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Analyse: Russische Medien und das Dilemma von Journalisten zwischen Exit, Voice und Loyalty | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Russische Medien und das Dilemma von Journalisten zwischen Exit, Voice und Loyalty

Nozima Akhrarkhodjaeva

/ 11 Minuten zu lesen

Regierungskritische Stimmen sind in Russland in den letzten Jahren leiser geworden - so der Vorwurf. Doch woher rührt diese kremlfreundliche Ausrichtung der Medien? Dieser Frage ist Nozima Akhrarkhodjaeva auf der Grundlage von Interviews mit russischen Journalisten nachgegangen.

Woher kommt die in den letzten Jahren wachsende Kremlfreundlichkeit der russischen Medien? Steckt dahinter Zensur oder Loyalität? (© picture-alliance/dpa)

Die Medienlandschaft Russlands hat in den letzten Jahren einen beträchtlichen Wandel durchlaufen. Während das Fernsehen überwiegend dem Kreml untergeordnet wurde, hat die Presse an kritischer Stimme verloren. Bei Interviews mit Journalisten, die die Autorin geführt hat, haben allerdings nur wenige offen eine Zensur durch den Staat oder durch Herausgeber zugegeben. Sind die Journalisten plötzlich loyal dem Kreml gegenüber, oder fürchten sie sich zuzugeben, dass sie nicht mehr in der Lage sind, über kontroverse Themen zu berichten? Gestützt auf Albert Hirschmans Ansatz von Exit, Voice, and Loyalty soll dieser Beitrag aufzeigen, wie die russische Regierung ohne übermäßige Gewalt, offene Zensur oder andere unverhohlene Zwangsmaßnahmen sicherstellt, dass die Medien eine kremlfreundliche Haltung einnehmen, indem "softere" und feinere Instrumente eingesetzt werden.

Einführung

Über das letzte Jahrzehnt ist der Inhalt der landesweiten Fernsehkanäle und sogar der Presse zunehmend kremlfreundlich geworden. Es sind unterschiedliche Ansichten vorgelegt worden, um die Gründe für die regierungsfreundliche Berichterstattung und die Unterstützung für die Regierung zu erklären. Zunehmender Druck auf Journalisten und Zensur gehörten zu den naheliegendsten Erklärungen. Gleichwohl räumen trotz der sich verschlechternden Bedingungen für die Medien und des Schwundes an kritischen Stimmen nur wenige, die professionell im Medienbereich tätig sind, tatsächlich ein, dass ihre Freiheit durch Verleger, Geschäftsführungen oder Behörden eingeschränkt wird. Allerdings geben sie zu, dass sie die möglichen Konsequenzen ihrer Tätigkeit im Hinterkopf haben. Schimpfossl und Yablokov (s. Lesetipps: Coercion or Conformism?…) meinen sogar, dass Moderatoren und Reporter, die auf föderalen Fernsehkanälen die Position des Kreml transportieren, dies freiwillig, bewusst tun.

Im Herbst 2015 habe ich 11 Interviews mit Journalisten geführt, die in Moskau für Printmedien arbeiten; ihre Zeitungen werden viel von Intellektuellen und in Wirtschaftskreisen gelesen. Interessanterweise sprach keiner von ihnen von einer offiziellen Zensur auf der Ebene der Zeitung, obwohl einige meinten, sie würden die möglichen Konsequenzen ihrer Berichte im Hinterkopf haben. Einige berichteten allerdings, dass es kontroverse Themen gibt, über die sie berichten, wobei sie sich möglicher Konsequenzen bewusst seien und das Risiko von Repressalien sie nicht aufhalte. Andere meinten, es sei möglich, über strittige Themen zu berichten, wenn sie lohnenswert sind. Auf die direkte Frage nach Zensur von oben behaupteten die Befragten von den Zeitungen "Kommersant" und "Wedomosti", dass – solange klare Fakten vorgelegt werden – ihre Artikel von den Herausgebern zur Veröffentlichung angenommen werden. Gleichwohl ist kritische Berichterstattung in den Printmedien sehr selten und auf den föderalen Fernsehkanälen nahezu abwesend. Wenn es nicht Zensur ist, wie es die Journalisten behaupten, was steckt dann hinter der kremlfreundlichen Berichterstattung? Was könnte die Loyalität von Journalisten erklären? Ist es Angst oder ein Unwillen, sich die Existenz von Zensur einzugestehen? Oder unterstützen die Journalisten tatsächlich die Positionen des Kreml?

