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Der Aufstieg des Recep Tayyip Erdoğan | Türkei | bpb.de

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Der Aufstieg des Recep Tayyip Erdoğan Die neue türkische Gesellschaft

Çiğdem Akyol

/ 12 Minuten zu lesen

Seit 2003 regiert Recep Tayyip Erdoğan mit der AKP die Türkei. Er veränderte das Land und das politische System - vom demokratischen Aufbruch zur Autokratie.

Recep Tayyip Erdoğan vor dem Präsidentenpalast in Ankara. 2014 wurde der Sohn einfacher Arbeiter in höchste Staatsamt gewählt - als erster Präsident direkt vom Volk. (© picture-alliance)

Es waren versöhnliche Signale, die Recep Tayyip Erdoğan an seine Gegner aussendete. Als er im August 2014 als erster direkt gewählter Staatspräsidenten seine Siegesrede vom Balkon der Zentrale seiner Partei hielt, zeigte er sich ungewohnt diplomatisch. "Lasst uns heute alle gemeinsam einen gesellschaftlichen Aussöhnungsprozess beginnen", rief er. "Lasst uns die alten Auseinandersetzungen in der alten Türkei zurücklassen." Erdoğan versprach, Staatsoberhaupt aller 77 Millionen Türken zu sein. Doch dann schwenkte er um.

Heute, nach der Einführung des Präsidialsystems, sind die Gräben in der Bevölkerung tiefer denn je. Für seine Anhänger ist er eine Lichtgestalt, für seine Gegner ein Autokrat. Einig sind sich Freund und Feind aber darin, dass Erdoğan die Türkei stärker verändert hat als die meisten Politiker vor ihm. Seine politische Karriere ist von Höhen und Tiefen gekennzeichnet. Aber Erdoğan ist es gelungen, aus allen Krisen gestärkt hervor zu gehen.

Der "Taugenichts aus Kasımpaşa"

Das Kämpfen hat Erdoğan schon früh gelernt. Ganz tief unten, im Istanbuler Armutsviertel Kasımpaşa, begann der Werdegang des Sohnes frommer Zuwanderer aus dem Schwarzmeergebiet. Erdoğan wuchs in einem von islamischer Frömmigkeit geprägten Milieu auf. Hier waren die Frauen schon in seiner Kindheit entweder voll verschleiert oder trugen zumindest ein Kopftuch. Die Männer hockten vor den Teestuben, und ließen Gebetsketten durch die Finger gleiten.

Das "Recep Tayyip Erdoğan Stadı" im Istanbuler Stadtteil Kasımpaşa - Spielstätte des gleichnamigen Fußballklubs: hier wuchs Erdoğan auf. (Wikimedia) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Es war ein Milieu, an das nur die ihm Zugehörigen glaubten, nicht die Außenstehenden. Die schauten auf die einfachen Menschen von dort herab.

Erdoğans Vater war Seemann. Mit harter Arbeit versuchte er die Familie durchzubringen, viel Geld gab es nicht. Um das Familieneinkommen aufzubessern, verkaufte der Sohn Wasser, Sesamkringel und Süßigkeiten auf der Straße. Vom Vater wurden die Kinder mit körperlicher Gewalt gezüchtigt, so schildert der Sohn seine Kindheit rückblickend. Wenn Erdoğan etwas haben wollte, musste er es sich erarbeiten, geschenkt gab es nichts. Auch dies trug dazu bei, dass er sich später mit unbändigem Fleiß und enormen Ehrgeiz nach oben arbeitete.

Über das Viertel Kasımpaşa heißt es in Istanbul, die Menschen dort hätten alle die gleiche Körpersprache: Die rechte Schulter sei immer ein Stückchen weiter vorn und stehe leicht schief, die Beine stünden wie bei einem Raufbold auseinander, die Knie leicht angewinkelt – immer zum Kampf bereit. Als eine Zeitung Erdoğan einmal als "Taugenichts aus Kasımpaşa" bezeichnete, betonte er, dass ihn das keinesfalls störe: "Wer kein Taugenichts ist, kann diesen Job gar nicht machen. Untergehen und wieder hoch kommen, das ist es, was ein Taugenichts kann."

