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1850 bis 1880 | Das 19. Jahrhundert | bpb.de

Das 19. Jahrhundert Editorial 1800 bis 1850 1850 bis 1880 1880 bis 1914 Karten Literaturhinweise Impressum

1850 bis 1880

Prof. Dr. Jürgen Osterhammel Jürgen Osterhammel

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Seit der Jahrhundertmitte dominieren der Nationalismus und der Fortschrittsgedanke die europäische Ideenwelt. Mit der nationalen Einigung unter den preußischen Hohenzollern wird Deutschland eine autoritäre Militärmonarchie und gleichzeitig zur weltweit drittgrößten Industrienation. Auch europaweit wachsen materielle Sicherheit, Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit. Technische Neuerungen wie die Dampfschifffahrt und die Telegrafie sowie länderübergreifende Vereinheitlichungen und Institutionen wie der Freihandel und der Goldstandard lassen die Welt zusammenrücken.

1826 nimmt Nicéphore Nièpce aus dem Fenster seines Arbeitszimmers in Le Gras die vermutlich erste lichtbeständige Fotografie der Welt auf. (© Wikimedia)

Deutschland 1850-1880

Der Nationalstaat als politisches Projekt

Seit der Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 haben Historiker immer wieder den Eindruck erweckt, die ganze frühere Geschichte des 19. Jahrhunderts sei zwangsläufig auf den Fluchtpunkt der nationalen Einheit zugelaufen. Hier muss man differenzieren. Gewiss lag die Zusammenfassung der einzelnen deutschen Staaten zu einem militärisch wehrhaften, außenpolitisch handlungsfähigen und im Innern einen nationalen Markt gewährleistenden Großgebilde in der Tendenz der Zeit. Um 1820 konnte man noch mit guten Gründen – wie Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) es tat – die Auffassung vertreten, die Deutschen seien mit der bunten Vielfalt ihrer Klein- und Mittelstaaten besser bedient. Um 1860 war eine solche Position anachronistisch geworden. Auf der anderen Seite verlief die Bildung des deutschen Nationalstaates keineswegs nach einer unaufhaltsamen Logik. Strategie, Taktik, Zufall und sogar menschliches Versagen – etwa der Militärführungen Österreichs 1866 und Frankreichs 1870 – spielten dabei zusammen, dass 1870/71 die Reichsgründung unter preußischer Führung möglich wurde. Der Nationalstaat setzte ein nationales Bewusstsein voraus, ohne unmittelbar und automatisch aus einem solchen Bewusstsein zu entstehen. Er war ein politisches Projekt. Es wurde vorrangig von Preußen vorangetrieben. Warum?
Erstens hatte Preußen 1815 auf dem Wiener Kongress große Territorien hinzugewonnen, dabei jedoch äußerst ungünstige, ja, irrationale Grenzen erhalten. Der rheinisch-westfälische Westen war mit den preußisch-brandenburgischen Stammlanden gar nicht verbunden. Zweitens erkannten Preußens leitende Staatsmänner, an erster Stelle Otto von Bismarck (1815-1898, Ministerpräsident ab 1862), dass die preußische Großmachtrolle in Europa nur durch territoriale Erweiterung zu einem deutschen Staat zu wahren sei. Drittens unterhielt die schnell wachsende preußische Wirtschaft immer engere Handels- und Verkehrsbeziehungen mit den übrigen deutschen Staaten, weniger enge allerdings mit der Habsburgermonarchie. Seit 1828 waren regional begrenzte Zollvereine eingerichtet worden, 1834 folgte der Deutsche Zollverein, dem Österreich nicht angehörte. Er schuf eine Freihandelszone und trug zur weiteren Verflechtung der einzelstaatlichen Ökonomien bei.
Die kleineren deutschen Staaten orientierten sich bereits lange vor der Reichsgründung wirtschaftlich und politisch immer stärker in Richtung Berlin. Eine Nationalstaatsbildung ohne einen zu weit gehenden Verlust eigener Souveränität lag daher in ihrem eigenen Interesse. Die Habsburgermonarchie blieb auch nach 1849 die zweite und gleichberechtigte Hegemonialmacht im Deutschen Bund. Sie fiel aber wirtschaftlich relativ zurück, war selbst für die süddeutschen Staaten als „großer Bruder“ mit der Zeit kaum noch eine Alternative zu Preußen und hatte den deutschen Nationalisten keine aufregende „großdeutsche“ Vision zu bieten. Durch den Zugewinn von Venetien und der Lombardei hatte das Habsburgerreich zudem nach 1815 eine Schwerpunktverlagerung in den Süden erfahren, die erst durch seine militärische Vertreibung aus Norditalien 1859/66 beendet wurde. Anders als Preußen betrieb die Regierung in Wien also statt einer zielstrebigen Deutschlandpolitik eine „oftmals bewusst forcierte Selbstabkapselung“ (Friedrich Lenger).
Diese allgemeine Tendenz zur kleindeutschen Integration wurde durch drei „Einigungskriege“ beschleunigt. Der Deutsch-dänische Krieg (1864), in dem Preußen und Österreich nebeneinander kämpften, mobilisierte eine länderübergreifende Öffentlichkeit für ein „nationales“ Ziel. Im viel wichtigeren Preußisch-österreichischen Krieg (1866) verteilten sich die deutschen Mittelstaaten als Verbündete auf die beiden Lager. Nach dem Sieg über Österreich in der Schlacht von Königgrätz annektierte Preußen Schleswig-Holstein, Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt am Main. Österreich wurde als außenpolitischer Verbündeter der Zukunft großmütig behandelt. Der Deutsche Bund wurde aufgelöst und an seiner Stelle der Norddeutsche Bund gegründet, der aus Preußen, Sachsen und den Bundesgenossen von 1866 bestand. Damit war der wichtigste Schritt in Richtung auf eine nationale Einigung getan. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes nahm in vielem bereits die Reichsverfassung von 1871 vorweg.
Der Deutsch-französische Krieg (1870/71) schließlich, bei dem Bismarck Frankreich in die Rolle des Angreifers zu manövrieren verstand, schloss abermals die nationalen Reihen gegen einen äußeren Gegner und sorgte dafür, dass der am meisten beargwöhnte Nachbar Deutschlands der Reichsgründung keinen Widerstand entgegensetzen konnte. Am 18. Januar 1871 wurde der preußische König in Versailles zum deutschen Kaiser proklamiert. Dem waren langwierige Verhandlungen zwischen Preußen und den Einzelstaaten, vor allem Bayern, vorausgegangen, die für ihren begrenzten Souveränitätsverzicht im neuen Gesamtstaat Zugeständnisse und Geldzahlungen erwarteten. Der neue Staat erhielt eine bundesstaatliche Verfassung, in der der Bundesrat, das heißt die „Länderkammer“, und vor allem der dort den Vorsitz führende, allein dem Kaiser verantwortliche Reichskanzler die stärksten Staatsorgane waren. Der nach allgemeinem und gleichem Männerwahlrecht gewählte Reichstag besaß erhebliche Kompetenzen in Finanzwesen und Gesetzgebung, jedoch nicht das Recht zur Wahl und Abberufung der Exekutive. Die Regierung ging also nicht aus dem Vertrauen der Parlamentsmehrheit hervor. Das Militär war parlamentarischer Aufsicht vollkommen entzogen. Obwohl mehr als ein Scheinparlament, war der Reichstag dennoch nicht – wie das Parlament in einem demokratischen System britischen Typs, das die deutschen Liberalen so sehr bewunderten – die wichtigste Arena des Machtkampfes und der zentrale symbolische Ort der nationalen Politik. Die politische Ordnung des Kaiserreiches war zumindest in den Anfangsjahren die einer von autoritärem Geist durchdrungenen Militärmonarchie, die auf einem scharfen Strukturgegensatz zwischen Reichstag und Reichskanzler beruhte.
1871 war die Bildung des deutschen Nationalstaates keineswegs abgeschlossen. Auf die „äußere“ Reichsgründung hatte eine „innere“ zu folgen, also der Aufbau reichsweiter Institutionen. Dies erforderte eine umfassende, einfallsreiche und juristisch sorgfältig gestaltete Gesetzgebung, die in den 1870er-Jahren auch eindrucksvoll gelang. Ein politischer Schatten fiel dadurch auf den neuen Zusammenschluss der deutschen Nation, dass Bismarcks konfrontative Politik sogenannte Reichsfeinde ausgrenzte und verfolgte. Zwischen 1871 und 1878 führte der Reichskanzler einen Kampf gegen die katholische Kirche und deren politische Vertreter („Kulturkampf“). Von 1878 bis 1890 galt das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ („Sozialistengesetz“), das sozialistische und sozialdemokratische Aktivitäten außerhalb des Reichstags verbot. Die deutsche Einheit blieb unvollständig und halbherzig.

