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Digitalisierung und Menschenrechte | Themen | bpb.de

Digitalisierung und Menschenrechte

Ben Wagner Kilian Vieth

/ 7 Minuten zu lesen

Digitalisierung durchdringt alle öffentlichen und privaten Lebensbereiche – und hat damit auch Auswirkungen auf Menschenrechte. Digitale Technik kann helfen, Menschenrechte durchzusetzen; sie kann aber auch zu neuen Formen von Menschenrechtsverletzungen führen. In der Debatte um Menschenrechte wurde Digitalisierung bislang meist auf die Themen Überwachung und Zensur reduziert – dies greife jedoch zu kurz, so die Autoren Ben Wagner und Kilian Vieth.

Krise in Mazedonien - Proteste gegen Regierung in Skopje im April 2016. (© picture alliance / PIXSELL)

Der Prozess der Interner Link: Digitalisierung ist nicht als rein technisches, sondern auch als gesellschaftliches Phänomen zu begreifen. Wie sich Digitalisierung auf unser Leben und unser Zusammenleben mit anderen auswirkt, ist immer auch eine politische Frage. Einerseits heißt das, Technik beeinflusst menschliches Verhalten und Denken. Andererseits beeinflussen Menschen aber auch, wie Technologie verwendet wird, was sie tut und wie sie funktioniert. Die entscheidende menschenrechtliche Frage ist daher nicht nur: Was machen neue Technologien mit Menschen? Sondern eben auch: Was machen Menschen mit Technologien?

In der Debatte um Menschenrechte wurden die Antworten auf diese Frage bisher meist auf die Themen Überwachung und Zensur verkürzt. Daher ist es wichtig zu betonen, dass die Digitalisierung alle Lebensbereiche und Menschenrechte betrifft. "Das Digitale" ist keine isolierte, virtuelle Sphäre jenseits einer "realen" Welt, sondern unmittelbar und auf vielfältige Weise in unsere Lebenswelt integriert. Daher ist etwa der Begriff des "Cyberraums" durchaus kritisch zu bewerten, denn er suggeriert einen von der Realität losgelösten, separaten Raum. Der universelle Ansatz der Menschenrechte darf nicht eingeschränkt werden, nur weil es um digitale Kommunikation, Roboter oder Computernetzwerke geht.

In keinem Land der Welt werden alle Menschenrechte erfolgreich durchgesetzt. Genauso wenig werden alle Menschenrechte bei der Gestaltung und Anwendung von Technologien ausreichend berücksichtigt. Digitale Technik kann helfen, Menschenrechtsverletzungen zu reduzieren, indem sie für größere Transparenz von Prozessen sorgt, Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen erleichtert oder eine öffentliche Debatte zu menschenrechtlichen Themen ermöglicht. Sie kann aber auch zu neuen oder verschärften Formen von Menschenrechtsverletzungen führen. Anhand einiger zentraler thematischer Blocks wollen wir daher die Breite und Tiefe der Umwälzungen der Digitalisierung sowie deren menschenrechtliche Implikationen deutlich machen.

Vorab gilt es zunächst darauf hinzuweisen, dass Menschenrechte nie absolut und uneingeschränkt gelten können, da sie oftmals in Konflikt miteinander stehen und deshalb gegeneinander abgewogen werden müssen. Diese Abwägung von universellen Freiheits- und Gleichheitsrechten findet logischerweise auch im Internet statt. Im Folgenden soll es also nicht darum gehen ob, sondern wie Menschenrechte im Internet Anwendung finden.

Zugang zu Kommunikation

Der Zugang zum Internet ist eine wichtige Voraussetzung, um Rechte und Freiheiten ausüben zu können und am demokratischen Prozess zu partizipieren. Internetzugang ist zwar kein verbrieftes Menschenrecht, in der heutigen Informationsgesellschaft ist jedoch eine effektive Teilhabe ohne Zugang zu digitaler Kommunikation nur sehr eingeschränkt möglich. Eines der Externer Link: Nachhaltigkeitsentwicklungsziele der UN sieht daher vor, den Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologie signifikant zu verbessern und bis 2020 weltweit erschwinglichen Internetzugang zu ermöglichen.

In vielen Staaten steht die gezielte Abschaltung von Kommunikationsnetzen jedoch häufig auf der Tagesordnung. Meist geschieht dies im Zuge politischer Krisen, wie etwa dem Arabischen Frühling, wenn Regierungen die Sicherheit gefährdet sehen. Aber auch kurz vor Wahlen oder während Massenprotesten sind Abschaltungen sehr weit verbreitet. Doch ein freier, allen Menschen offenstehender und stabiler Zugang zu einer allgemeinen Informations – und Kommunikationsinfrastruktur ist Voraussetzung für die Verwirklichung von Menschenrechten.