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Staatspräsidenten der Türkei

Der türkische Staatspräsident ist seit 1923 Staatsoberhaupt des Landes. Bis 2017 sollte er als „Hüter der Verfassung“ die Staatsorgane beaufsichtigen - seit 2018 hat das Amt die größte Machtfülle.

(© Public Domain) (© Public Domain) (© Public Domain) (© picture-alliance) (© picture-alliance) (© Turkish Naval Forces) (© picture-alliance/dpa) (© picture-alliance/dpa) (© picture-alliance/dpa) (© Public Domain) (© picture-alliance/AP)

Seine bescheidene Herkunft hat Erdoğan nie verschwiegen. Im Gegenteil: Er nutzt sie für seine Selbstinszenierung. "Ein Kasımpaşalı zu sein bedeutet, deutlich und männlich zu sein", sagte er. Einer aus dem Volk für das Volk. Als er später Bürgermeister von Istanbul war, kümmerte er sich persönlich um die Modernisierung des Viertels. Heute ist Erdoğans ehemalige Grundschule ein religiöses Gymnasium. Die Straßen sind gepflastert, es gibt mehrstöckige Häuser, Stromausfälle sind selten geworden und die Müllabfuhr holt den Unrat ab – geblieben ist das Image seiner Bewohner. Seit er Staatspräsident ist, heißt es auch: "Er kam als Prahlhans aus Kasımpaşa und kehrte zurück als ein Mann aus Etiler." Das ist ein nobler Viertel im Istanbuler Stadtteil Beşıktaş.

Erste politische Erfolge als Jugendlicher

Mit 15 Jahren schloss sich Erdoğan der damals neu gegründeten Interner Link: islamistischen Nationalen Heilspartei (MSP) an. MSP-Gründer Necmettin Erbakan wurde Erdoğans politischer Ziehvater. Erbakans Parolen für eine Rettung durch den Islam oder einen Gottesstaat müssen für Erdoğan wie eine Offenbarung geklungen haben. Der

Interner Link: Necmettin Erbakan - Erdoğans politischer Ziehvater - war von 1996 bis 1997 Ministerpräsident der Türkei. (© picture-alliance/dpa)

Ältere förderte ihn, er sah in Erdoğan den begabten Redner, den Mann mit ausgeprägten politischen Instinkten.

Bald wurde der Aufsteiger Vorsitzender der Jugendorganisation der Partei. In den nächsten Jahren folgte er Erbakan auf Schritt und Tritt. Das Engagement an seiner Seite war die Chance, der Armut zu entkommen. In diesen politischen Lehrjahren begriff Erdoğan, wie wichtig es war, sich mit den richtigen Leuten zu umgeben, politische Konkurrenten zu entmachten, Taktiken und Strategien auszuhandeln. Sein Ziel: Selbst Politiker werden, Einfluss nehmen. Sein rhetorisches Talent kam ihm dabei zugute, er fiel rasch auf. Nach dem Schulunterricht, so erzählt er, sei er oft auf verlassene Schiffe im Hafen von Istanbul geklettert und habe dort Reden zu einem imaginären Publikum gehalten. Dennoch: Zu dieser Zeit deutet nichts darauf hin, dass einer wie er einmal das höchste Amt des Staates bekleiden würde.