QuellentextEine Schlacht und ihre Folgen

Am Abend des 23. Juni 1859 verwandelt sich das lombardische Städtchen Cavriana, 14 Kilometer südlich des Gardasees, in einen Kasernenhof. […]
Ja, es ist Krieg. Wieder einmal versuchen die Italiener, die verhassten Habsburger loszuwerden, die über den Norden des Landes von Mailand bis Venedig (und in der Toskana) herrschen. Frankreich, Habsburgs alter Widersacher, ist den Italienern zu Hilfe geeilt – am 4. Juni wurden die Österreicher bei Magenta erstmals geschlagen.
[…] [D]er Habsburger Franz Joseph I. [...] sieht [...] das Recht auf seiner Seite. Seit den Tagen Karls V. gehören Teile der Lombardei, seit dem 18. Jahrhundert die Toskana den Habsburgern, seit dem Wiener Kongress 1815 auch Venetien. Doch wen kümmert das noch? Der Nationalismus ist die alles umstürzende Kraft. Das Haus Piemont-Sardinien hat sich an die Spitze der italienischen Freiheitsbestrebungen gesetzt. Camillo Cavour, Premierminister in Turin […] hat die Zeit auf seiner Seite. In seinem 1932 erschienenen Roman ‚Radetzkymarsch‘, der mit den Ereignissen des Jahres 1859 beginnt, lässt Joseph Roth den skeptischen Grafen Chojnicki über das Schicksal der Habsburger Vielvölkermonarchie meditieren: „Sie zerfällt bei lebendigem Leibe. Sie zerfällt, sie ist schon zerfallen! […] Die Zeit will uns nicht mehr! Diese Zeit will sich selbständige Nationalstaaten schaffen!“ […]
In derselben Nacht erreicht der Genfer Geschäftsmann Henry Dunant die Stadt Castiglione delle Stiviere, wenige Kilometer westlich von Cavriana. […] Der 31-Jährige hat sich mit seinen Investitionen in Algerien, seit 1830 französische Kolonie, verspekuliert. In der Tasche trägt er ein Empfehlungsschreiben. Es soll ihm die Tür zu Napoleon öffnen. […]
Die Schlacht beginnt im Morgengrauen. […] Etwas mehr als 300 000 Soldaten stehen sich gegenüber, 170 000 Österreicher und 150 000 Franzosen und Piemontesen. Es sollte zu einer der größten Schlachten der europäischen Geschichte kommen. Das Dorf Solferino bildet den Mittelpunkt der Front, die sich vom Gardasee über eine ganze Kette von Hügeln, Anhöhen und Erhebungen bis in die Poebene zieht. So überraschend der Kampf begonnen hat, so schnell sind die feindlichen Armeen ineinander verkeilt wie wilde, bisshungrige Tiere. Das Töten endet erst bei Sonnenuntergang mit dem Rückzug der Österreicher. [...]
Den ganzen Tag über kommen zahllose Verletzte zum Dom von Castiglione. Wenige Meter entfernt wohnt Henry Dunant bei einer befreundeten Familie. Der Anblick, der sich ihm bietet, ist Furcht erregend. Die Verwundeten werden auf Bahren, auf Karren, auf den Schultern der Kameraden hierher transportiert. Die Stadt hallt wider von ihren Schreien. Spitäler, Kirchen, Schulen sind bis zum Rand hin gefüllt mit wimmernden, zuckenden Körpern. Viele Soldaten liegen, da es keinen Platz mehr für sie gibt, auf den Bürgersteigen. [...]
Dunant […] protokolliert entsetzt das Grauen. „Dort“, schreibt er 1862 in seinem Buch ‚Eine Erinnerung an Solferino‘, „liegt ein völlig entstellter Soldat, dessen Zunge aus dem zerschmetterten Kiefer hängt. Er macht alle Anstrengungen, sich zu erheben. Ich benetze seine vertrockneten Lippen und seine verdorrte Zunge. Einem anderen Unglücklichen ist durch einen Säbelhieb ein Teil des Gesichts fortgerissen worden. Nase, Lippen und Kinn sind von dem übrigen Teil des Kopfes getrennt. Unfähig zu sprechen und halb blind, macht er ein Zeichen mit der Hand. Durch diese erschütternde Gebärde, die von unartikulierten Tränen begleitet ist, lenkt er die Aufmerksamkeit auf sich. Ich gebe ihm zu trinken und lasse auf sein blutendes Antlitz einige Tropfen Wasser träufeln.“
Dunant schreibt als Menschenfreund. Der Gedanke, der sich durch die Erinnerungen zieht, ist schlicht und revolutionär zugleich: Sobald ein Soldat verwundet ist, ist er kein Soldat mehr, sondern ein Mensch, der alle Hilfe verdient. Jeder Verwundete muss versorgt werden, egal, welche Uniform er trägt, egal, welcher Nation er angehört. Diese Idee wird am 24. Juni 1859 in Castiglione geboren. Das Leid ist überwältigend, die Einwohner helfen den Elenden, ganz gleich, ob Freund oder Feind. „Wäre es nicht möglich“, schreibt Dunant, „in Friedenszeiten eine Gesellschaft zu gründen, die aus großherzigen Freiwilligen zusammengesetzt ist, um den Verletzten in Kriegszeiten zu helfen?“
Fünf Jahre später, am 22. August 1864, unterzeichnen zwölf Nationen die ersten Paragrafen der Genfer Konvention. Darin sind zum ersten Mal die Rechte von Kriegsgefangenen festgelegt, gleichzeitig werden nationale Hilfskomitees unter dem Signum des Roten Kreuzes gegründet. Es ist der Beginn einer Organisation, die sich bald über den ganzen Globus ausbreiten wird. […].

