieren Offshore-Gesellschaften auch als eine Art Faustpfand: Wer sein Eigentum in den Zugriffsbereich der ausländischen Gerichte bringt, ist als Geschäftspartner vertrauenswürdiger. Dagegen ist die Steueroptimierung nur ein sekundäres Motiv.

Die Bedeutung des englischen Rechts hat auch auf dem Markt der russischen Rechtsanwälte deutliche Spuren hinterlassen. Für die lukrative Rechtsberatung bei Fusionen und Übernahmen werden in Russland fast immer ausländische Kanzleien beauftragt. Im renommierten Kanzleien-Ranking von "Chambers and Partners" finden sich für den russischen Markt in dieser Sparte kaum russische Anwaltsfirmen. Wenn die russischen Unternehmen dann im Ausland prozessieren, entgehen den russischen Anwälten zusätzliche Milliardenbeträge: Allein für die Vertretung Abramowitschs im Rechtsstreit mit Beresowskij sollen mehr als 100 Mio. Pfund an Londoner Anwälte geflossen sein. Gleichzeitig ist ein englischer Master of Laws (LL.M.) für die Karriere von russischen Wirtschaftsanwälten unverzichtbar geworden.

Schließlich ist die Möglichkeit der ausländischen Rechtssicherung aufgrund der großen Fixkosten bei Beratung und Prozessen vor allem ein Privileg größerer Firmen. Kleinere Unternehmen müssen mit der Justiz in Russland Vorlieb nehmen, was die Konkurrenz mit den Konzernen erschwert.

Reaktion der Politik

Die russische Politik sieht die Verwendung des ausländischen Rechts und vor allem den damit verbundenen Einsatz von Offshore-Holdings aus verschiedenen Gründen kritisch. Sind die Offshore-Gesellschaften einmal etabliert, liegt auch die Verlagerung von Gewinnen ins Ausland nahe, wodurch dem russischen Staat Steuern entgehen. Gleichzeitig hat die russische Regierung keine direkte Möglichkeit, die Geschäfte der Russen im Ausland zu regulieren. Zuletzt wird es als Zeichen geopolitischer Schwäche wahrgenommen, wenn Gerichte in Europa über Wohl und Wehe der Kronjuwelen der russischen Industrie entscheiden. Vor allem in Zeiten von Wirtschaftssanktionen gilt die dominierende Rolle des ausländischen Rechts als außenpolitische Verwundbarkeit.

Die Verflechtung der russischen Wirtschaft mit Offshore-Standorten hat Putin am 13. Dezember 2012 in seiner Rede an die Föderalversammlung zum ersten Mal ausführlich als "Jurisdiktions-Flucht" problematisiert und gleichzeitig Maßnahmen gefordert, um "unpatriotische" Unternehmer zur Rückkehr zu bewegen (die Politik der De-Ofschorisazija). Putin sprach an dieser Stelle von "neun von zehn Geschäften", die von russischen Unternehmen nach ausländischem Recht durchgeführt würden. Dem entgegen wirken soll das "Gesetz über die De-Ofschorisazija", das zum 1. Januar 2015 in Kraft getreten ist. Es legt fest, dass nicht ausgeschüttete Gewinne, die in Niedrigsteuerländern anfallen, in Russland versteuert werden müssen. Dadurch vergrößert sich zunächst einmal der bürokratische Aufwand für alle Offshore-Strukturen, ganz gleich ob sie zur Steuerminimierung oder zur Nutzung ausländischen Rechts gegründet wurden.

