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Fallbeispiel: Die OSZE und der Ukraine-Konflikt 2015 | OSZE | bpb.de

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Fallbeispiel: Die OSZE und der Ukraine-Konflikt 2015 Erste Lehren für das Krisenmanagement

Fred Tanner

/ 10 Minuten zu lesen

Botschafter Fred Tanner, Senior Adviser beim OSZE-Generalsekretär, betrachtet die operative Reaktion der OSZE auf den Ukraine-Konflikt als Erfolg. Der seit 2011 aufgebaute Mechanismus, der Frühwarnung und rechtzeitiges Handeln bei Krisen gewährleisten soll, habe insgesamt funktioniert. Innovativ sei das Zusammenwirken mit "Kontaktgruppen" einflussreicher Mitgliedsstaaten.

OSZE-Fahrzeuge in Gorlovka (Donezk, Ukraine) am 14. Dezember 2016. (© picture-alliance, ZUMA Presse)

Nach dem wegweisenden OSZE-Ministerratsbeschluss 3/11 von 2011 über die Elemente des Konfliktzyklus hat die OSZE ihre Fähigkeit signifikant verbessert, während des gesamten Konfliktzyklus – von der Frühwarnung und frühzeitigem Handeln über Dialogerleichterung bis hin zur Konfliktnachsorge – wirksam zu handeln. Die Krise in der und um die Ukraine ist zu einem ersten Testfall für den Beschluss geworden.

Das Scheitern der Prävention: Frühwarnung ohne frühzeitige Reaktion

Russlands Annexion der Krim Mitte März 2014 hatte die meisten Experten und politischen Entscheidungsträger überrascht. Dennoch reagierte die OSZE schnell. Allerdings mussten bereits Anfang März die von OSZE-Institutionen auf der Krim durchgeführten Erkundungsmissionen und Initiativen des neu ernannten Sonderbeauftragten des Amtierenden Vorsitzenden u.a. wegen Drohungen örtlicher Selbstverteidigungsmilizen und Anti-OSZE-Demonstrationen abgebrochen werden. Da sich nun weder OSZE-Vertreter noch andere internationale Organisationen auf der Krim befanden, war die internationale Gemeinschaft nicht in der Lage, frühzeitig zu reagieren.

In Bezug auf den Konflikt in der Ost-Ukraine sah es deutlich anders aus. Hier haben die OSZE-Institutionen ihre Frühwarnfunktionen erfüllt. Verschiedene OSZE-Akteure reisten im Rahmen von Erkundungs- und Beurteilungsmissionen in die Ukraine. Auf dieser Grundlage konnte der Generalsekretär auf zahlreichen Treffen Ende 2013 frühwarnungsrelevante Informationen bereitstellen. Die OSZE-Beauftragte für Medienfreiheit verurteilte am 29. November 2013 öffentlich Angriffe auf Journalisten in der Ukraine und warnte vor einer Verschlechterung der Lage.

Am 3. Dezember 2013 äußerte sich der Präsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, Ranko Krivokapić, öffentlich tief besorgt über die Gewaltausbrüche während der Demonstrationen in der Ukraine, forderte alle Seiten nachdrücklich auf, auf Provokationen zu verzichten und einen Dialog zu beginnen. Seit die USA am 12. Dezember 2013 die Ukraine-Krise erstmals im Ständigen Rat der OSZE thematisierten, ist sie zu einem regelmäßigen Tagesordnungspunkt in dem Gremium geworden.

Dafür dass es der OSZE trotzdem nicht gelungen war, auch frühzeitig zu handeln, gibt es zwei zentrale Gründe:

Erstens ist der OSZE-Generalsekretär trotz des Ministerratsbeschlusses 3/11 praktisch nicht befugt, in der Frühphase eines sich abzeichnenden Konflikts initiativ zu werden. Der Ständige Rat konnte sich in den letzten Jahren nicht dazu durchringen, einen Krisenfonds für den Generalsekretär einzurichten, aus dem frühzeitige präventive Maßnahmen finanziert werden könnten. Ein solcher Fonds hätte z.B. zur Finanzierung von Erkundungsmissionen, von im Sekretariat fehlendem technischem Know-how sowie von kurzfristigen Projekten beitragen können. Darüber hinaus sind aber auch zusätzliche politische Befugnisse notwendig.