Peter Ladurner, Ulrich Ladurner, „Wasser, rot vom Blut“, in:
Die Zeit, Nr. 26 vom 18. Juni 2009

Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871

Die Verwendung dieser Grafik ist honorarpflichtig.

QuellentextOtto von Bismarck

[...] Bismarck gab gerne den Part des zurückgebliebenen Krautjunkers aus der preußischen Provinz, in Wahrheit jedoch war er ein eher untypischer Vertreter seiner Zunft. Sein Vater, der auf einen fünf Jahrhunderte zurückreichenden Stammbaum adeliger ostelbischer Gutsherren zurückblickte, war noch der Prototyp des Junkers. Ottos Mutter hingegen, Wilhelmine Menken, entstammte einer Akademikerfamilie aus dem sächsischen Leipzig. Ihr Großvater war Rechtsprofessor gewesen [...].
Wilhelmine Menken nahm die schulische Bildung ihrer Söhne in die Hand, was für Bismarck bedeutete, dass er eine für seine Klasse eher untypische Bildung genoss: er fing nicht mit der Kadettenschule an, sondern als Internatsschüler an der Plamannschen Lehranstalt in Berlin – einer Schule für die Söhne höherer Verwaltungsbeamter – mit einer klassischen bürgerlichen Ausbildung. Von dort wechselte er zuerst ans Friedrich-Wilhelm-Gymnasium und später auf das Gymnasium zum Grauen Kloster, bevor er an den Universitäten Göttingen (1832/33) und Berlin (1834/35) Rechts- und Staatswissenschaft studierte. Darauf folgte ein vierjähriges Referendariat in der preußischen Verwaltung in Aachen und Potsdam. Gelangweilt von der für das Referendariat typischen Eintönigkeit und mangelnden persönlichen Autonomie brach Bismarck zur großen Bestürzung seiner völlig überraschten Familie die Ausbildung ab und widmete sich der Bewirtschaftung des Gutes Kniephof, wo er die Jahre 1839 bis 1845 verbrachte. In diesem langen Intermezzo gab er den Junker in Reinkultur, genoss das Leben, aß und trank viel [...]. Ein genauerer Blick auf das Leben von Otto von Bismarck in dieser Zeit jedoch enthüllt auch einige für einen Junker ganz und gar untypische Betätigungen, beispielsweise das ausgiebige Studium der Werke von Hegel, Spinoza, Bauer, Feuerbach und Strauß.
Diese Gegensätze sind wichtig für das Verständnis von Bismarcks politischem Leben. Sein Hintergrund und seine Einstellung erklären in Teilen die gebrochene Beziehung zwischen ihm und den Konservativen [...]. Bismarck gehörte nie wirklich zu ihnen, und die Konservativen, die das sehr wohl spürten, trauten ihm auch nie so recht über den Weg. Er hielt nicht viel vom Korporativismus der Altkonservativen und fühlte sich ebenso wenig von einer Weltsicht angezogen, laut der die Junker in ständischer Solidarität ihre Interessen gegenüber dem Staat behaupten mussten. [...]
Wie seine Vorfahren mütterlicherseits suchte Bismarck als Erwachsener seine Erfüllung im Dienst für den Staat. Allerdings sollte er dem Staat dienen, ohne jemals sein Diener zu sein. Der Gutsbesitz als Lebensinhalt reichte ihm nicht [...], aber er verlieh ihm doch ein Gefühl der Unabhängigkeit. [...]
Dieses Verständnis spiegelt sich wider in seinem Auftreten als öffentliche Person und insbesondere in seiner Neigung zur Insubordination. Bismarck verhielt sich nie so, als hätte er einen Vorgesetzten, was besonders in seiner Beziehung zu Wilhelm I. augenfällig wurde. [...]
Bismarck erweckte den Eindruck, jenseits aller ideologischen Rezepte, gleich welcher Gruppierung, zu stehen. Er war kein aristokratischer Korporatist, und auch ein Liberaler war er nicht beziehungsweise konnte er nicht sein. Ebenso wenig identifizierte er sich ungeachtet seiner langjährigen Zugehörigkeit zum Beamtentum mit dem „Vierten Stand“ der Bürokraten [...]. Daraus ergab sich eine Freiheit von ideologischen Beschränkungen, die sein Verhalten kaum vorhersagbar machten und es ihm [...] erlaubte, von einem Lager ins andere zu wechseln, seine Gegner auf dem falschen Fuß zu erwischen und die Differenzen zwischen ihnen zu seinen Gunsten zu nutzen. [...]
[...] Bismarck war kein Mann der Prinzipien; im Gegenteil, er war ein Mann, der sich von Prinzipien gelöst hatte, der die romantischen Bindungen einer älteren Generation abgestreift hatte, um eine neue Art der Politik zu machen: flexibel, pragmatisch und frei von ideologischen Verpflichtungen. Die Gefühle oder die Meinung der Öffentlichkeit waren für ihn keine Autoritäten, denen man gefallen oder folgen musste, sondern Kräfte, die es zu lenken und leiten galt. [...]

Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang; 1600-1947. Übersetzung: Richard Barth / Norbert Juraschitz / Thomas Pfeiffer © 2007, Deutsche-Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, S. 592 ff.



Industrialisierung und Urbanisierung

Das dritte Viertel des 19. Jahrhunderts sah den Durchbruch der Industrialisierung in Deutschland. Gegenüber England, auch Belgien und Teilen Frankreichs, war Deutschland ein Nachzügler. Es holte jedoch schnell auf. Um 1880 war es nach Großbritannien und den USA die drittgrößte Industrienation der Welt. Dies verdankte es nicht dem Textilsektor, der in England die treibende Kraft der Industrialisierung gewesen war, sondern vier anderen Antrieben (die selbstverständlich unterdessen in der britischen Wirtschaft ebenfalls eine Rolle spielten): dem Steinkohlebergbau, der Eisen- und Stahlindustrie, dem Maschinenbau und – dem wichtigsten dieser „Leitsektoren“ – den Eisenbahnen.
Zwischen 1848 und 1864 verdreifachte sich die Zahl der in den wichtigsten Steinkohlegebieten – an der Ruhr, an der Saar, in Sachsen und in Schlesien – Beschäftigten auf etwa 100 000 Arbeiter. Gleichzeitig war dank besserer Technik die Produktivität des Abbaus gestiegen, sodass die Menge der geförderten Steinkohle sogar auf mehr als das Vierfache angewachsen war. Der Bergbau hatte in Deutschland eine lange Tradition. Sie drückte sich in einem besonderen Bergrecht aus, das dem jeweiligen Territorialherrn die Verfügung über sämtliche Bodenschätze übertrug. Der Aufschwung des Steinkohlebergbaus ging nicht nur auf eine steigende Nachfrage nach fossiler Energie und auf neue technische Möglichkeiten der Kohlegewinnung in immer tieferen Untertageschichten zurück, sondern auch auf eine liberalisierende Neuordnung des Bergbaus, die in ihren modernisierenden Auswirkungen der Bauernbefreiung und der Einführung der Gewerbefreiheit vergleichbar ist. Der Staat zog sich auf Inspektionsfunktionen zurück. Gleichzeitig erweiterten sich die Möglichkeiten, über die neue Form der Aktiengesellschaft Kapital im Bergbau zu investieren. Bald wurde der Großbetrieb charakteristisch für die Zechenlandschaft, besonders an der Ruhr.
Auch die Eisen- und Stahlindustrie erforderte Organisation im großen Stil. In Preußen steigerte sich die Erzeugung von Roheisen zwischen 1850 und 1880 von 135 000 auf zwei Millionen Tonnen, die von Stahl von 150 000 auf 1,7 Millionen Tonnen. Ein zunehmender Anteil dieser Produktion ging auf das Konto großer Eisenhütten und Stahlwerke, die vielfach zwischen 1850 und 1875 gegründet wurden oder damals in eine große Expansionsphase eintraten. So erhöhte sich die Zahl der Beschäftigten bei der Firma Krupp in Essen von weniger als 1800 im Jahre 1860 auf 16 000 im Jahre 1873. Nur Großunternehmen konnten sich die gewinnbringende Übernahme kostspieliger Technologien leisten, die damals noch vorwiegend in Großbritannien entwickelt und patentiert wurden.

Erwerbstätige in Deutschland von 1800 bis 1914

Die Verwendung dieser Grafik ist honorarpflichtig.