Beispiel Netzneutralität

Ein Prinzip, durch das der freie und gleiche Zugang zu digitaler Kommunikation sichergestellt werden soll, ist die Netzneutralität. Dies bedeutet, dass alle Daten, die durch das Internet geleitet werden, gleich behandelt werden. Also ein Diskriminierungsverbot für Daten, das ausschließt, einzelne Internetdienstanbieter zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Damit soll die egalitäre Grundstruktur des Internets geschützt werden, nach der jede*r sich ohne Einschränkung an das Internet anschließen und Inhalte anbieten oder abrufen kann. Gibt es keine Netzneutralität, können Internetzugangsanbieter zum Beispiel für einzelne Plattformen Extragebühren verlangen und kleinen Anbietern den Zugang erschweren, wodurch der Wettbewerb, die Offenheit und die Vielfalt der Angebote im Internet eingeschränkt wird.

Gleichstellung und Digitalisierung

Ein zentrales Prinzip der Menschenrechte ist die Gleichberechtigung aller Menschen. Einerseits setzen sich Repression und Benachteiligung auch im Internet fort. Andererseits zeigt sich, dass Technologie Gleichbehandlung fördern kann.

Um den Zusammenhang zwischen Diskriminierung und Technologie besser zu verstehen, hilft es zwischen absichtlicher und unabsichtlicher Diskriminierung zu unterscheiden. Wenn ein Mensch einem anderen bewusst, etwa aus Hass oder Neid, Schaden zufügt, handelt es sich dabei um absichtliche Diskriminierung. Diese explizite Diskriminierung tritt zum Beispiel als "hate speech" (Hassrede) auf Social Media-Plattformen auf. Menschen beleidigen und bedrohen andere Menschen aus voller Absicht, etwa weil sie eine andere Hautfarbe, ein anderes Geschlecht, eine andere sexuelle Orientierung haben oder einer anderen Religion angehören. Im Umgang mit hate speech muss zum Beispiel zwischen dem Recht auf Nicht-Diskriminierung und dem Recht auf Meinungsfreiheit abgewogen werden.

Unabsichtliche Diskriminierung ist hingegen das Ergebnis unbewusster Vorurteile und ein strukturelles Phänomen. Diskriminierende Strukturen können sich in den Gesetzen und Vorschriften eines Landes sowie in den sozialen Normen und Traditionen einer Gesellschaft widerspiegeln oder eben auch in der Technologie, die uns umgibt. Ungleichbehandlung und Ausgrenzung kann oftmals unmerklich in einem technischen System eingebaut sein: beispielweise indem automatisierte Externer Link: Algorithmen, die Sozialversicherungen bei der Aufnahme neuer Mitglieder nutzen, diskriminieren – etwa nach Geschlecht, Einkommen oder sexueller Orientierung.

Beispiel Entscheidungen von Algorithmen

Unternehmen und Staaten nutzen immer öfter Software, um Entscheidungen zu treffen, die zuweilen erhebliche Konsequenzen für die Betroffenen haben. Computer berechnen zum Beispiel für einige Regierungen: Wer soll Sozialhilfe bekommen (Polen)? Wer soll überwacht werden (NSA)? Wo soll die Polizei präsent sein (predictive policing, z.B. USA)?

In Unternehmen werden wiederum andere Fragestellungen von Computern (mit)entschieden: Wer bekommt welche Werbung angezeigt? Wer bekommt den Arbeitsplatz? Wer bekommt eine Krankenversicherung oder einen Externer Link: Kredit? Diese Fragen sind marktwirtschaftlicher Alltag und nicht an sich diskriminierend. Externer Link: Studien zeigen jedoch, dass einzelne Gruppen von Menschen mit einem bestimmten Externer Link: Geschlecht, Hautfarbe oder sexueller Orientierung bei diesen Entscheidungen strukturell benachteiligt werden.

Freie Meinungsäußerung und Medienfreiheit

Die frühe Entwicklung des öffentlichen Internets in den 1990er Jahren stellte einen Glücksfall für die Meinungs- und Medienfreiheit dar. Menschen, die bisher nicht in der Lage waren, breit zu kommunizieren, wurde dies durch den wachsenden Einzug von Informationstechnologie in den Alltag ermöglicht. Vor allem technikaffine und wohlhabende Menschen haben von dieser Entwicklung profitiert, wodurch bereits privilegierte Stimmen eher verstärkt wurden als andere. Auch auf die Rolle der Medien hat die Digitalisierung einen enormen Einfluss. Das Internet hat dafür gesorgt, dass Menschen weniger stark von einzelnen Medien abhängen und sich breiter informieren können. Medienproduktion und Mediennutzung ist vielfältiger geworden.

