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Analyse: Abwicklung – Russlands Energiebeziehungen mit der Ukraine | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Abwicklung – Russlands Energiebeziehungen mit der Ukraine

Roland Götz

/ 14 Minuten zu lesen

Die Energiebeziehungen zwischen Russland und der Ukraine bleiben angespannt: Während in den Bereichen Kohle, Erdöl und Kernenergie die ukrainischen Importe aus Russland stetig verringert wurden, scheint die Zukunft der russischen Gaslieferungen bislang ungewiss.

Russlands Präsident Wladimir Putin und Gazprom-Chef Alexey Miller beim Baubeginn der Unterwasserpipeline "Turkish Stream" im Juni 2017. (© picture alliance / abaca)

Zusammenfassung

Seit der Annexion der Krim und der Unterstützung der ostukrainischen Separatisten durch Russland ist die Ukraine bestrebt, die Energiebeziehungen zwischen beiden Ländern auf ein Minimum zu reduzieren. Die Kooperation im Bereich der Atomwirtschaft wurde, mit Ausnahme des Imports von Brennelementen, bereits eingestellt. Seit November 2015 kauft die Ukraine auch kein Erdgas aus Russland mehr und beabsichtigt dies laut ihrer Energiestrategie auch künftig nicht zu tun. Allein an der Beibehaltung des Öl- und Gastransits ist die Ukraine noch interessiert, während Russlands "Gazprom" den durch die Ukraine verlaufenden Gasexport Richtung Europa und Türkei auf die Unterwasserpipelines "Nord Stream-2" und "Turkish Stream" umleiten will.

Kohle, Atomenergie, Erdöl

Die Ukraine hatte bis 2014 aus Russland Kohle, Erdöl und Erdölprodukte im jährlichen Umfang von durchschnittlich fünf Mrd. US-Dollar bezogen. 2015 und 2016 sind diese Importe auf rund zwei Mrd. US-Dollar zurückgegangen (s. Grafik 1). Deutlich geringere Mengen dieser Produktgruppe werden aus der Ukraine nach Russland exportiert. Seit der Eisenbahntransport aus dem Donbass nach Westen durch die ukrainische Seite unterbrochen wurde, gewinnt die Ausfuhr von Kohle aus den Separatistengebieten im Osten der Ukraine nach Russland zunehmende Bedeutung. Es ist nicht auszuschließen, dass zukünftig ein Teil dieser Kohle, als "russische" Kohle deklariert, per Schiff wieder in die Ukraine zurückkehren wird.

Im Bereich der Atomenergie hat die Ukraine seit 2015 ihre Bemühungen intensiviert, die Kooperation mit Russland so weit als möglich zu beenden (s. Koscharnaja: Die ukrainische Zusammenarbeit…; i. d. Lesetipps). Sie erstreckte sich bislang auf die Modernisierung und Erweiterung der aus sowjetischer Zeit stammenden vier ukrainischen Kernkraftwerke mit ihren 15 noch in Betrieb befindlichen Reaktorblöcken, auf die Versorgung mit Atombrennstoff sowie auf die Verbringung von Atommüll in Zwischen- und Endlager in Russland. Außerdem war ursprünglich die Erweiterung des AKW Chmelnyzkyj durch den Zubau von weiteren zwei Reaktorblöcken durch das russische Unternehmen "Atomstrojexport" beabsichtigt gewesen, das zu über drei Vierteln im Besitz der Staatskorporation "Rosatom" steht. Diese Pläne wurden 2015 vom ukrainischen Parlament annulliert, weil die sowjetische Reaktortechnik nicht mehr den nach dem Atomunfall von Fukushima gestiegenen Sicherheitsanforderungen genügte.