Auch der frühe deutsche Maschinenbau beruhte anfangs auf der Nachahmung ausländischer Vorbilder. Britische, belgische und französische Technologie wurde legal oder auch per Industriespionage nach Deutschland transferiert. Charakteristisch für den Maschinenbau waren geringere Betriebsgrößen und ein typischer Aufstiegsweg vom Handwerkermeister zum Fabrikunternehmer, während die frühen Unternehmer in der Montanindustrie eher aus der wohlhabenden Kaufmannschaft stammten. Keineswegs wurde das Handwerk auf breiter Front durch die Industrie verdrängt und ersetzt. Bekleidung stammte weiterhin aus der Schneiderei (oder wurde im Haushalt selbst hergestellt), Schuhe kamen vom handwerklichen Schusterbetrieb. Bäcker, Metzger und andere „Nahrungsmittelhandwerker“ blieben kleinbetrieblich organisiert. Sie profitierten vom Rückgang der Selbstversorgung in den wachsenden Städten.
Urbanisierung, also eine deutliche Zunahme des Anteils von Städtern an der Gesamtbevölkerung, ist kein unmittelbares Resultat von Industrialisierung. Städte wuchsen bereits, bevor es irgendwo Industrie gab, und im Industriezeitalter wirkten weiterhin nichtindustrielle Ursachen städtischer Expansion, etwa die verstärkte Einbindung von Hafenstädten in den Welthandel. Doch im Deutschland der Jahrzehnte nach 1850 ergab sich ein enger Zusammenhang zwischen beiden Prozessen. Am deutlichsten war er dort, wo sich neue montanindustrielle Regionen bildeten und durch Zuzug rasch wuchsen. Besonders auffällig war das Entstehen einer Städtelandschaft im Ruhrgebiet. Einige der dort aufstrebenden Städte gingen auf mittelalterliche Gründungen zurück, wie etwa Essen, viel charakteristischer war aber das rapide Wachstum neu gegründeter „Industriedörfer“ wie Oberhausen, das 1874, zwölf Jahre nach dem Beginn der Besiedlung, bereits 15 000 Einwohner zählte. Richtige Großstädte gab es zur Zeit der Reichsgründung im Ruhrgebiet noch nicht; die eigentliche Expansion erfolgte im Kaiserreich. Städte wuchsen auch aus anderen Gründen: als Zentren der Textilindustrie wie Chemnitz und Barmen (heute ein Teil von Wuppertal), als Eisenbahnknotenpunkte wie Hannover oder als multifunktionale Metropolen wie an erster Stelle Berlin, das 1871 mit 826 000 Einwohnern (um die Jahrhundertmitte erst 412 000) die mit Abstand größte Stadt im Deutschen Reich war. Die Urbanisierung war geografisch sehr ungleich verteilt. Große Landstriche wurden von ihr kaum berührt. Dort bildete die Kleinstadt, ein beliebtes Motiv von Malerei und Literatur, weiterhin den Rahmen des Alltagslebens: selten mit Kanalisation, Wasserversorgung und Gasbeleuchtung ausgestattet, manchmal noch hinter Toren und Mauern versteckt. Die hier vorherrschende Mentalität hatte mit der nach außen offenen Urbanität Berlins und anderer Großstädte wenig gemeinsam.