Mit der zunehmenden Oligopolisierung des Internets in den 2000er Jahren wurde eine kleine Gruppe von Unternehmen maßgebend für die Grenzen dessen, was im Internet gesagt werden konnte. Große Unternehmen wie Google, Facebook, Apple oder Twitter bestimmen primär auf Grundlage ihrer Unternehmenskodizes die Grenzen der Meinungsfreiheit im Netz. Die Kontrolle der Meinungsfreiheit durch diese Konzerne geht oft weit über bestehende rechtliche Schranken hinaus. Durch ihre dominierende Stellung gelingt es Internetunternehmen damit, ein eigenes privates internationales Rechtsregime zur freien Meinungsäußerung zu etablieren. Damit entscheiden die allgemeinen Geschäftsbedingungen eines Internetunternehmens über die Auslegung der freien Meinungsäußerung, in dem zum Beispiel viele rechtlich vollkommen legale Inhalte wie etwa von stillenden Müttern komplett von Facebook entfernt werden. Gleichzeit werden Nationalstaaten auch zum Zensor im Internet und ignorieren dabei oft bestehende internationale Menschenrechtsstandards: Länder wie China, Iran, Tunesien und Russland, aber auch Großbritannien erlassen immer wieder massive nationale Beschränkungen der Meinungsfreiheit, in dem sie Inhalte aus dem Internet herausfiltern. Hierbei werden meist die gleichen Argumente hervorgebracht: Schutz der Gesellschaft vor falscher Kultur oder Ideen; Schutz von Kindern; Eindämmung von terroristischer Propaganda; Verhinderung der Verbreitung illegaler Kopien von Musik, Filmen oder Software; Eindämmung von Pornographie. Dabei kommt es häufig zu Interessenkonflikten - im Folgenden seien einige Beispiele genannt:

Beispiel Versammlungsfreiheit und Partizipation

Durch neue Technologien wird es in vieler Hinsicht leichter, große Versammlungen zu organisieren. Häufig sind digitale Technologien bei der Organisation und Koordination von Demonstrationen oder Kundgebungen allgegenwärtig.

Diese Technologien wiederum erzeugen eine Vielzahl von Daten, wodurch es leichter wird, Menschen nachträglich im Rahmen ihres Demonstrationsrechts zu kriminalisieren. Demonstrationen sind in der Regel durch diverse kleine Rechtsüberschreitungen gekennzeichnet ('micro violations'), die typischerweise weder geahndet werden können noch sollen. Durch das ständige Hinterlassen von Datenspuren sowie die systematische Erfassung von Demonstrationsteilnehmer*innen durch Polizei und Sicherheitsbehörden verändert sich das Wesen des Demonstrationsrechts. Anstatt politische Partizipation aktiv zu fördern, können Menschen eher abgeschreckt werden, an Demonstrationen teilzunehmen.

Privatsphäre und Datenschutz

Viele digitale Technologien haben die Überwachung von Menschen durch staatliche Einrichtungen und private Unternehmen wesentlich einfacher, billiger und präziser gemacht. Von der Nutzung einer Suchmaschine, über das gezielte oder massenhafte Abfangen von Information im Internet bis zu Überwachungskameras an Bahnhöfen oder bei der Arbeit – jede Interaktion mit einem digitalisierten Objekt hinterlässt Datenspuren, die gespeichert werden können.

Was Letzteres betrifft: Das Recht auf Privatsphäre muss am Arbeitsplatz genauso geachtet werden wie in der privaten Kommunikation. Zwischen dem Beschäftigten und seinem Arbeitgeber besteht ein Machtungleichgewicht, da sich der Beschäftigte in einer strukturellen Abhängigkeit gegenüber dem an Kapital und anderen Ressourcen deutlich überlegenen Unternehmen befindet. Deshalb kommt dem Beschäftigtendatenschutz und der Regulierung von Überwachungsmöglichkeiten am Arbeitsplatz eine gesonderte Rolle zu. Die vielfältigen technischen Möglichkeiten der Überwachung, von Kameras, Mikrophonen, biometrischer Zugangserfassung und GPS-Ortung bis zu spezieller Software, die jeden einzelnen Tastendruck am Computer aufzeichnet, verändern die Arbeitswelt. Daher müssen Arbeitgeber ihre Beschäftigten über alle durchgeführten Überwachungsmaßnahmen aufklären und Beschäftige die Möglichkeit haben, sich gegen Überwachungsmaßnahmen zu wehren.

Fazit

Insgesamt zeigen die oben genannten Beispiele, dass Menschenrechte im digitalen Bereich viele grundlegende Rechte betreffen. Auch wenn zumeist über Privatsphäre und freie Meinungsäußerung gesprochen wird, muss die Debatte über Digitalisierung und Menschenrechte weiter gefasst werden und sämtliche Menschenrechte einschließen. Wie Menschenrechte in diesem Bereich genau gestaltet werden, ist noch offen. Es bedarf daher umso mehr einer kritischen Öffentlichkeit, die ihre Verankerung im digitalen Bereich sicherstellt.

Weitere Inhalte

Ben Wagner ist Chef des Externer Link: Centre of Internet & Human Rights (CIHR) der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und ist zuständig für sämtliche Forschungsprojekte. Der promovierte Politik- und Sozialwissenschaftler forscht schwerpunktmäßig u.a. zu den Themen digitale Rechte und der Rolle des Internets in der auswärtigen Politik. Er hatte unter anderem ein Forschungsstipendiat an der Universität von Pennsylvania sowie ein Gaststipendiat bei Human Rights Watch und dem Rat für auswärtige Beziehungen.

Kilian Vieth arbeitet und forscht am Externer Link: Centre of Internet & Human Rights (CIHR) der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Seine Forschungsinteressen sind kritische Sicherheitsstudien, Digitalisierung der Arbeit und Ethik von Algorithmen.