Albert Hirschmans Theorie zu "Reaktionen auf Leistungsabfall bei Unternehmungen, Organisationen und Staaten” (s. Lesetipps) besagt, dass jede Organisation, sei es ein Unternehmen, eine politische Partei, eine Regierung oder selbst ein Staat, sich einem Leistungsabfall gegenübersehen kann. Wenn sich dergleichen einstellt, haben die betroffenen Akteure und Gruppen die Wahl zwischen Widerspruch ("Voice"), Abwanderung ("Exit") oder einem Akzeptieren des Status Quo ("Loyalität"). Die Wahl wird unter anderem durch eine Abschätzung der jeweiligen Kosten bestimmt. Wenn die Kosten für "Widerspruch" oder "Abwanderung" zu hoch sind, optieren die Betreffenden für "Loyalität". Im Falle eines Leistungseinbruchs von Staat und Regierung können die Kosten für Widerspruch und Abwanderung über die Behörden justiert werden.

Gestützt auf die Informationen, die ich während der Interviews in Moskau sammeln konnte, bin ich der Ansicht, dass im Fall Russland die Regierung die Kosten im Medienbereich für Widerspruch, Äußerungen von Unzufriedenheit und Kritik an der Regierungspolitik derart hochgetrieben hat, dass Journalisten, die kritische Ansichten vertreten, gezwungen sind, entweder zu kündigen und durch loyalere Journalisten ersetzt zu werden, oder aber besser still zu bleiben. Das wird vorwiegend auf zwei subtilen Wegen erreicht: 1) der Entlassungs- und Einstellungspolitik; sowie 2) einer Ungewissheit hinsichtlich der Spielregeln.

Einstellungs- und Entlassungspraktiken

Einstellung: Ein Weg, um Folgsamkeit sicherzustellen, ohne auf offene Zensur zurückzugreifen, besteht in einem Screening der politischen Ansichten potentieller Mitarbeiter, bevor man ihnen eine Stelle anbietet. Umgekehrt kündigt man Mitarbeitern, deren Ansichten von der Redaktionslinie abweichen. Bei meinen Interviews meinten einige der Befragten, dass der Herausgeber im Zuge des Einstellungsprozesses sichergehen will, dass der neue Mitarbeiter gut in das bestehende Team passt, und dass seine Ansichten weder von denen der Teammitglieder abweichen, noch der Redaktionspolitik widersprechen. Wie es einer der Journalisten von der Online-Ausgabe von "Russia Today" ausdrückte: "Warum sollte ein Arbeitgeber jemanden einstellen, der sich gegen die Ansichten des Arbeitgebers stellen würde? Meistens sammelt man Gleichgesinnte um sich. Es gibt unterschiedliche Meinungen in unserer Zeitung, aber im Allgemeinen teilen wir die Grundeinstellungen. Wir holen uns Leute, die eher wie wir sind."

Ein anderer Interviewpartner, ein Journalist und Redakteur einer unabhängigen Zeitung, nannte ein Beispiel aus persönlicher Erfahrung. Er berichtete, dass ihm vor einigen Jahren, als er sich für einen Posten bei einem Medium in Staatsbesitz bewarb, von dem Chefredakteur bedeutet wurde (hinter verschlossenen Türen), dass sich die Bedingungen verändert hätten. Während man zuvor seine eigenen Themen vorschlagen konnte, würden die Themen und Thesen nun von den Behörden geliefert. Wenn allerdings jemand mit diesen neuen Bedingungen nicht einverstanden ist, könne er nicht beim Redaktionsteam mitmachen.

Ähnlich argumentieren Schimpfossl and Yablokov (s. Lesetipps: Coercion or Conformism?.., S. 310): Viele der von ihnen Befragten seien "der Ansicht, dass es einem bekannten Medienvertreter oder einem Reporter freisteht, zu einer anderen Organisation zu wechseln, wenn er oder sie nicht mit der Redaktionspolitik einer Medienorganisation einverstanden ist". Ganz wie Reporter regionaler Fernsehkanäle, die von Olessia Koltsova interviewt wurden (s. i. d. Lesetipps: News Media and Power in Russia…), scheinen die von Schimpfossl und Yablokov Interviewten "frei die Ansichten ihrer Herren zu vertreten".