Da der ukrainische Atomkraftwerkbetreiber "Energoatom" zunehmend ukrainische Experten und Organisationen sowie Unternehmen aus der EU und den USA für technische Dienstleistungen an den ukrainischen Kernkraftwerken heranzieht, hat Russland seine auf dem ukrainischen Markt bislang dominierende Position verloren. Auch die Kooperation mit Russland auf dem Gebiet der Entsorgung von Atomabfällen geht ihrem Ende entgegen. Bislang wurde der ukrainische Atommüll überwiegend in Endlager in den russischen Regionen Tscheljabinsk und Krasnojarsk transportiert. Ab 2019 sollen zumindest die verbrauchten Brennelemente in eine in der Sperrzone von Tschernobyl neu gebaute Endlagerstätte verbracht werden. Weitergeführt wird jedoch die Belieferung der ukrainischen Atomkraftwerke mit Brennelementen durch die russische Staatsfirma "TVEL", da die beabsichtigte Diversifizierung durch Hinzuziehung des US-amerikanischen Lieferanten "Westinghouse" auf technische Schwierigkeiten stößt.

Dem Ölexport aus Russland nach Westeuropa dient außer dem bedeutsameren Schiffstransport seit 1963 der südliche Arm der "Druschba"-("Freundschaft")-Pipeline mit ihrer auf 65 Millionen t pro Jahr ausgelegten Kapazität (Designkapazität), der im belorussischen Masyr abzweigt und über Brody (Ukraine) in die Slowakei und nach Tschechien sowie in einem weiteren Arm nach Ungarn und Kroatien führt. Dieser Transportweg steht nicht zur Disposition, ist aber stark sanierungsbedürftig und verursacht durch Ölverschmutzung große Umweltschäden.

2002 wurden der Ölverladeterminal Pivdennyj bei Odessa sowie die Ölpipeline Odessa–Brody erbaut, die nach einer Verlängerung bis nach Danzig Erdöl aus Aserbaidschan und Kasachstan auf den Weltmarkt transportieren sollte. Da eine wirtschaftliche Umsetzung dieses Projekts nicht gewährleistet war, kam die Verlängerungsleitung durch Polen nicht zustande und die Leitung wurde ab 2004 zum Transport von Erdöl in der Gegenrichtung, aus der "Druschba"-Pipeline zum Ölterminal Pivdennyj genutzt. Die Pläne zum Betrieb in der ursprünglich vorgesehenen Richtung sind jedoch wiederaufgelebt; allerdings wird nun die Einspeisung von Öl aus Aserbaidschan in die Druschba-Leitung sowie damit die Belieferung der östlichen EU-Staaten angestrebt. Dadurch könnte ein etwaiger Ausfall von Lieferungen aus Russland ersetzt werden.

Das Ende des Gasexports Russlands in die Ukraine

Seit August 2013 befand sich die Ukraine für das von Gazprom gelieferte Gas im Zahlungsrückstand, der bis Ende 2013 auf eineinhalb Mrd. US-Dollar angewachsen war. Um einen Staatsbankrott abzuwenden, suchte die ukrainische Führung im Herbst 2013 nach ausländischen Kreditgebern. Während der IWF und die EU keine Kredite an das zahlungsunfähige Land vergeben wollten, war Moskau dazu bereit, nicht zuletzt, um das Land weiterhin wirtschaftlich an Russland zu binden. Am 17. Dezember 2013 unterzeichneten die Präsidenten Wladimir Putin und Wiktor Janukowytsch ein Abkommen, das den Ankauf ukrainischer Staatsanleihen im Volumen von 15 Mrd. US-Dollar durch Russland sowie für 2014 die Senkung des Gaspreises vorsah. Von dem Kredit wurden Ende 2013 drei Mrd. US-Dollar ausbezahlt, mit denen die Ukraine ihre bestehenden Schulden bei Gazprom begleichen sollte. Der reduzierte Gaspreis sollte allerdings nur so lange gelten, wie die Ukraine ihre Gaslieferungen pünktlich bezahlte. Nachdem der staatliche Konzern "Naftogaz Ukrainy" jedoch Anfang 2014 keine Schulden aus dem Jahr 2013 beglichen und auch die laufenden Gaslieferungen nicht vollständig bezahlt hatte, strich Gazprom den Sonderrabatt und verlangte ab dem 1. April 2014 den aus dem Gasvertrag von 2009 resultierenden, sehr hohen Preis von 485 US-Dollar pro 1000 m³. Dieser wurde von der Ukraine nicht akzeptiert; das Land bezog aber weiterhin erhebliche Gasmengen aus Russland, ohne sie zu bezahlen. Daraufhin stellte Gazprom Mitte Juni 2014, als sich die Schulden der Ukraine auf 5,3 Mrd. US-Dollar summiert hatten, die Gaslieferungen ein.

