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Menschenrechte in Europa | Themen | bpb.de

Menschenrechte in Europa Ein Gespräch mit der Staatsrechtlerin Anne Peters über den Menschenrechtsschutz in Europa

Anne Peters

/ 3 Minuten zu lesen

Wie effizient ist der Menschenrechtsschutz in Europa?

Peters: Der Menschenrechtsschutz in Europa ist im weltweiten Vergleich sehr effizient. Es darf nicht vergessen werden, dass die wichtigste Instanz zur Durchsetzung auch der international verankerten Menschenrechte die nationalen Behörden und Gerichte sind. Die internationalen Stellen haben nur eine Auffangfunktion.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg mit der Möglichkeit der Individualbeschwerde ist weltweit einzigartig und hat Modellcharakter. Er ist allerdings gewissermaßen Opfer seines eigenen Erfolges geworden. Vor allem in den osteuropäischen Mitgliedstaaten liegen schwere und systematische Menschenrechtsprobleme vor, die z.T. wegen Systemdefiziten in den Transformationsstaaten nicht im Land selber behoben werden können.

Es sind momentan in Strassburg über 100.000 Beschwerden anhängig, davon ca. ein Viertel aus Russland. Für das Jahr 2010 wird ein Anstieg auf 250.000 prognostiziert. Das 14. Protokoll zur Verfahrensreform des Gerichtshofs, das im Jahr 2006 zwecks Entlastung des EGMR verabschiedet wurde, ist mangels der einzig noch fehlenden russischen Ratifikation noch nicht in Kraft getreten.

Neben dem EGMR sind in Europa weitere (nach Ansicht mancher sogar zu viele) überstaatliche Instanzen für den Menschenrechtschutz zuständig, z.B. der Gerichtshof der EU (EuGH) in Luxemburg. Hier stellen sich Fragen der Doppelarbeit und der Kompetenzabgrenzung zwischen den Gerichten.

Die im Jahr 2007 eröffnete Grundrechteagentur in Wien befasst sich nicht mit Individualbeschwerden sondern hat eine rein unterstützende Funktion, u.a. die Aufgabe der Datensammlung über die Entwicklung der europäischen Menschenrechtslage.

Welche sind die Sorgenkinder?

Sorgenkinder im wahrsten Sinne des Wortes sind die "illegalen Kinder", also die Kinder von illegal in einem Staat anwesenden Ausländern. Sie wachsen oft in Isolation auf, so dass ihre Bildung nicht sichergestellt wird.

Im Namen des "Kriegs gegen den Terror" werden zunehmend Menschenrechte (z.B. das Recht auf Schutz vor willkürlicher Verhaftung, Schutz vor unmenschlicher Behandlung, Privatsphäre) eingeschränkt und zum Teil verletzt. Europäische Regierungen beteiligten sich offenbar an Überstellungen und Abschiebungen in Staaten, in denen den Betroffenen Folter und Misshandlung drohten.

Ein Dauerthema ist rassistische Polizeigewalt. Polizeibehörden missachten immer wieder den Schutz von festgenommenen Personen und ermöglichen keinen Zugang zu einem Anwalt. Teilweise fehlen auch unabhängige Instanzen, die sich um Beschwerden über Folter und Misshandlungen durch Behörden, insbesondere die Polizei, kümmern.

Im Bereich des Flüchtlingsrechts werden aufgrund verschärfter Einreise-, Aufenthalts- und Asylgesetzgebung Menschenrechte eingeschränkt und zum Teil, insbesondere durch Inhaftierungen und die Unerreichbarkeit von rechtlichem Beistand. Das Schengener Informationssystem sieht eine Ausschreibung zum Einreiseverbot von abgewiesenen Asylanten in allen Signatarstaaten vor. Es bringt also eher eine Verschärfung des Flüchtlingsrechts mit sich.

Ein weiteres wichtiges Thema ist Gewalt gegen Frauen. Viele Frauen fordern ihre Rechte nicht ein, weil sie fürchten, dass die Justiz ihnen nicht weiterhelfen wird, weil sie sich in einer finanziellen Notlage befinden oder weil ihr Aufenthaltsstatus nicht klar ist. Migrantinnen sind einerseits besonders stark von gewalttätigen Übergriffen bedroht und werden andererseits vielfach unmittelbar oder mittelbar diskriminiert, wenn sie sich an Gerichte wenden.

Wo haben wir Nachholbedarf?

Amnesty International hebt im Jahresbericht 2008 in Bezug auf Europa folgende Themen hervor: Rassistische Diskriminierung, Menschenrechtsverletzungen im Zuge des Kampfes gegen den Terror sowie fehlende Massnahmen für Opfer familiärer Gewalt. Insbesondere die Marginalisierung der Roma ist in allen europäischen Ländern, vor allem in Osteuropa, aber auch im Westen, ein strukturelles Problem. Eine gesamteuropäische neue Strategie zur Bekämpfung der Diskriminierung der Roma in Europa scheint mir erforderlich zu sein.

Außerdem besteht grundsätzlich noch eine gewisse West-Ostkluft im Menschenrechtsschutz in Europa, die überbrückt werden sollte.

Das Interview führte Tabea Reissenberger.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Anne Peters, geb. 1964, ist Ordinaria für Völker- und Staatsrecht an der Universität Basel. Zu ihren Forschungsfeldern gehören Strukturfragen des allgemeinen Völkerrechts, europäisches Verfassungsrecht, Verfassungstheorie und nationaler sowie internationaler Menschenrechtsschutz.