Entlassung: Journalisten der wichtigen landesweiten Fernsehkanäle, die von "Colta.ru" interviewt wurden (s. Sidorow, Dmitrij: Kak Delajut TV-propagandu: Tschetyre Swidetelstwa, in: colta.ru, 2015; Externer Link: http://www.colta.ru/articles/society/8163) meinten ebenfalls, dass jeder, dessen Ansichten denen widersprechen, die von der Geschäftsführung vertreten werden, frei sei, zu gehen. Wer gegangen war, machte daraus kein großes Aufheben: Sie gingen einfach. Andere blieben, aus unterschiedlichen Gründen. Letztendlich gewährleistete eine solche Politik ein Team, das sowohl homogen war, als auch sich an die expliziten und an die unausgesprochenen Regeln hielt. Ein weiterer Fall in diesem Zusammenhang ist "NTV". Dieser unabhängige Fernsehsender hatte während des ersten Tschetschenienkrieges kritisch berichtet und eine ausgewogene Berichterstattung zu den Parlamentswahlen 1995 geboten. NTV galt als ein Sender, der über eine "starke Nachrichten- und Analysekomponente" verfügte (s. i. d. Lesetipps: Belin: The Rise and Fall…, S. 19). Im Jahr 2001 allerdings wurde der Sender von "Gazprom-Media" übernommen; die Geschäftsführung wurde ausgetauscht, während Dutzende fester Mitarbeiter kündigten (s. i. d. Lesetipps: Belin…).

Ähnliche Praktiken sind bei der Handhabung kleinerer Medien oder Fernsehsendungen eingesetzt worden. Stanislaw Feofanow, ein Produzent, der für die Sendung "Nedelja" auf "REN-TV" sagte: "[…] Als die Boeing [des Fluges MH 17] abgeschossen worden war, war es nicht möglich von dem Ereignis zu berichten, wie wir es früher getan hätten… Wir waren gerade auf Urlaub, als wir von unserem Redakteur eine Nachricht bekamen: "Liebe Alle! Es ist der Moment gekommen, da unsere kleine stolze Sendung eingestellt wird. Vor uns liegt eine wunderbare Welt, in der das Leben ein völlig anderes sein wird." Jetzt arbeiten einige von uns als Freiberufler, andere haben ganz aufgehört, einige sind bei REN TV geblieben."

Aus einem Interview mit einem früheren Mitarbeiter der staatlichen Fernseh- und Rundfunkgesellschaft "WGTRK" ergibt sich ebenfalls, dass Journalisten genötigt sind, sich zwischen Abwanderung und Loyalität zu entscheiden: "Im Februar 2014 gab es eine Sitzung, auf der der Chefredakteur sagte, dass ein "kalter Krieg" bevorstehe […], daher sollten sich diejenigen, die daran nicht teilnehmen wollen, eine andere Stelle suchen, außerhalb des Nachrichtenkanals, während alle anderen im Club willkommen seien. Nur sehr wenige gingen, und selbst die taten das nicht sofort. Sie gingen mit der Zeit, still, ohne viel Lärm […] Die übrigen blieben." Diese Einstellungs- und Entlassungspraxis stellt sicher, dass loyale Mitarbeiter bleiben, während diejenigen, die Einspruch anmelden, mit der Linie der Redaktion nicht einverstanden sind oder zu widersprechen versuchen, entweder zur Kündigung gedrängt oder gar nicht erst eingestellt werden. Der Einsatz solcher Methoden des "Mikro-Managements" breitet sich in Staaten wie Russland zunehmend aus; es bedarf weiterer Forschung, um die Funktionsweise dieser Techniken herauszuarbeiten.

Ungewissheit

Eine Ungewissheit hinsichtlich der Spielregeln und der Konsequenzen, die deren Nichtbeachtung mit sich bringt, stellt sicher, dass diejenigen, die sich nicht zur Abwanderung aus dem System entschließen, weiterhin loyal bleiben. Ein Reporter der Zeitung "Kommersant" gab zu, dass er bei der Berichterstattung vorsichtig mit der Wort- und Themenwahl ist. Allerdings meinte er, dies geschehe nicht wegen Zensur oder Druck von oben, sondern eher gemäß der Redewendung, dass man "den Bären besser nicht reizen" sollte. Wie es in einem der bei "colta.ru" 2015 veröffentlichten Interviews heißt, "gibt es bei den Regeln einen Interpretationsspielraum". Und es könnte diese Ungewissheit über die Spielregeln und über die Konsequenzen des eigenen Handelns sein, die jene Journalisten, die gehört werden wollen, trotz fehlender Zensur dazu bewegt, sich für "Loyalität" zu entscheiden.