Seither bezog die Ukraine Erdgas nur noch über die Slowakei, Ungarn und Polen, das freilich physisch weitgehend aus Gas aus Transitlieferungen Gazproms besteht. Sie strebte jedoch, weil man eine Gasknappheit befürchtete, die Wiederaufnahme der Lieferungen aus Russland zum Winterbeginn 2014 an. Die Ukraine benötigte wegen des milden Winters im Rahmen des "Winterpakets" 2014/15, für das ein ermäßigter Preis galt, nur knapp drei Mrd. m³ Gas aus Russland. Im ersten Halbjahr 2014 hatte die Ukraine ihre Gasspeicher – teilweise ohne zu bezahlen – füllen können und dabei 14 Mrd. m³ aus Russland bezogen. Für ein "Sommerpaket" im zweiten Quartal 2015 einigten sich beide Seiten auf dasselbe Preisbildungsmodell wie für das "Winterpaket". Für das dritte Quartal 2015 wurde jedoch keine Einigung über den Gaspreis erzielt, weswegen Gasimporte aus Russland ausblieben. Im vierten Quartal 2015 konnten durch Inanspruchnahme von Darlehen der EBRD und der Weltbank die Gasspeicher der Ukraine mit Gazprom-Gas so weit aufgefüllt werden, dass sie die für einen sicheren Gastransit erforderliche Mindestmenge enthielten. Da die ukrainische Seite einen niedrigeren Preis für angemessen hielt und ein verbindliches Angebot für die gesamte Heizperiode 2015/16 verlangte – was Gazprom ablehnte –, beendete der russische Konzern die Belieferung der Ukraine Ende November 2015 (s. Grafiken 2–4). Gemäß der vorläufigen Fassung ihrer Energiestrategie bis 2035 will die Führung der Ukraine auch künftig auf Erdgasimporte aus Russland verzichten (Externer Link: Neue Energiestrategie der Ukraine bis 2035 [ukr.], 2017, S. 47). Kritische Stimmen verweisen allerdings darauf, dass dadurch ein starker Wettbewerber ferngehalten wird und sich das Land gänzlich an Anbieter aus dem Westen bindet.

Gastransit durch die Ukraine

Durch die Ukraine wird knapp die Hälfte des von Gazprom nach Zentral- und Westeuropa einschließlich der Türkei exportierten Erdgases (2016: 79 Mrd. m³ von insgesamt 185 Mrd. m³) durchgeleitet. Dazu dienen die von Russland über die Ukraine in die Slowakei, nach Ungarn und Polen führenden Gasfernleitungen mit einer Designkapazität von zusammen rund 120 Mrd. m³ sowie die "Trans-Balkan-Pipeline" mit einer Designkapazität von 26 Mrd. m³, die über die Republik Moldau, Rumänien und Bulgarien in die Türkei führt, also mit einer Gesamtkapazität von 146 Mrd. m³.

