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Kommentar: Russland – Europarat 1:0 | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Russland – Europarat 1:0

Susan Stewart

/ 5 Minuten zu lesen

Die katastrophale Lage der Menschenrechte auf der Krim und die fehlende Unabhängigkeit der Justiz in Russland lassen die Wiederaufnahme der russischen Delegation in die Parlamentarische Versammlung des Europarats zweifelhaft erscheinen. Das Ansehen und der Einfluss des Europarats könnten mit dieser Entscheidung weiter sinken.

Sergei Iwanowitsch Kisljak, Chef der russischen Delegation, spricht auf der Parlamentarischen Versammlung (PV) des Europarats, zu der Russland erstmals seit mehreren Jahren eingeladen wurde. (© picture alliance/Dominique Boutin/Sputnik/dpa)

In diesem Jahr ist Russland in die Parlamentarische Versammlung (PV) des Europarats zurückgekehrt. Die russische Delegation hatte an der Arbeit der PV in den vier Jahren davor nicht teilgenommen. 2014–2015 wurden ihre Stimmrechte suspendiert, weil das Land gegen das Statut des Europarats verstoßen hatte. Danach kam es nicht mehr zu einer Suspendierung, weil die Delegation keine Aufnahme in die sich jedes Jahr neu konstituierende Versammlung beantragt hatte.

Die Entscheidung über die Suspendierung der Stimmrechte war in der Parlamentarischen Versammlung umstritten. Hinzu kam, dass sie Teil eines Streits zwischen der Versammlung und dem Ministerkomitee des Europarats wurde. Hierbei wurde von manchen Personen argumentiert, dass die PV mit der Verhängung von Sanktionen ihre Befugnisse überschritten habe. Diese Frage wurde bis heute nicht abschließend geklärt.

Als Protest gegen die Suspendierung seiner Delegation hat Russland aufgehört, seine Jahresbeiträge zum Budget der Organisation zu zahlen. Nach zwei Jahren solcher Versäumnisse sah sich der Europarat gezwungen, darauf zu reagieren. Im Mai 2019 wurde auf dem Außenministertreffen in Helsinki die Entscheidung getroffen, die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland zu befürworten. Im Juni hat die PV diese Entscheidung in einer kontroversen Sitzung bestätigt. So durfte die russische Delegation sich an der bevorstehenden Wahl der neuen Generalsekretärin beteiligen. Seitdem übt sie ihre Rechte in der PV voll aus, obwohl die Verstöße, die zur Suspendierung der Wahlrechte geführt hatten, nicht beseitigt wurden.

Die Argumente derjenigen, die für die Aufhebung der Sanktionen plädierten, beruhten auf unterschiedlichen Aspekten. Erstens wurde behauptet, dass man sonst befürchten müsste, dass Russland den Europarat verlässt. So gingen Möglichkeiten des Dialogs sowie des Monitorings in den Bereichen der Demokratie und der Menschenrechte verloren. Dies würde eventuell eine Verschlechterung der Menschenrechtslage, z. B. die Wiedereinführung der Todesstrafe, nach sich ziehen. Zweitens wurde die große Bedeutung des Zugangs zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) für alle russischen Bürgerinnen und Bürger betont.

Die Gegner einer Rückkehr Russlands in die PV wiesen darauf hin, dass eine Aufhebung der Sanktionen ohne jeglichen Schritt der russischen Seite, die Verstöße zu beseitigen, die Glaubwürdigkeit des Europarats schwer beschädigen könnte. Sie würde es der russischen Delegation z. B. ermöglichen, sich wie auch schon vor 2014 mit anderen (Teil-)Delegationen zu verbünden, um die Arbeit des Europarats auf mehrfacher Weise zu behindern und zu unterminieren. So würde die Organisation von innen zunehmend geschwächt werden, zumal sie von etlichen Mitgliedsstaaten weitgehend vernachlässigt wird, was das Engagement und die Ressourcen angeht.

Die Wiederaufnahme der russischen Delegation ist auch im Kontext einer Situation zu sehen, in der Russland bereits seit Jahren seinen Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte nicht nachkommt. In zahlreichen Sphären hat sich die Lage sogar verschlechtert. Was das EGMR betrifft, ist Russland in der Regel zwar bereit, Kompensationen zu zahlen, beseitigt die hinter vielen Klagen stehenden systematischen Probleme aber nicht, so dass immer mehr Fälle mit dem gleichen Sachverhalt das Gericht erreichen.