Seinen Durchbruch erlebte er 1994, als er zum Oberbürgermeister von Istanbul gewählt wurde. Als Verwalter der größten Stadt des Landes löste er in kurzer Zeit viele Probleme der Metropole und erarbeitete sich schnell Anerkennung: er organisierte die Müllabfuhr neu, ließ Grünflächen errichten und bekämpfte die Korruption. Von seiner scharfen islamistischen Rhetorik ließ er jedoch nicht ab, was auch damals schon Besorgnis in der laizistischen Republik auslöste. Die Abbildung leicht bekleideter Frauen auf Plakatwänden ließ er ebenso verbieten, wie den Ausschank von Alkohol in städtischen Betrieben.

Sowohl die MSP als auch deren Nachfolgepartei, die Interner Link: Refah Partisi wurden in den 1990er-Jahren jedoch verboten. Auch Erdoğan selbst wurde in dieser Zeit wegen Volksverhetzung verurteilt und sogar für einige Monate inhaftiert. Weitere politische Betätigung untersagten ihm die Richter - stoppen konnte ihn das nicht: Er löste sich von seinem Ziehvater Erbakan und gründete mit den gemäßigten Kräften der alten Partei die islamisch-konservative Interner Link: AKP, die im November 2002 einen überragenden Wahlsieg feiern konnte. Damit sollte für die Türkei eine neue Phase politischer und wirtschaftlicher Stabilität beginnen.

Mit der Regierungsübernahme schaffte er auch neue Klassenverhältnisse: Die historische Spaltung zwischen "schwarzen Türken" (Siyah Türkler) und "weißen Türken" (Beyaz Türkler) wurde durch Erdoğans Aufstieg aufgeweicht: Zu den "weißen Türken" zählt die kemalistische Elite, die das Land über Jahrzehnte regierte, und seit der Republikgründung 1923 Militär, Justiz und Medien dominierte. Streng dem Säkularismus verpflichtet, behielten sie sich vor, über das Zusammenleben und die Gestaltung der politisch-kulturellen Strukturen zu entscheiden. Dabei schauten sie auf die "schwarzen Türken" herab: Diese waren arm, religiös, konservativ und nur wenig gebildet. Politische Teilhabe wurde ihnen verweigert – bis der "schwarze Türke" Erdoğan 2003 die Regierung übernahm.

Das Ende des Kemalismus

Erdoğans dargestellte Religiosität, früher ein Hindernis für den politischen und gesellschaftlichen Aufstieg, ist heute ein Garant seiner Popularität. Als Aufsteiger aus der "rückständigen" Peripherie und frommer Muslim steht er für ein neues Politikerbild – fernab der Ideale der alten kemalistischen und militärischen Eliten. Sein Amtsantritt leitete auch symbolisch eine Veränderung ein, in der auf Interner Link: Staatsgründer Atatürk zurückgehenden Beziehung zwischen Staat und Religion: Vor Erdoğan war es in der säkularen Türkei z.B. über Jahrzehnte undenkbar, dass die Frauen führender Politiker zu offiziellen Anlässen ein Kopftuch getragen hätten. Die drastische Trennung von Staat und Religion, die in der Türkei zeitweise sogar zu einer Unterdrückung alles Religiösen führte, ließ diese Vermischung nicht zu. Inzwischen ist das Kopftuch auch in der Politik Normalität geworden, seit einigen Jahren gilt dies sogar für das Parlament, wo Abgeordnete seit 2013 auch offiziell ein Kopftuch tragen dürfen.

Das Kopftuch tragen auch Erdoğans Frau Emine und seine Töchter und Schwiegertöchter. Damit können die Erdoğans als Vorzeigefamilie einer neuen türkischen Elite gelten, die ihre Wurzeln zwar in Anatolien hat, in den Großstädten der Türkei heute aber eine neue Mittelschicht bildet und Modernität und religiöse Traditionen versucht in Einklang zu bringen.