Zweitens war es unmöglich zu handeln, solange die Ukraine den eskalierenden Konflikt als rein innenpolitische Angelegenheit behandelte und nicht bereit war, internationale Unterstützung zu akzeptieren – bis es zu spät war. Die damalige ukrainische Regierung unter Präsident Viktor Janukowitsch, die 2013 den OSZE-Vorsitz innehatte, war nicht dazu bereit, die Schwere der Probleme anzuerkennen.

Trotzdem konnte die OSZE einige Maßnahmen ergreifen, um den Informationsfluss zu verbessern, der für eine gründliche Konfliktanalyse, Frühwarnung und eine rasche Reaktion unverzichtbar war. Über ihren Projektkoordinator in der Ukraine stimmten die verschiedenen OSZE-Institutionen ihre Frühmaßnahmen aufeinander ab. Obwohl der Projektkoordinator kein Mandat zur politischen Berichterstattung hat, gestattete die ukrainische Regierung der OSZE, ein Projekt zur Erleichterung eines nationalen Dialogs zu entwickeln, das von Botschafter Hido Biščević geleitet wurde.

Im Rahmen dieses Dialog-Projekts konnte die OSZE z.B. Experten nach Kiew sowie nach Odessa, Charkiw, Luhansk, Dnipropetrowsk, Donezk und Lwiw entsenden. Sie sprachen dort mit zahlreichen Menschen, darunter Vertretern staatlicher Einrichtungen, örtlicher Behörden, der Kirchen und der Zivilgesellschaft, um deren Ansichten und Anliegen zu erfahren und Ansatzpunkte für den Dialog zu identifizieren. Die in dieser frühen Phase der Krise gesammelten Informationen und Erkenntnisse wurden in informellen Workshops in Wien ausgewertet und an die Vereinten Nationen und regionale Organisationen weitergegeben.

Als es bei den Maidan-Demonstrationen zunehmend zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam, konnte die OSZE außerdem einen Experten in die Schweizer Botschaft in Kiew entsenden, um die Schweizer Vermittlungsbemühungen um die friedliche Rückgabe besetzter Gebäude an die Behörden zu unterstützen.

Nachdem Ende Februar 2014 in Kiew eine neue Regierung die Amtsgeschäfte übernommen hatte, konnte am 21. März 2014 in Wien endlich der Beschluss gefasst werden, eine Sonderbeobachtermission (Special Monitoring Mission, SMM) in der Ukraine einzurichten. Die Koordination für die rasche Entsendung und den Aufbau der Mission übernahm der OSZE-Projektkoordinator in Kiew.

Die Gestaltung der Beziehungen mit hochrangigen Kontaktgruppen

Am 17. April 2014 kamen zum ersten Mal die Außenminister der USA, Russlands und der Ukraine sowie die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik in Genf zu einer hochrangigen Kontaktgruppe zusammen, um die Verständigung über eine friedliche Beilegung der Differenzen in der Ukraine voranzubringen. Sie verständigten sich auf eine gemeinsame Erklärung, die mehrere Empfehlungen enthielt.

Zu den Empfehlungen gehörten die Entwaffnung illegaler Gruppen, die Rückgabe illegal besetzter Gebäude sowie die Etablierung eines breiten nationalen Dialogs zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Diese "Genfer Erklärung" erteilte der Sonderbeobachtermission der OSZE (SMM) auch den Auftrag, die "ukrainischen Behörden und Kommunen" bei Maßnahmen zur Deeskalation zu unterstützen. Der Schweizer OSZE-Vorsitz entwickelte einen Fahrplan, wie die OSZE die in Genf festgelegten Empfehlungen umsetzen könnte. Es stellte sich jedoch heraus, dass nicht alle der Mitgliedsstaaten bereit waren, ihren Teil der Verantwortung für den Fahrplan zu übernehmen, was ein strukturiertes und schrittweises Herangehen an die Bewältigung des Ukraine-Konflikts verhinderte.