QuellentextIm Visier von Bismarck: Katholiken und Sozialisten

Im Unterschied zu seinem vorsichtigen Handeln in der Außenpolitik hatte Bismarck in der Innenpolitik keine Bedenken, präventiv gegen vermeintliche Gegner vorzugehen [...] und Minderheiten zu „Reichsfeinden“ zu erklären, um auf diese Weise eine Mehrheit der Bevölkerung auf die Ziele der Regierung verpflichten zu können.
Den ersten innenpolitischen „Präventionskrieg“ begann Bismarck bereits im Sommer 1871 [...]. Er richtete sich gegen die Katholiken, die sich im neuen preußisch-protestantisch geprägten Kaiserreich – anders als zuvor im Deutschen Bund – in die Rolle einer konfessionellen Minderheit gedrängt sahen. Die Gründung der Zentrumspartei als eine Sammlungsbewegung des politischen Katholizismus war eine Reaktion darauf.
Der Reichskanzler sah in der neuen Kraft, um die sich auch alle antipreußischen Gruppierungen – die Vertreter der nationalen Minderheiten (Polen, Dänen, Elsässer) und die hannoverschen Welfen – scharten, eine Art Verschwörung, eine „Mobilmachung der Partei gegen den Staat“. Mit einer Reihe von antikatholischen Ausnahmegesetzen hoffte er das Zentrum als politischen Faktor ausschalten zu können. Ein sogenannter „Kanzelparagraph“ untersagte Geistlichen die Erörterung öffentlicher Angelegenheiten; der Jesuitenorden wurde verboten; ohne Zustimmung der staatlichen Behörden durfte kein Priester mehr in ein geistliches Amt berufen werden – wer sich widersetzte, musste mit seiner Ausweisung oder einer Haftstrafe rechnen.
Doch alle Maßregelungen verfehlten ihren Zweck. Statt die Katholiken zu zermürben, schweißten sie sie erst recht zusammen. [...] Rudolf Virchow, der berühmte Mediziner und liberale Politiker, prägte das Wort vom „Kulturkampf“. In diesem Konflikt hatten die Nationalliberalen Bismarck von Anfang an unterstützt. Für sie war der Kampf gegen das Zentrum Teil einer umfassenden Auseinandersetzung zwischen dem modernen Nationalstaat und der katholischen Kirche. Diese hatte, so glaubten sie, mit dem auf dem Vatikanischen Konzil 1870 verkündeten Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit gerade einen Beweis ihrer Rückständigkeit geliefert.
Je tiefer sich die Nationalliberalen freilich von Bismarck in den Kulturkampf verstricken ließen, desto mehr waren sie gezwungen, Stück um Stück von ihren eigenen rechtsstaatlichen Prinzipien abzurücken. Zu Recht hielt ihnen Eugen Richter, der prominente Abgeordnete der linksliberalen Fortschrittspartei, vor: „Mich kann nicht trösten, dass der reaktionäre Spieß, nachdem er bisher mehr gegen links gekehrt war, nun gegen das Zentrum gerichtet wird. Dieselbe Hand, die ihn nach rechts gedreht hat, kann ihn auch wieder nach links drehen.“
Tatsächlich hatte Bismarck [...] 1878 [...] bereits einen neuen innenpolitischen Feldzug eröffnet: gegen die Sozialdemokratie. [...] Einen willkommenen Anlass lieferte ihm August Bebel. Im Mai 1871 hatte sich der SPD-Abgeordnete im Reichstag solidarisch erklärt mit dem Kampf der Pariser Kommune und diesen als ein „kleines Vorpostengefecht“ für kommende große Klassenkämpfe bezeichnet.
Die revolutionäre Bewegung in Paris war eine Folge der Krise, in die Frankreich unmittelbar nach der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 geraten war. Der Versuch der neuen großbürgerlichen Regierung unter Adolphe Thiers, die Pariser Nationalgarde zu entwaffnen, führte am 18. März 1871 zum Aufstand. Die Regierung Thiers flüchtete nach Versailles; in Paris übernahm ein revolutionärer Gemeinderat, bestehend aus Republikanern, Radikaldemokraten und Sozialisten, die Macht. [...]
In der „blutigen Woche“ vom 21. bis 28. Mai 1871 wurde dieses Aufsehen erregende Experiment einer Selbstregierung der Bevölkerung jedoch von den französischen Regierungstruppen unter dem Schutz der preußischen Bajonette niedergeworfen. [...] In der europäischen Arbeiterbewegung wurde der Kampf der Kommune zum Symbol für das heraufziehende neue Zeitalter proletarischer Revolutionen; unter den Herrschenden verstärkte er die Furcht vor der „roten Gefahr“.
Bismarck wollte die Sozialdemokratie im Keime ersticken. Allerdings war er sich im Klaren darüber, dass repressive Maßnahmen allein nicht ausreichen würden. Deshalb fasste er eine Doppelstrategie ins Auge, die er in einer Notiz vom Oktober 1871 so beschrieb: „1. Entgegenkommen gegen die Wünsche der arbeitenden Klasse durch Gesetzgebung und Verwaltung [...], so weit mit den allgemeinen Staatsinteressen verträglich. 2. Hemmung der staatsgefährlichen Agitation durch Verbots- und Strafgesetze.“
Zunächst kam freilich die zweite Variante zum Zuge. Nach zwei Attentaten auf Kaiser Wilhelm I. im Mai und Juni 1878, für die zu Unrecht die Sozialdemokraten verantwortlich gemacht wurden, verabschiedete der Reichstag am 21. Oktober 1878 das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“. Mit einem Schlage wurden alle sozialdemokratischen Vereine und Zeitungen verboten; nur das Recht, sich an Wahlen zu beteiligen, verblieb der Partei. Aus bestimmten Bezirken oder Orten, über die der sogenannte „Kleine Belagerungszustand“ verhängt worden war, durften „Agitatoren“ ohne weiteres ausgewiesen werden. Von diesem harten Schicksal wurden über 1000 Sozialdemokraten getroffen; viele von ihnen entschlossen sich zur Auswanderung nach Amerika.
Doch wiederum hatte Bismarck die Widerstandskraft des Gegners unterschätzt. Unter den Schlägen von Polizei und Justiz formierte sich die Sozialdemokratie überhaupt erst zu einer Massenbewegung, scharten sich die Anhänger um August Bebel, der damals zur unbestrittenen Führungsfigur der SPD emporstieg. Und erst jetzt, in der verschärften Konfrontation mit Klassenstaat und Klassenjustiz, fanden die Theorien von Karl Marx und Friedrich Engels wachsende Resonanz. Sie kamen dem Bedürfnis nach einer Programmatik entgegen, welche geeignet schien, die Ausnahmesituation der Sozialdemokratie zu erklären und zugleich den Weg in eine bessere Zukunft zu weisen.
Demgegenüber konnte dem Versuch, durch eine Kombination von Unterdrückung und Sozialreform, von „Zuckerbrot und Peitsche“ die Arbeiter von den Verlockungen des Sozialismus fern zu halten, zunächst kaum Erfolg beschieden sein. In den achtziger Jahren wurde eine Reihe wichtiger Sozialgesetze beschlossen – vom Kranken- und Unfallschutz bis hin zur Alters- und Invalidenversicherung. Für damalige Verhältnisse war das ein großer Fortschritt, auch im europäischen Vergleich. [...] Langfristig [...] trugen die Sozialgesetze dazu bei, dass sich die deutsche Sozialdemokratie vor 1914 immer mehr in der bestehenden Ordnung des Kaiserreichs einrichtete und sich deren Sturz immer weniger vorstellen konnte – mochte sie auch weiterhin an ihrer revolutionären Rhetorik festhalten. [...]

„Reichsfeinde“ im Visier: Kulturkampf, Sozialistengesetz und konservative Wende. In: Deutsche Geschichte 1: Wie wir wurden, was wir sind. Das 19. Jh. 1789-1918, S. 193 ff. Erarb. v. Dr. Volker Ullrich © Ernst Klett Verlag GmbH Stuttgart, 2012



Eisenbahnen

Es bedeutete einen großen Einschnitt in der Geschichte jeder Stadt, wenn sie einen Bahnhof erhielt und an das Eisenbahnnetz angeschlossen wurde. Das dritte Viertel des 19. Jahrhunderts war jener Zeitabschnitt, in dem die Eisenbahn ihre größte wirtschaftliche und kulturelle Wirkung entfaltete. Die ersten schienengeführten Eisenbahnen wurden noch von Pferden gezogen. 1839 wurde zwischen Leipzig und Dresden die erste ausschließlich mit Dampflokomotiven betriebene Strecke eröffnet. Anfangs konnte von einem Schienen-„Netz“ noch keine Rede sein. Einzelne Strecken verdichteten sich zu regionalen Systemen, die mit der Zeit zu einem nationalen, an den Grenzen aber Anschluss ans Ausland findenden Netz zusammenwuchsen. Dies war bis zur Reichsgründung geschehen. Danach ging der Ausbau weiter und erreichte kurz vor dem Ersten Weltkrieg die höchste Netzdichte. 1885 waren auf dem Gebiet des Deutschen Reiches etwa 37 000 km Schienen befahrbar – geringfügig mehr als heute in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Eisenbahn war eine der großen Wachstums-„Lokomotiven“ der deutschen Wirtschaft ab den 1840er-Jahren. Durch die gewaltige Nachfrage nach Eisen, Stahl und Steinkohle stimulierte sie diese anderen Leitsektoren. Sie regte die technologische Entwicklung an, schuf in der Bauphase ebenso wie im laufenden Betrieb Zigtausende neuer Arbeitsplätze und rief neue Finanzierungsinstrumente hervor, die wiederum der Modernisierung des Bankenwesens zugute kamen. Dadurch, dass Bahnen teils staatlich, teils privat gebaut und betrieben wurden, entstand eine von Land zu Land unterschiedlich zusammengesetzte Mischwirtschaft. In jedem Fall betrachtete der Staat die Eisenbahn als eine hoheitliche Angelegenheit. Auch Privatbahnen unterlagen einem gewissen Maß an Aufsicht und Regulierung. Das Aufstellen landesweit abgestimmter Fahrpläne gehörte zu den schwierigsten Organisationsaufgaben der Zeit.