Der Gastransit durch die Ukraine in europäische Länder einschließlich die Türkei ist zwischen 2005 und 2016 von 122 auf 79 Mrd. m³ zurückgegangen (Grafik 5). Ursache dafür waren die Inbetriebnahme der "Jamal-Europa"-Pipeline durch Belarus und Polen nach Deutschland (Fertigstellung 1999, 2006 Erreichen der vollen Kapazität von 33 Mrd. m³) sowie der "Nord Stream 1"–Pipeline (Fertigstellung Ende 2011, Endkapazität 55 Mrd. m³, Auslastung 2016: 44 Mrd. m³) durch die Ostsee nach Deutschland. Eine weitere Reduzierung des Gastransits durch die Ukraine ist zu erwarten, wenn – wie von Gazprom geplant – die durch das Schwarze Meer in die Westtürkei führende "Turkish Stream"-Pipeline (Kapazität der ersten beiden Stränge zusammen 31,5 Mrd. m³, Endkapazität 63 Mrd. m³) sowie die entlang der Nord Stream-1 verlaufende Nord Stream-2 (Kapazität 55 Mrd. m³) 2020 ihren Betrieb aufnehmen werden. Beide neuen Gasleitungssysteme werden allerdings einige Zeit benötigen, bis sie mit voller Kapazität betrieben werden können, weil die erforderlichen Anbindungsleitungen nicht sofort zur Verfügung stehen und/oder deren volle Kapazitätsauslastung durch die EU-Vorschrift des Zugangs für Dritte (third party access) blockiert wird. Daher wird der Gastransit durch die Ukraine voraussichtlich nicht zum Jahresende 2019 vollständig beendet, sondern in einem gewissen Umfang noch länger vollzogen werden. Wenn, wie Gazprom prognostiziert, zudem die Gasnachfrage in Europa weiter stark ansteigen und die Eigenerzeugung der europäischen Länder deutlich abnehmen wird, könnte das Gastransportsystem der Ukraine auch noch länger benötigt werden, weil selbst Nord Stream-2 und Turkish Stream nicht ausreichen würden, um die zusätzlich nachgefragten Exportmengen zu transportieren.

Dass Gazprom das System der Transitgasleitungen durch die Ukraine möglichst nicht weiter nutzen will, sondern Unterwasserpipelines den Vorzug gibt, hat nachvollziehbare Gründe: Die Leitungen und die dem Gastransport dienenden Verdichterstationen der aus sowjetischer Zeit stammenden Gasfernleitungen haben ihre geplante Nutzungsdauer von 40 Jahren nahezu erreicht, wobei sich ein Reparatur- und Ersatzbedarf aufgestaut hat, der je nach angestrebter effektiver Kapazität und Zeitrahmen der Weiternutzung auf Beträge von 3 bis 12 Mrd. US-Dollar geschätzt wird. Die Zahl der Störfälle pro km liegt im ukrainischen Gasnetz beim Zehnfachen des Durchschnittswerts in der EU. Wenn die Ersatz- und Modernisierungsinvestitionen weiter verschleppt werden (bislang ist nur eine der 72 veralteten Verdichterstationen saniert worden), ist ein sicherer Gastransit in Zukunft nicht mehr garantiert. Die für die Offshore-Pipelines und ihre Anbindungsleitungen anfallenden Nutzungs- und Transitgebühren sind außerdem niedriger als die Transitkosten für die über Land durch die Ukraine verlegten Transitleitungen (s. National Energy Security Fund: Nord Stream 2…, S. 10 ff.; KPMG: Erdgasmarkt…, S. 35–40; i. d. Lesetipps).

Von diesen ökonomischen und technischen Erwägungen abgesehen, ist zudem für Gazprom schwer kalkulierbar, wie der Gastransit nach Auslaufen des 2009 zwischen Russland und der Ukraine geschlossenen Transit- und Lieferabkommens geregelt werden wird. Im Vergleich zur Lage an der Jahreswende 2008/09 befindet sich die Ukraine heute in einer verhandlungstaktisch besseren Situation: Nachdem sie von der Belieferung mit Gas aus Russland unabhängig geworden ist, kann sie, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, mit der Unterbrechung des Gastransits über ihr Territorium drohen, ohne Rückwirkungen auf die eigene Versorgung befürchten zu müssen. Außerdem könnte sie das Transitgas dazu nutzen, Engpässe bei der eigenen Gasversorgung zu überbrücken.