Nachdem Petro Poroschenko im Mai 2014 zum Präsidenten der Ukraine gewählt worden war, wurde die "Genfer Gruppe" durch das sogenannte Normandie-Format abgelöst, in dem Deutschland und Frankreich den Platz der Vereinigten Staaten und der EU einnahmen. Die neue Kontaktgruppe traf sich zum ersten Mal anlässlich des 70. Jahrestages der Landung der Alliierten in der Normandie – deshalb ihr Name. Dort wurde u.a. die Einrichtung einer Trilaterale Kontaktgruppe zur Unterstützung der Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland vereinbart. Später wurden auch in der Ost-Ukraine operierende Rebellengruppen einbezogen.

Die Außenminister des „Normandie-Formats“ trafen sich erstmals am 2. Juli 2014 in Berlin. Sie einigten sich vor dem Hintergrund der rapide eskalierenden Gewalt im Donbas auf eine Erklärung, die der OSZE die Aufgabe übertrug, ein zukünftiges Waffenstillstandsabkommen "im Einklang mit ihrem Mandat" zu überwachen. Die Berliner Erklärung forderte die OSZE dazu auf, Beobachter an zwei Kontrollposten auf der russischen Seite der russisch-ukrainischen Grenze zu entsenden, um den fehlenden Zugang der SMM zu weiten Teilen der ukrainischen Grenzgebiete, die von Rebellengruppen kontrolliert wurden, zu kompensieren.

Die Eskalation des Konflikts im Donbas im Sommer 2014 führte zu verstärkten Bemühungen um ein Abkommen, das die Kämpfe beenden und den Weg für eine politische Lösung ebnen sollte. Die Arbeit der Trilateralen Kontaktgruppe trug im September 2014 Früchte, als sich die Vertreter der Ukraine, Russlands und der Separatisten nach intensiven Verhandlungen in der belarussischen Hauptstadt Minsk auf einen Waffenstillstand einigten. Trotz einer gewissen Deeskalation in vielen Gebieten im Herbst hörten die Kämpfe jedoch nie vollständig auf. Angesichts des erneuten Anstiegs der Gewalt seit Ende 2014 drohte das Waffenstillstandsabkommen Anfang 2015 sogar vollständig zu scheitern.

In dieser Situation fand erneut ein Treffen der Normandie-Gruppe im Februar 2015 in Minsk statt. Dort verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs das "Maßnahmenpaket für die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen". Das Paket war bei mehreren Arbeitstreffen des Normandie-Formats auf der Ebene von Experten und hochrangigen Beamten vorbereitet worden. Die OSZE war an den Vorbereitungstreffen beteiligt. Sie wurde bei den Verhandlungen in Minsk von Botschafterin Heidi Tagliavini vertreten, der Sonderbeauftragten des Amtierenden Vorsitzenden für die Trilaterale Kontaktgruppe.

Das hochrangige Normandie-Format hat u.a. verhindert, dass die Konfliktparteien neue Bedingungen in den politischen Prozess einbringen und damit die Verhandlungen zusätzlich erschweren. Russland führte zudem als "Normandie-Land" eine Resolution des UN-Sicherheitsrats herbei, um die Minsker Vereinbarungen auf internationaler Ebene zu bestätigen. Gleichzeitig wurde ein Weg gefunden, um einen Gesprächskanal der Trilateralen Kontaktgruppe zu den Vertretern der Separatisten in der Ost-Ukraine zu schaffen. Von nun an konnten sie an den Treffen teilnehmen, ohne der Gruppe formal anzugehören. Das Maßnahmenpaket für die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen wurde durch eine bekräftigende Erklärung ergänzt. In der Erklärung wird die Rolle der OSZE zwar nicht explizit erwähnt, die Unterzeichner verpflichteten sich jedoch, einen "Aufsichtsmechanismus im Normandie-Format" zu schaffen.

Dieser Aufsichtsmechanismus in Form von regelmäßigen Treffen hoher Beamter dient seitdem als Orientierung bei der Umsetzung der politischen Aspekte der Minsker Abkommen. Außerdem wurden auf dem Pariser Gipfeltreffen des Normandie-Formats am 2. Oktober 2015 Leitlinien für die vier Arbeitsgruppen der Trilateralen Kontaktgruppe für Sicherheitsfragen, politische Fragen, humanitäre Fragen und Wirtschaftsfragen vorgestellt. Die OSZE ist in allen diesen Arbeitsgruppen vertreten. Des Weiteren legte das Treffen der Außenminister des Normandie-Formats am 6. November 2015 in Berlin Leitlinien für die Arbeitsgruppe für politische Fragen mit dem Schwerpunkt Wahlen fest.