Der Charakter und die Wirkungsweise dieser Ungewissheit, sind sowohl in den von mir geführten Interviews, als auch in den Interviews aus Sekundärquellen zu beobachten. Wie es scheint, lassen sich Stabilität und Willfährigkeit dadurch herstellen, dass bewusst Unklarheit hinsichtlich der bestehenden Spielregeln erzeugt wird, damit niemand so richtig weiß, was erlaubt ist und was nicht. Auf diese Weise geht ein Journalist auch ohne direkten Druck "doppelt sicher", bevor er etwas unternimmt. Da auf jeden Bericht eine Reaktion erst nach der Veröffentlichung erfolgt, ist nur schwer vorauszusagen, ob man "damit durchkommt", eine Verwarnung von der staatlichen Telekommunikations- und Medienaufsicht "RosKomNadsor" erhält oder – schlimmer noch – entlassen wird oder Drohungen bekommt.

Selbst sehr formale Regelungen sind schwammig. So erwähnte ein Befragter von der unabhängigen oppositionellen Zeitung "Nowaja Gaseta", dass es eine Vorschrift gebe, die den Gebrauch vulgärer Wörter in Publikationen verbietet, jedoch keine offizielle Liste der verbotenen Wörter. Die Novelle zum Antiterrorgesetz, die am 6. Juli 2016 unterzeichnet wurde, gibt den Behörden ein weiteres Bündel von Instrumenten an die Hand, die zur Kontrolle der Medien eingesetzt werden können. Die möglichen Folgen des Gesetzes sind weit gefächert und dem erwähnten Befragten zufolge sogar weiter ausgedehnt worden. So könne beispielsweise ein Bericht über korrupte Behörden als ein Versuch gewertet werden, Hass gegen die [soziale] Gruppe der Staatsbeamten zu säen. Auch könne eine Publikation, die extremistische Symbole enthält (selbst, wenn dies für das Thema notwendig ist), eine Strafe nach sich ziehen.

Ein weiteres Beispiel für diese Ungewissheit wurde von einem Journalisten des "Kommersant" angesprochen, der sagte, dass er beim Verfassen oder Veröffentlichen seiner Texte keinen Druck verspüre, und dass es bei keinerlei Themen Vorgaben oder Verbote gebe. Allerdings teile man unter Journalisten ein Verständnis, ein allgemeines Wissen, dass einige Themen lieber nicht angerührt werden sollten. Solange ein Journalist die ungeschriebenen Regeln nicht offen verletzt, gibt es keine Möglichkeit festzustellen, ob etwas unangenehme Konsequenzen haben wird. Um auf der sicheren Seite zu sein, könnte so mancher Vorsicht bei der Themenwahl walten lassen, während andere sich womöglich entscheiden, kontroverse Themen offen anzusprechen.

Wiederum führt das Prinzip Ungewissheit dazu, dass eine kritische Stimme entweder bestraft wird – oder eben auch nicht. Vielleicht ist das einer der Gründe, dass es in Russland immer noch einige Inseln einer relativ freien Presse gibt. Weitere Beispiele für diese Ungewissheit können einem Interview entnommen werden, das Schimpfossl und Yablokov geführt haben (s. i. d. Lesetipps: Schimpfossl und Yablokov, S. 309), bei dem der Befragte, der beim Fernsehen arbeitet, von einer Geschichte berichtet, bei der ein Schriftsteller, der gerade Putins Wohlwollen verloren hatte, für ein Interview angefragt werden sollte: "[W]ir fragten uns: Vielleicht sollten wir ihn [den Schriftsteller] nicht mehr bei uns [im Programm] haben? Und ohne jede Anweisung von oben entschied das Team, das Interview abzusagen. Unser Produzent gab ihm [dem Schriftsteller] ein paar lahme Erklärungen, dass irgendeine Technik hier im Studio kaputtgegangen ist oder so. Das Programm wird vorab aufgezeichnet, wir hätten im Grunde nur einige Stücke rausschneiden können, falls es notwendig werden sollte, aber wir wollten auf Nummer sicher gehen… Er [der Schriftsteller] hat sofort auf Twitter darüber geschrieben, und am Ende hatten wir es mit einem Skandal zu tun."