Falls bis Jahresende 2019 keine Vereinbarung über die Fortsetzung des Gastransits erzielt wird, müsste Gazprom die Übergabepunkte für sein Erdgas von der Westgrenze der Ukraine an die ukrainisch-russische Grenze verlegen und seine europäischen Kunden auffordern, mit "Naftogaz Ukrainy" selbständig Transitvereinbarungen abzuschließen. Das ukrainische Energieministerium hat diesen Vorschlag, der die Fortsetzung des Gastransits über ukrainisches Gebiet impliziert, bereits gemacht; Gazprom will sich offenbar noch alle Möglichkeiten offenhalten – darunter den Abschluss eines neuen Transitvertrags oder die gänzliche Einstellung des Transits über die Ukraine ab 2020.

Rechtslage bei Nord Stream-2

Wann und ob überhaupt Nord Stream-2 in Betrieb gehen kann, hängt nach Meinung der EU-Kommission und vieler Kommentatoren (vor allem aus den östlichen Mitgliedsländern der EU sowie aus der Ukraine) von angeblich ungeklärten Rechtsfragen ab. Denn die Gasleitung könne, wie Miguel Arias Cañete, der EU-Kommissar für Klimapolitik und Energie, sagte, "nicht im rechtsfreien Raum oder ausschließlich nach dem Recht eines Drittlands" (gemeint ist Russland) betrieben werden. Nach den Worten des für die Energieunion zuständigen EU-Vizepräsidenten, Maroš Šefčovič, muss sie "im Einklang mit den wichtigsten Bestimmungen des EU-Energiemarkts" stehen. Wenn insbesondere das "Dritte Energiepaket" – die 2009 vom Europäischen Parlament und dem Ministerrat verabschiedete dritte "Gasmarktdirektive" (Externer Link: Directive 2009/73/EC) – zu berücksichtigen wäre, wie Kritiker des Vorhabens vortragen, müsste die Pipeline unabhängig vom Gasförderer Gazprom betrieben werden (sogen. "unbundling") und es müsste anderen Gasförderunternehmen wie z. B. dem russländischen Öl- und Gasunternehmen "Rosneft" das Recht der Einspeisung gewährt werden ("third party access"), was nicht mit dem vom russländischen Staat gewährten Exportmonopol Gazproms vereinbar ist.

Dass die Nord Stream-2 ohne die Intervention der EU in einem rechtsfreien Raum und/oder ausschließlich nach russländischen Vorschriften gebaut und betrieben würde, stimmt allerdings schon deswegen nicht, weil für die Pipeline, die durch die ausschließlichen Wirtschaftszonen Finnlands, Schwedens, Dänemarks und Deutschlands (200 Seemeilen) sowie das Küstenmeer Dänemarks und Deutschlands (12 Seemeilen) verlaufen soll, das Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (SRÜ, engl.: UNCLOS) gilt, in dessen Rahmen die betroffenen Staaten ihre einschlägigen nationalen Vorschriften anzuwenden haben. Ebenso müssen von ihnen Umweltverträglichkeitsprüfungen nach nationalem und EU-Recht sowie nach internationalem Recht (Espoo-Konvention) durchgeführt werden. Zuständig sind dafür in Deutschland das Bergamt Stralsund und das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie.