Erdoğan hat viel dafür getan, dass praktizierende sunnitische Muslime in der Türkei nicht länger kulturell, wirtschaftlich und politisch ausgegrenzt werden. Die Interner Link: kemalistischen Reformen der zwanziger Jahre hatten die Religion – und damit auch die Religiösen – fast vollständig aus dem öffentlichen Leben verbannt. Erdoğan hingegen legitimierte Religion als Quell politischer Aktivität. Während seiner Regierungszeit wurden konservativ Gläubige sichtbarer und selbstbewusster – ihr Wertesystem wurde nun von "ihrem" Mann an der Spitze vorgelebt, gefördert und verteidigt.

Die Rückkehr des Islam in die Öffentlichkeit unter der Interner Link: AKP stieß in weiten Teilen der Bevölkerung auf große Zustimmung. Viele Türken fühlen sich in ihrer Kultur und Lebensweise von Erdoğan und anderen AKP-Politikern erstmals richtig anerkannt und empfinden es nur als gerecht, dass nach der jahrzehntelangen Dominanz der Kemalisten nun sie die Ordnung der Gesellschaft bestimmen können.

Erdoğan repräsentiert eine neue muslimische Intelligenz: Sie entstammt dem unteren Ende der sozialen Skala der türkische Gesellschaft, denkt postmodern und hat sich von den alten kemalistischen Eliten emanzipiert. Immer wieder zu zeigen, dass die AKP für religiöse Werte eintritt, ist für Erdoğan daher in gewisser Weise Pflichtprogramm. Seine Klientel, die religiösen Wähler, mussten und müssen weiter bedient werden: In diesem Zusammenhang stehen die Vielzahl an Neueröffnungen der religiösen Imam-Hatip-Schulen sowie seine Forderungen wie etwa nach geschlechtergetrennten Studentenwohnheimen, für ein Verbot des öffentlichen Küssens, oder etwa, dass jede türkische Frau fünf Kinder gebären sollte.

Die AKP verabschiedet sich Schritt für Schritt vom bisher obligatorischen Laizismus der Türkei. Kritiker werfen dem Staatspräsidenten daher eine schleichende Islamisierung des Landes vor. Die Symbole der "alten" Republik werden langsam von Erdoğans Mischung aus Modernisierung und konservativer Frömmigkeit verdrängt – das zeigt sich zunehmend auch im Stadtbild: So steht beispielsweise auf dem Marktplatz des Istanbuler Stadtteils Kayaşehir, nicht die obligatorische Statue des Republikgründers Atatürk, sondern eine Statue der staatlichen Baugesellschaft "Toki", mit Dankesinschrift an Erdoğan. Entsprechend der Vorstellung von einer Mischung aus religiöser Tradition und Moderne stehen daneben ein modernes Einkaufszentrum und der Neubau einer Moschee. Allein zwischen 2005 und 2015 wurden in der Türkei 8.985 neue Moscheen errichtet.

Auch auf dem Istanbuler Taksim-Platz wurde im Februar 2017 - mehr als drei Jahre nach den Gezi-Protesten - ein umstrittener Moschee-Bau genehmigt, ein Herzensprojekt des Staatspräsidenten. Die Zeitung "Hürriyet" berichtete, mit 30 Metern Höhe solle die Moschee ebenso hoch werden wie die beiden christlichen Kirchen in der Nähe des Platzes. Ebenfalls in Istanbul, auf dem Hügel Çamlıca, dem höchsten der Stadt auf der asiatischen Seite, entsteht die größte Moschee des Landes. Die Fundamente sind bereits errichtet. Hier sollen dereinst über 30.000 Gläubige Platz finden. Die Megamoschee soll sechs Minarette erhalten – ein Projekt, das an Prestigebauten der Herrscherhäuser der Golfmonarchien erinnert.

Bei Denkmalsetzungen dieser Art passt es ins Bild, dass der Staatspräsident sich auch einen neuen Amtssitz hat bauen lassen. "Ak-Saray" - weißer, reiner Palast - heißt Erdoğans neu errichteter Amtssitz in Ankara, den er im Herbst 2014 bezog. Der Bau hat mehr als 1.000 Zimmer, zum Palast gehört auch eine Moschee.