Entwicklung des Eisenbahnnetzes der führenden Industrienationen (in 1000 km)

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Die Eisenbahn entwickelte sich im Zusammenhang einer umfassenderen Transportrevolution, wie sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten in vielen Ländern begann. Landstraßen wurden ausgebaut und damit die Möglichkeiten des Pferdetransports noch besser genutzt. In den Städten entstanden Pferde-Trams, später elektrische Straßenbahnen als Zubringer zu den Bahnhöfen. In der Schifffahrt setzte sich allmählich das Dampfschiff durch. Flüsse wurden reguliert und besser schiffbar gemacht, Häfen ausgebaut, befahrbare Kanäle als Verbindungen zwischen Flüssen angelegt. All dies zusammengenommen erhöhte die Transportgeschwindigkeit, vergrößerte das Transportvolumen und senkte die Transportkosten. Menschen und Güter konnten leichter über immer größere Entfernungen befördert werden. Die Eisenbahn veränderte die „gefühlte“ Geografie. Vordem fast unüberwindliche Distanzen ließen sich nun bewältigen. Das Reisen wurde bequemer. Vorortbahnen und Nahverkehrszüge erlaubten im städtischen Raum das flächige Siedeln, entlasteten die Innenstädte von Wohnungsdruck und schufen manchmal integrierte Ballungsräume. Orte, die ohne Bahnanschluss blieben, fielen in ihrer Entwicklung zurück. Umgekehrt war die Position an einem Knoten des Bahnnetzes ein Standortvorteil, der Industrien anlocken konnte. Der Eisenbahnbau veränderte die Landschaft. Bodenkäufe und Enteignungen waren notwendig, um Trassen verlegen zu können. Weghindernisse mussten durch Brücken und Tunnels überwunden werden, die beide meist anspruchsvolle Aufgaben an die Ingenieurskunst stellten, manchmal mit ästhetisch eindrucksvollen Resultaten. In Städte konnte der Bahnbau schwere Wunden schlagen. Alte Quartiere wurden abgerissen, Stadtteile durch Gleisanlagen voneinander getrennt. Die Kopfbahnhöfe der großen Metropolen definierten Innenstädte auf neue Weise als die schienenlosen Zonen zwischen den Endpunkten der verschiedenen Strecken. Architektonisch wurden Bahnhöfe zu den aufwändigsten Großprojekten der Epoche.
Schließlich war die Eisenbahn überall, wo sie eingeführt wurde, die technische Voraussetzung für neue Wahrnehmungsweisen. Erstmals konnte man sich schneller bewegen als mit dem kräftigsten Pferd. Das Tempoerlebnis änderte sich dadurch fundamental. Der Blick aus dem rollenden Abteil ließ Landschaften als bewegte Panoramen erscheinen. Da der Zug viele Menschen gleichzeitig beförderte, wandelte sich das Reisen zu Lande von einem Individualabenteuer zu einer Kollektiverfahrung, wie sie eine Fahrt einer Postkutsche niemals sein konnte. Gesellschaftliche Hierarchien spiegelten sich in den Komfort- und Tarifklassen der Bahn, von denen es ab 1852 in Preußen vier gab. Sucht man einen einprägsamen Namen für das dritte Viertel des 19. Jahrhunderts, dann wäre "Eisenbahnzeitalter“ eine gute Wahl.