Auf den Umstand, dass die EU-Gasmarktdirektiven weder für Nord Stream-1 noch Nord Stream-2 gelten, haben übereinstimmend Externer Link: im Dezember 2015 Luis Romero Requena, der Generaldirektor des Juristischen Dienstes der EU, sowie im März 2017 Jochen Homann, der Präsident der Bundesnetzagentur verwiesen. Die Rechtslage ist zudem von dem Professor für Europäisches Energierecht der Universität Helsinki, Kim Talus, eingehend dargestellt worden (s. Lesetipps). Sowohl die bestehende Nord Stream-1 als auch die geplante Nord Stream-2 sind demnach weder Transmissionsnetzwerke noch Verbindungsleitungen (Interkonnektoren) zwischen den Transmissionsnetzwerken der einzelnen EU-Staaten oder andere Arten von Gasleitungen, die in den Gasmarktdirektiven der EU erwähnt und geregelt werden. Denn diese Direktiven sind überhaupt nur im Hinblick auf den EU-Binnenmarkt erlassen worden. Dieser Auffassung hat sich inzwischen selbst die EU-Kommission angeschlossen und sucht nach anderen Wegen, um ihren Vorstellungen Geltung zu verschaffen. Sie hat daher den Ministerrat der EU um ein Mandat für Verhandlungen mit Gazprom und der Regierung Russlands über einen besonderen Rechtsrahmen gebeten, um "die Prinzipien des internationalen und EU-weiten Energierechts anwenden zu können, zu denen Transparenz beim Pipeline-Betrieb, eine diskriminierungsfreie Entgeltfestsetzung, ein angemessener, diskriminierungsfreier Zugang Dritter sowie eine ausreichende Trennung zwischen den Tätigkeiten Versorgung und Fernleitung zählen". Warum ein derartiges Procedere im Falle von Nord Stream-2 angeblich notwendig wird, während es von der EU weder für Nord Stream-1 noch für andere vergleichbare Offshore-Sektionen von Gasfernleitungen (darunter die Transmed zwischen Tunesien und Sizilien und die beabsichtigte Galsi von Algerien nach Sardinien) verlangt wurde, erschließt sich nicht. Ganz anders ist die Rechtslage bei der innerhalb Deutschlands zu bauenden Anbindungsleitung EUGAL an die Pipeline Nord Stream-2, für die (wie schon bei OPAL, der Anbindungsleitung zu Nord Stream-1) zweifellos die EU-Regeln gelten und insbesondere der Zugang für Dritte offen stehen muss.

Das Urteil des Stockholmer Schiedsgerichts

Zur Beendigung der Gaskrise 2008/09 war im Januar 2009 zwischen Gazprom und Naftogaz Ukrainy ein Gasliefer- und Gastransitvertrag mit einer Laufzeit von 10 Jahren vereinbart worden, der die vorher üblichen jährlichen Gasverhandlungen zwischen den Regierungen beider Länder ersetzen sollte. Darin waren nach dem Muster der mit Gazproms westeuropäischen Kunden abgeschlossenen Verträge die Verpflichtung zur Abnahme einer Mindestmenge ("take-or-pay clause"), das Verbot des Reexports des Gases in andere Länder ("destination clause") sowie die Bindung des Gaspreises an den Ölpreis (im Falle der Ukraine ausgehend von einem hohen Basispreis von 450 US-Dollar pro 1000 m³), festgelegt worden.

Unter anderem gegen diese Klauseln hatte die Ukraine im Juni 2014 beim Stockholmer Schiedsgericht – wie im Vertrag für Streitfälle vorgesehen – Klage eingereicht. Im Gegenzug klagte Gazprom auf Entschädigung für die Nichteinhaltung der Take-or-pay-Klausel durch Naftogaz Ukrainy sowie auf Bezahlung ausstehender Forderungen für Gaslieferungen im vierten Quartal 2013 und im zweiten Quartal 2014. Die Ukraine verlangte von Gazprom 30 Mrd. US-Dollar (einschließlich Zinsen und Strafzahlungen), Gazprom wiederum von Naftogaz Ukrainy 47 Mrd. US-Dollar. Das Stockholmer Schiedsgericht zog beide Klagen zusammen, hörte beide Parteien an und übermittelte ihnen am 31. Mai 2017 seinen vorläufigen Beschluss in einem Schriftsatz von über 700 Seiten. Ein weiteres Urteil soll, nachdem beiden Seiten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde, frühestens Ende Juni 2017 ergehen. Nach gängiger Praxis ist jedoch mit keinen wesentlichen Änderungen gegenüber dem vorläufigen Beschluss zu rechnen. Beide Seiten haben sich in dem Vertrag von 2009 verpflichtet, das Stockholmer Urteil zu akzeptieren.