Aber nicht nur baulich verändert sich die Türkei. Die neuen Paradigmen haben sich auch in den Lehrplänen der Schule durchgesetzt: Religion hat einen höheren Stellenwert erhalten, die Beschäftigung mit dem Osmanischen Reich erhält mehr Platz und im Juni 2017 kündigte die Regierung an, die Evolutionstheorie von Charles Darwin aus den gesetzlichen Schullehrplänen streichen zu wollen.

Vom Reformer zum Autokraten

Jahrelang war Erdoğan ein Hoffnungsträger des Westens. In seiner Regierungszeit begannen EU und Türkei mit Beitrittsverhandlungen, ein Wirtschaftsboom mehrte das politische Gewicht des Landes und sorgte für wachsenden Wohlstand. Erdoğan ist der erste türkische Regierungschef, der zeitweise einer Lösung des Konflikts mit der kurdischen Bevölkerung nahe kam. Und schließlich drängte er den politischen Einfluss des Militärs zurück; eine der Hauptforderungen der Europäischen Union. Trotz dieser Erfolge warnten seine Kritiker schon früh, dass er sich nur als Reformer geben würde und dass er seine Ideologie nicht aufgegeben, sondern nur versteckt habe.

Bei diesem Weg nach oben wurde Erdoğan lange Zeit von dem Prediger Fethullah Gülen unterstützt. Beide teilten die tiefe Abneigung gegen die Kemalisten, der säkulare Elite der Türkei. Dieser gemeinsame Gegner ließ Gülen und Erdoğan zu erfolgreichen Verbündeten werden. Obwohl Gülen bereits seit 1999 in den USA lebt, war er bis zum Putsch im Juli 2016 allgegenwärtig in der Türkei: Zahlreiche Unternehmen und Medienhäuser waren mit seiner Bewegung Hizmet ("Dienst") verbunden.

Einen wichtigen Schwerpunkt legte seine Organisation schon früh auf die Bildungsarbeit. Durch Nachhilfeschulen und Universitäten schaffte es Gülen bei vielen jungen Türkinnen und Türken Loyalitäten zu erzeugen, die bis ins Berufsleben hinein hielten. Besonders großen Einfluss soll die Bewegung durch diesen "Marsch durch die Institutionen" so in Polizei und Justiz erhalten haben.

Solange der gemeinsame Gegner - Kemalisten und das säkulare Militär - nicht geschlagen war, hielt diese Allianz zwischen Erdoğan und Gülen. 2010 äußerte der Prediger im Zuge des Interner Link: Eklats um die Mavi Marmara erstmals Kritik an Erdoğan, damals noch Ministerpräsident. Das Verhältnis verschlechterte sich in den folgenden Jahren zusehends und gipfelte 2013 im offenen Krieg: Auslöser waren Ermittlungen in einem Korruptionsskandal. Bei Großrazzien nahm die Polizei Dutzende Verdächtige wegen Schmiergeldvorwürfen fest, darunter Ministersöhne, Beamte und regierungsnahe Geschäftsleute.

Die Regierung warf Gülen vor, hinter den Ermittlungen zu stecken, und schlug zurück: In der Folge wurden mehrere tausend Polizisten und Staatsanwälte zwangsversetzt, der Skandal wurde unterdrückt. Ins Visier des Staates geriet auch das Medien-Imperium der Gülen-Bewegung mit der Zeitung "Zaman" als Flaggschiff: Polizisten stürmten das Redaktionsgebäude, die Zeitung wurde auf Regierungskurs gezwungen. In der Zwischenzeit wurde die Gülen-Bewegung zur Terrororganisation FETÖ (Fethullahçı Terör Örgütü, zu deutsch: "Fethullahistische Terrororganisation") erklärt. Viele ihrer führenden Köpfe stehen auf einer Liste der meistgesuchten Terroristen der Türkei; auch Fethullah Gülen selbst, dessen Auslieferung die Türkei von den USA fordert.