Seit der Krim-Annexion und dem Beginn des Donbas-Krieges hat sich die Situation noch weiter verschlechtert. Die Menschenrechtslage auf der Krim ist laut den verfügbaren Indizien wesentlich gravierender als vor 2014. Insbesondere diejenigen, die sich kritisch zum russischen Regime äußern, laufen große Gefahr, Repressalien zu erleben. Dies betrifft sehr oft Minderheiten wie die Krimtataren sowie Personen, die sich aktiv weigern, die russische Staatsangehörigkeit anzunehmen. Es war in den letzten Jahren unmöglich, einen Besuch der Menschenrechtskommissarin des Europarats auf der Krim zu organisieren. Die Organisation kann ihren Monitoring-Aufgaben u. a. deswegen nicht nachkommen.

Eine weitere beunruhigende Entwicklung stellte die Verabschiedung eines russischen Gesetzes im Dezember 2015 dar, das es dem Verfassungsgericht ermöglicht, Urteile des EGMR außer Kraft zu setzen, falls festgestellt wird, dass sie gegen die russische Verfassung verstoßen. Dies, obwohl Artikel 15 der russischen Verfassung besagt, dass internationale Abkommen (wie z. B. die Europäische Menschenrechtskonvention) Vorrang vor der russischen Gesetzgebung haben. Dieses Gesetz wird zwar selektiv angewandt, wohl um besonders unliebsame Urteile zu umgehen, aber es könnte im Prinzip jedes Urteil treffen, da die Justiz in Russland nicht unabhängig, sondern de facto der Exekutive untergestellt ist.

Diese Tatsachen verdeutlichen, dass Russland nach wie vor seine Verpflichtungen im Europarat nicht ernst nimmt. Da offensichtlich keine Bedingungen aufgestellt wurden, die Russland erfüllen musste, um die Stimmrechte seiner Delegation in der PV zurückzuerhalten, können offizielle Akteure in Russland die (jetzt aufgehobenen) Sanktionen als einen Fehler darstellen. Hierin werden sie anscheinend von der Venedig-Kommission des Europarats bestärkt, die am 9. Dezember 2019 zum Schluss gekommen ist, dass die Krim-Annexion nicht unbedingt ein ausreichender Grund für die damalige Suspendierung der Stimmrechte darstellt. In dieser Situation kann die Rückkehr der Delegation in die PV als gnädige Handlung geschildert werden, die keiner weiteren Schritte des Entgegenkommens bedarf – außer der Begleichung der fehlenden Mitgliedsbeiträge, die bereits erfolgt ist. Es ist klar, dass mit dieser Haltung Russland alles andere als motiviert sein wird, sein bisheriges Verhalten im Europarat zu ändern. Im Gegenteil wird die russische Delegation sich ermuntert fühlen, so wie bislang zu agieren.

In den kommenden Monaten soll ein Mechanismus ausgearbeitet werden, bei dem die PV, die Generalsekretärin sowie das Ministerkomitee involviert werden, wenn Sanktionen verhängt werden sollen. Hierbei soll allerdings nach bisherigen Absprachen das Ministerkomitee das letzte Wort dabei haben. Dies ist problematisch, weil das Ministerkomitee in der Vergangenheit keinerlei Sanktionsbereitschaft gezeigt hat, auch bei gravierendem Fehlverhalten. Der zu entwickelnde Mechanismus wird also nicht nur komplexer und damit langwieriger sein als zuvor, sondern auch höchst unwahrscheinlich zu Sanktionen führen. Ein solcher Mechanismus würde nicht nur die Rolle der Parlamentarischen Versammlung schwächen, sondern auch die Glaubwürdigkeit des gesamten Europarats in Frage stellen, weil das Fehlverhalten von Mitgliedsstaaten weitgehend unbegrenzt toleriert wird. Nach der Erfahrung der EU mit den rechtsstaatlichen Defiziten in einigen Mitgliedsstaaten hätte eine Lehre für den Europarat sein müssen, dass es wichtig ist, klare und effektive Sanktionsmechanismen zu kreieren, die ein Signal an andere Staaten senden und somit auch präventiv wirken. Auch wenn der neue Mechanismus noch nicht vollständig ausgearbeitet wurde, erscheint derzeit die Gefahr groß, dass das Standing und der Einfluss des Europarats, mit denen es bereits jetzt nicht zum Besten steht, weiter sinken werden.

Fussnoten

Dr. Susan Stewart ist Leiterin (a. i.) der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.