In dem vorläufigen Beschluss werden sowohl die Take-or-pay-Klausel (zwar nicht formell, aber materiell durch Herabsetzung unter die von der Ukraine tatsächlich importierten Mengen) als auch das Reexport-Verbot des Vertrags von 2009 aufgehoben; damit sind die sich auf diese Klauseln stützenden Gegenklagen von Gazprom hinfällig. Die Bindung des Gaspreises an den Ölpreis wird – entgegen dem Wunsch der ukrainischen Seite – für 2011 bis 2013 nicht beanstandet. Ab dem Jahresanfang 2014 sollen für das für den Verbrauch in der Ukraine gelieferte Gas zwischen Gazprom und Naftogaz Ukrainy die Preise unter Berücksichtigung der an virtuellen Handelspunkten (hubs) in der EU damals gezahlten Preise neu vereinbart werden. Das bedeutet, dass Naftogaz Ukrainy die für das vierte Quartal 2013 sowie für das zweite Quartal 2014 ausstehende Beträge nach unterschiedlichen Regeln nachzahlen muss; die aufzubringende Summe beläuft sich (ohne Zinsen) auf rund zwei Mrd. US-Dollar und nicht, wie Gazprom in diesem Punkt seiner Klage forderte, auf 4,5 Mrd. US-Dollar.

Nicht eingegangen ist das Gericht auf das Verlangen der ukrainischen Seite, sie für nicht erhaltene Transitgebühren zu entschädigen, weil Gazprom entgegen dem Vertrag von 2009 weniger als 110 Mrd. m³ Erdgas pro Jahr über ukrainisches Territorium transportiert hat. Das Stockholmer Gericht hat damit den Forderungen der ukrainischen Seite nur zum Teil entsprochen, jedoch mit der Abweisung der Klagen von Gazprom auf Entschädigung für Nichtabnahme von Mindestmengen und den Reexport von geliefertem Gas die ukrainische Gasgesellschaft und den ukrainischen Staat vor untragbaren finanziellen Belastungen bewahrt.

Fazit

Während die Energiebeziehungen zwischen Russland und der Ukraine in den Bereichen Kohle, Erdöl und Kernenergie auf unspektakuläre Weise auf ein Restniveau zurückgeführt wurden, vertreten im Gasbereich beide Seiten kontroverse Positionen: Gazprom möchte die Ukraine als Absatzmarkt nicht verlieren und strebt Verhandlungen über ein neues Lieferabkommen an, welches in der Ukraine nur wenige Unterstützer hat, die sich von der Konkurrenz zwischen den Lieferanten aus West und Ost niedrigere Gaspreise versprechen. Umgekehrt plant Gazprom die Einstellung des störungsanfälligen Gastransits durch die Ukraine und seine Verlagerung auf moderne Offshore-Pipelines. Dagegen wendet sich die Ukraine, weil sie nicht auf die Transitgebühren in Höhe von jährlich zwei Mrd. US-Dollar verzichten, sondern ihr Gastransportsystem im bisherigen Umfang weiter betreiben und (mit westlicher Hilfe) modernisieren will.

Auf Grundlage des Stockholmer Urteils könnte der Liefer- und Transitvertrag von 2009 zu rechtlich einwandfreien Bedingungen für die Jahre 2018 und 2019 revidiert und ein Anschlussvertrag für die Zeit ab 2020 verhandelt werden. Damit wäre eine Basis sowohl für die Wiederaufnahme der Belieferung der Ukraine mit Gas aus Russland, als auch für die (wenn auch nur vorübergehende und im Volumen reduzierte) Beibehaltung des Gastransits durch die Ukraine geschaffen. Denn die Ukraine ist im Vorteil, wenn sie den Preiswettbewerb durch Gazprom auf ihrem Inlandsmarkt zulässt, und Gazprom würde Zeit gewinnen, um seine neuen Lieferwege einzurichten. Ob sich beide Seiten darauf werden verständigen können, wird davon abhängen, ob sie die Energiebeziehungen aus ihren angespannten politischen Beziehungen ausklammern können.

Lesetipps:

Fussnoten

Dr. Roland Götz hat sich am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln und bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin mit der Sowjetwirtschaft und den Volkswirtschaften der GUS beschäftigt.