Bislang hat sich die Normandie-Gruppe elfmal auf der Ebene der Außenminister, stellvertretenden Außenminister und politischen Direktoren getroffen sowie dreimal auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs. Zusätzlich fanden mehrere Telefongespräche zwischen den Staats- und Regierungschefs der Normandie-Gruppe statt. Die OSZE wurde auf verschiedenen Wegen auf dem Laufenden gehalten, etwa durch Erklärungen an den Ständigen Rat. So gab z.B. die französische Delegation am 8. Oktober 2015 eine Erklärung zum Normandie-Gipfeltreffen vom 2. Oktober ab. Alternativ kann auch das Normandie-Gastgeberland eine öffentliche Erklärung abgeben, wie es z.B. nach dem Treffen in Berlin am 6. November 2015 der Fall war.

Ein solch hohes Maß an Koordination mit externen hochrangigen Kontaktgruppen ist für die OSZE relativ neu. Der Vorteil solcher hochrangigen Gruppen, wie der Genfer oder der Normandie-Gruppe, ist zweifellos ihr Einfluss auf die Konfliktparteien; zudem können sie die Agenda um Themen außerhalb des Aufgabenbereichs der OSZE erweitern. Nicht alle OSZE-Teilnehmerstaaten sind jedoch davon begeistert, das Kontaktgruppenmodell zu unterstützen, da solche Gruppen per definitionem nicht inklusiv sind und auch an Beispiel in der Geschichte erinnern können, wo sich Großmächte zusammentaten, um ihre Interessen auf Kosten kleinerer Staaten zu sichern, wie etwa beim Wiener Kongress (1814/15) oder der Konferenz von Jalta (1945).

Fazit

Die OSZE steht vor einer neuen Herausforderung, aber möglicherweise auch vor einer neuen Chance. Dazu gehört das enge Zusammenwirken mit "Kontaktgruppen" aus Mitgliedsstaaten, wie z.B. dem Normandie-Format. Voraussetzung ist, dass die OSZE auch in die Vorbereitung der Treffen solcher Gruppen einbezogen wird und ein regelmäßiger Informationsaustausch zwischen der Troika und dem Ständigen Rat gewährleistet ist. Diese hochrangigen Gruppen müssen ihrerseits sicherstellen, dass die Konfliktparteien Eigenverantwortung für die Umsetzung geschlossener Abkommen übernehmen. Das ist nicht immer leicht, da Beschlüsse hochrangiger politischer Gruppen oftmals vage sind, um die Unstimmigkeiten unter ihren Mitgliedern zu überdecken.

Die politische Pattsituation innerhalb der OSZE hält an. Um diese Herausforderung zu bewältigen, müssen sich die Teilnehmerstaaten auf einen offenen, langfristigen und systematischen politischen Prozess einlassen, in dem sie sich mit Meinungsverschiedenheiten auseinandersetzen. Europäische, amerikanische und kanadische Persönlichkeiten aus Politik und Wissenschaft haben 2015 Vorschläge für einen intensiven diplomatischen Prozess ausgearbeitet, die dazu beitragen könnten, den gegenwärtigen politischen Stillstand zu überwinden und die europäische Sicherheit wieder zu festigen.

Die in diesem Aufsatz vertretenen Ansichten sind diejenigen des Verfassers und geben nicht notwendigerweise die Position der OSZE oder einer anderen Organisation wieder. Der Text ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung des Beitrags des Autors für das OSZE-Jahrbuch 2015 (siehe: Tanner, Fred (2017) im Literaturverzeichnis); er berücksichtigt ausdrücklich nur die Entwicklungen bis Dezember 2015.

Literatur

Links

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Botschafter Fred Tanner ist Senior Adviser beim OSZE-Generalsekretär und Projektmanager des "Panel of Eminent Persons for European Security as a Common Project". Vorher war er Verbindungsmann (Liaison) für den OSZE-Vorsitz der Schweiz im Jahr 2014. Er ist Mitglied des Beratungsgremiums des UN-Generalsekretärs zu Rüstungsangelegenheiten und der Transatlantic Security Task Force of the German Marshall Fund of the United States (GMF). Vor seiner Tätigkeit bei der OSZE war er Direktor des Geneva Centre for Security Policy (GCSP).