Deutlicher als dieser restriktive Ansatz könnte sich die Reform des russischen Zivilrechts bemerkbar machen, die seit einigen Jahren Schritt für Schritt durchgeführt wird. So gilt seit dem 1. September 2014 eine neue Fassung des Gesellschaftsrechts, in der einige moderne rechtliche Möglichkeiten wie etwa die Gesellschaftervereinbarung einheitlich geregelt sind. Am 1. Juni 2015 traten außerdem neue Regeln im Vertragsrecht in Kraft, die international gängige Institute der Vertragsabsicherung einführen und komplexere Verträge bei Übernahmen und Zusammenschlüssen von Firmen ermöglichen. Durch diese Neuerungen, in denen das englische Recht als Vorlage gut erkennbar ist, wurden einige der formalen Beweggründe für die Jurisdiktions-Flucht behoben.

Fazit

Die russische Wirtschaft ist heute ohne die massive Nutzung ausländischen Rechts nicht vorstellbar. Vor allem die großen Unternehmen haben in der Vergangenheit stark von der Absicherung durch ausländische Rechtsinstitutionen profitiert. Die Bemühungen der russischen Führung um eine Rückkehr der Unternehmen in die russische Jurisdiktion sind deutlich erkennbar. Mit der Zivilrechts-Reform der vergangenen Jahre hat das russische Recht auf dem Papier deutlich aufgeholt. Darüber hinaus ist der "Import von Rechtssicherheit", wie er momentan stattfindet, über Anwaltshonorare und Prozesskosten im Ausland auch an den Rubelkurs gebunden. Der schwache Rubel könnte das russische Recht also ebenfalls interessanter machen. Auch haben die gegen Russland verhängten Sanktionen für einen kleinen Kreis von Personen deutlich gemacht, dass unter Umständen auch ausländische Holdings von politischen Risiken bedroht sein können.

Eine schnelle Rückkehr der Unternehmen in das russische Recht ist aber trotzdem nicht zu erwarten. Das Misstrauen in die russischen Wirtschaftsgerichte wird nicht ohne weiteres verschwinden, und die Zahlungsbereitschaft für mehr Rechtssicherheit ist weiterhin hoch. Es wird sich noch zeigen müssen, wie die neuen Vorschriften des Zivilrechts in der Praxis gehandhabt werden. Zuletzt ist der weit verbreitete Einsatz des ausländischen Rechts in Russland auch mit Netzwerkeffekten und Pfadabhängigkeiten verbunden. Unternehmen und Anwälte haben sich in den vergangenen Jahren darauf eingestellt und viel in die Strukturen und Kompetenzen investiert, die für die Nutzung des ausländischen Rechts notwendig sind. Vor allem für kleinere Unternehmen bleiben weitere Verbesserungen im heimischen Rechtswesen aber dringend notwendig. Ohne sie ist eine erfolgreiche Modernisierung der russischen Wirtschaft in der Zukunft schwer vorstellbar.

Lesetipps

  • High Court of Justice, Queen’s Bench Division, Commercial Court: Michael Cherney vs. Oleg Vladimirovich Deripaska, [2008] EWHC 1530 (Comm), 3. Juli 2008; http://www.bailii.org/ew/cases/EWHC/Comm/2008/1530.html. (Interessante Begründung des Londoner Handelsgerichts für eine Klagezustellung an Oleg Deripaska außerhalb Englands, insbesondere ab Absatz Nr. 197)

  • Steininger, A., D. Olejnik: Schuldrechtsreform in Russland 2015 [=Wissenschaftliche Beiträge des Ostinstituts Wismar, O/L-3-2015], 02. Dezember 2015; http://www.ostinstitut.de/documents/Steininger_Olejnik_Schuld rechtsreform_in_Russland_2015_OL_3_2015.pdf.



Fussnoten

Janis Kluge, Ökonom an der Universität Witten/Herdecke, beschäftigt sich in seiner Doktorarbeit mit der russischen Wirtschaft und ihrer internationalen Verflechtung. Seine Forschungsinteressen sind politische Risiken bei Direktinvestitionen, die Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit und die Rolle internationalen Wirtschaftsrechts. Über aktuelle ökonomische Entwicklungen schreibt er regelmäßig in seinem Blog Russianomics.com.