Auf die Frage, wie sie die Freiheit der Medien Anfang der 2000er und in den 2010er Jahren im Vergleich einschätzen würden, meinten die meisten Befragten, dass sich die Bedingungen für die Medien verschlechtert haben. Wenn sie aber nach den Veränderungen an ihrem eigenen Arbeitsplatz gefragt werden (etwa bei der täglichen Arbeitsroutine, bei Zensur durch den Herausgeber, Selbstzensur, den Gewohnheiten bei der Festlegung der Agenda oder bei Entscheidungen, wie nachrichtenrelevante Ereignisse aufgezogen werden), behaupten die meisten Befragten, dass sie frei seien die Themen zu wählen und diese nach eigenem Gutdünken aufzuziehen. Gleichzeitig meinten die meisten Respondenten, dass ein Medium auch in dem Fall, dass ein Material zur Veröffentlichung freigegeben wurde, eine Warnung erhalten könne, falls ein Bericht von externen Akteuren (also Vertretern der staatlichen Bürokratie, Wirtschaftsgruppierungen oder der herrschenden Elite) als unpassend betrachtet wird. Oder, so formulierte es einer der Befragten: "Es ist nicht so, dass die Medien unter direktem Druck ständen, aber wenn ein kritischer Artikel in einer Zeitung erscheint, könnte das Gebäude der Zeitung unter dem Vorwand geschlossen werden, dass es reparaturbedürftig ist oder umgebaut werden soll, oder aus anderen Gründen dieser Art". Das bedeutet, dass die herrschende Elite Kontrolle über die Medien ausübt, indem sie eine Ungewissheit hinsichtlich möglicher Konsequenzen von kontroversen Artikeln schafft, wobei "administrative Ressourcen" des Staates eingesetzt – oder besser: missbraucht – werden.

Schlussfolgerungen

Zusammengefasst lässt sich, gestützt auf die genannten Daten, feststellen, dass der Kreml anstelle von Strategien exzessiver Zwangsmaßnahmen subtilere Instrumente eines Mikro-Managements einsetzt, um die Medien zu kontrollieren. Eine Ungewissheit, die durch die Unklarheit der Spielregeln und Vorschriften erzeugt wird, nötigt Journalisten auf subtile Weise entweder zu Selbstzensur, was nur selten offen eingeräumt wird, oder es führt zum Verlust ihres Postens. Das bedeutet: Einerseits gibt es keine unmittelbare Zensur, während andererseits eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich möglicher Antworten auf kontroverse Beiträge besteht. Durch die selektive Anwendung von Gesetzen und den missbräuchlichen Einsatz administrativer Ressourcen des Staates erzeugt die herrschende Elite eine Unklarheit für die Interpretierung der Spielregeln. So wird also bei den Journalisten "Vorsicht" oder, anders gesagt, freiwillige Selbstzensur erzeugt. Geschäftsführungen und Herausgeber von Medienorganisationen zeigen die gleiche "Vorsicht", was wiederum deren Einstellungs- und Entlassungspraktiken beeinflusst und den Weg für neue Journalisten freimacht, die dem Kreml gegenüber loyal sind.

Die Kombination zweier Strategien, also die Anhebung der Kosten für "Widerspruch" und die Erleichterung von "Abwanderung" stellt sicher, dass in den meisten Fällen ein Journalist entweder eine Kreml-freundliche Haltung einnimmt oder zumindest seine Unzufriedenheit nicht offen äußert oder aber sich für eine "Abwanderung" entscheidet, mit der Aussicht, möglicherweise seinem Beruf nicht nachgehen zu können, bis sich die Bedingungen geändert haben.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Lesetipps

Fussnoten

Dr. Nozima Akhrarkhodjaeva ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Sie arbeitet derzeit im Forschungsprojekt "Medienkontrolle als politische Machtressource. Die Rolle von Oligarchen in der post-sowjetischen Region", das aus Mitteln des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) unterstützt wird. Ihre Dissertation, die 2017 beim ibidem-Verlag erscheinen wird, analysiert die Medienberichterstattung zu Präsidentschaftswahlkämpfen in Russland.