Der Putschversuch im Juli 2016

Die jüngste und höchste Eskalationsstufe erreichte dieser Konflikt mit dem gescheiterten Putschversuch 2016, so jedenfalls die offizielle Darstellung der Türkei. Den die macht dafür den im US-Exil lebenden Gülen verantwortlich. So setzte unmittelbar nach dem Putsch-Wochenende eine der größten "Säuberungswellen" ein, die das Land je erlebt hat. Erdoğan geht dabei jetzt noch vehementer als bislang gegen seine Opponenten vor. Die Revolte sei "letztendlich ein Segen Gottes", sagte er noch in der Nacht des Putschversuches. Er werde nun als Anlass dafür dienen, "dass unsere Streitkräfte, die vollkommen rein sein müssen, gesäubert werden".

Aber nicht nur die Streitkräfte, der gesamte öffentliche Sektor und auch der private haben die Auswirkungen zu spüren bekommen. Der im Juli 2016 für drei Monate verhängte Ausnahmezustand wurde seither immer wieder verlängert (Stand Oktober 2017). Mehr als 100.000 Staatsbedienstete wurden laut der Nachrichtenagentur Anadolu entlassen: Lehrer, Militärs, Polizisten, Staatsanwälte und Richter, außerdem kurdische Oppositionelle und kritische Journalisten. Schon der Verdacht, der Bewegung nahe zu stehen, kann in der Türkei ausreichen für den Verlust der eigenen wirtschaftlichen Existenz.

Gülen selbst weist den Vorwurf, hinter dem gescheiterten Putschversuch zu stehen, zurück: "Meine Botschaft an das türkische Volk ist, eine militärische Intervention niemals positiv zu sehen." Eine Beteiligung seiner Anhänger könne er nicht ausschließen, denn er sei sich inzwischen unsicher, wer seine Anhänger in der Türkei seien, zitierte die "New York Times" den Prediger. Laut "Guardian" deutete der Prediger auch an, Erdoğan selbst könne den Putsch inszeniert haben.

Doch Erdoğan konnte sich zuletzt noch der Zustimmung einer Mehrheit der Türken sicher sein: 51,41 Prozent stimmten am 16. April 2017 für die von seiner Partei vorgeschlagene Interner Link: Verfassungsreform.

In der "Neuen Türkei" ("Yeni Türkiye"), von der Erdoğan gerne spricht, wird die politische Führung nicht mehr von einer elitären Minderheit getragen, so wie es über viele Jahrzehnte der Fall war. Erdoğans Basis ist der Teil der türkischen Bevölkerung, der über Generationen hinweg in bescheidenen Verhältnissen lebte, aber seit Beginn der Regierungszeit Erdoğans im Jahr 2003 einen enormen wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg erfahren hat. Von dieser nunmehr selbstbewussten Basis lebt die Popularität des Staatspräsidenten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Çakır, Ruşen; Çalmuk, Fehmi: Recep Tayyip Erdoğan. Bir Dönüşüm Öyküsü, (Recep Tayyip Erdoğan. Die Geschichte eines Wandels). Istanbul 2001, 16–17.

  2. Çakır, Ruşen; Çalmuk, Fehmi: Recep Tayyip Erdoğan. Bir Dönüşüm Öyküsü, (Recep Tayyip Erdoğan. Die Geschichte eines Wandels). Istanbul 2001, 16–17.

  3. Unter anderem wurde eine städtische Meldestelle eingerichtet, bei der jeder Bürger Verdachtsfälle auf Korruption anzeigen konnte.

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Die Journalistin und Autorin Çiğdem Akyol lebt und arbeitet in Berlin und Istanbul. 2015 und 2016 veröffentlichte sie "Generation Erdoğan. Die Türkei - ein zerrissenes Land im 21. Jahrhundert." sowie "Erdoğan: Die Biografie."