QuellentextVor- und Nachteile des Eisenbahnfahrens

[…] Dem Reisenden, der es gewohnt ist, von der Postkutsche aus seinen Blick auf nahe Dinge zu fokussieren, muss bei der neuen Geschwindigkeit [des Eisenbahnfahrens] fast zwangsläufig schwindlig werden. Victor Hugo schreibt 1837 von einer Zugreise [...]: „Die Blumen am Feldrain sind keine Blumen mehr, sondern Farbflecken oder vielmehr rote und weiße Streifen; die Getreidefelder werden zu langen gelben Strähnen; die Kleefelder erscheinen wie lange grüne Zöpfe.“ Weil er versucht, Einzelheiten festzuhalten, wird die Fahrt zum stroboskophaften Terror. Wohlgemerkt: Die Züge zuckelten damals mit ungefähr 30 Stundenkilometern durch die Lande. Die medizinische Zeitschrift „Lancet“ meint im Jahr 1862 dramatische gesundheitliche Folgen durch das Bahnfahren belegen zu können: „Die Geschwindigkeit und Verschiedenartigkeit der Eindrücke ermüden notwendigerweise sowohl das Auge wie das Gehirn. Die andauernd sich verändernde Entfernung der Gegenstände erfordert eine unablässige Anpassungsarbeit des Apparates, durch den sie scharf auf die Retina eingestellt werden; und die geistige Anstrengung des Gehirns, sie aufzunehmen, ist kaum weniger ermüdend dadurch, dass sie unbewusst geleistet wird; denn keine Tatsache im Bereich der Physiologie ist unumstrittener als die, dass eine übermäßig funktionelle Aktivität stets materiellen Zerfall und organische Veränderung der Substanz im Gefolge hat.“ [...]
All diejenigen, die das vorindustrielle Postkutschengetrödel gewöhnt sind, erleben Zugfahrten zunächst als Attacke auf alle Sinne, was dann meist umschlägt in Ödnis und Abgeschlagenheit. „Ich langweile mich derart in in der Eisenbahn“, schreibt Gustave Flaubert, „dass ich nach fünf Minuten vor Stumpfsinn zu heulen beginne. Die Mitreisenden denken, es handle sich um einen verlorenen Hund; durchaus nicht, es handelt sich um Herrn Flaubert, der da stöhnt.“ [...]
Andere Reisende, und das macht es so interessant, hatten umgekehrt den Eindruck, dass die Zugfahrt nicht die Wahrnehmung der Landschaft zerstört, sondern überhaupt erst ermöglicht. Voraussetzung dafür ist freilich, wie der Historiker Wolfgang Schivelbusch schreibt, aus dessen „Geschichte der Eisenbahnreise“ all die eben angeführten Zitate stammen, dass die Wahrnehmung des Reisenden „sich nicht gegen die Effekte der neuen Reisetechnik sträubt, sondern diese ganz in sich aufnimmt“. Wer gar nicht erst versucht, Details des vorbeiwischenden Vordergrundes zu fixieren, sondern stattdessen die Landschaft an sich vorbeiziehen lässt wie ein Panorama, der kann das Reisen genießen. So schwärmt der Pariser Journalist Jules Clarétie, eine Eisenbahnfahrt führe dem Reisenden „in wenigen Stunden ganz Frankreich vor, vor Ihren Augen entrollt sie das gesamte Panorama, eine schnelle Aufeinanderfolge lieblicher Bilder und immer neuer Überraschungen“. Ja, er sagt, die Bahn zeige erst „das Wesentliche einer Landschaft, wahrlich ein Künstler im Stil der alten Meister. Verlangen Sie keine Details von ihr, sondern das Ganze, in dem das Leben ist“.
Es kann zwischen den begeisterten Passagieren und den traditionellen Reisenden keine richtige Verständigung geben, so unterschiedlich ist ihr Blick: Den einen ist es aufgrund der Mobilität nicht mehr möglich, die Welt in Ruhe wahrzunehmen. Für die anderen, so Schivelbusch, ist genau diese Mobilität „die Grundlage der neuen Normalität. Eine Erfahrung von Verflüchtigung gibt es für diesen Blick nicht mehr, weil die verflüchtigte Wirklichkeit seine neue normale Wirklichkeit geworden ist oder, anders gesagt, weil der Raum, in dem die Verflüchtigung sich am deutlichsten zeigte, der Vordergrund, für den panoramatischen Blick keine Existenz mehr hat.“ [...]

Alex Rühle, Ohne Netz. Mein halbes Jahr offline, Stuttgart: Klett-Cotta 2010, S. 95 ff.



Bürgerlichkeit

Kein einziger Teilabschnitt des 19. Jahrhunderts lässt sich problemlos als „Blütezeit des Bürgertums“ beschreiben. Das Bürgertum war niemals eine quantitativ dominierende Gesellschaftsschicht; es umfasste maximal 15 Prozent der Bevölkerung. Während seine Abgrenzung vom Adel in Deutschland markanter blieb als zum Beispiel im adelsdominierten Großbritannien oder dem adelsarmen Frankreich, lässt sich eine soziale Barriere nach „unten“ nur ungenau bestimmen. Dies liegt vor allem an der sehr schwammigen Kategorie des „Kleinbürgertums“, in der selbstständige Handwerker, kleine Ladenbesitzer, niedere Beamte, manchmal auch relativ wohlsituierte Facharbeiter, Volksschullehrer und, gegen Ende des 19. Jahrhunderts zahlenmäßig rasch zunehmend, Angestellte eingeordnet werden. Solche Kleinbürger, die um keinen Preis mit der Unterschicht bzw. dem „Proletariat“ verwechselt werden wollten, besaßen selten den Bildungsehrgeiz des „gehobenen“ Bürgertums mit gymnasialem oder akademischem Hintergrund oder den wirtschaftlichen Aktionsradius eines Kapitalien bewegenden und über größere Belegschaften gebietenden Unternehmers.
Schließlich kommt als weitere Schwierigkeit eine Doppeldeutigkeit im deutschen Begriff des „Bürgers“ hinzu. Denn er bezeichnet sowohl den politisch für Freiheit und Gemeinwohl engagierten citoyen als auch den Geschäfte machenden, egoistisch seine Interessen durchsetzenden (in heutiger Ausdrucksweise: „gierigen“) bourgeois, anders gesagt: den öffentlichen und den privaten Bürger, also den Verteidiger von politischen Grundrechten einerseits, den Anhänger der ungehemmten wirtschaftlichen Freiheit auf dem Markt andererseits. Die politische Geschichte des deutschen Bürgertums lässt sich in dieser Spannung zwischen Citoyen und Bourgeois, zwischen politischem Idealismus und wirtschaftlichem Realismus erzählen. Die früher verbreitete These, das deutsche Bürgertum habe nach 1848 seine eigenen demokratischen Werte und Normen „verraten“ und sich den adlig-konservativen Kräften in Politik und Gesellschaft unterworfen, es sei dabei von einer kosmopolitisch-internationalen zu einer nationalistischen Haltung umgeschwenkt, lässt sich in solcher Allgemeinheit nicht halten. Richtig ist, dass sich der Liberalismus, die im 19. Jahrhundert vorherrschende politische Orientierung des Bürgertums, im Kaiserreich parteipolitisch in einen eher wirtschaftsnahen „rechten“ und einen „freisinnig“ eingestellten „linken“ Flügel spaltete. Die moralisierende „Verrats“-These übertreibt diesen Tatbestand.
Der kulturelle Einfluss des Bürgertums erreichte in der zweiten Jahrhunderthälfte seinen Höhepunkt. Der Wirtschaftsaufschwung – ganz besonders während der „Gründerzeit“ unmittelbar nach der Reichsgründung – mehrte die Zahl erfolgreicher Bürger, die Gewinne in ihre eigenen Unternehmen reinvestierten und dennoch genügend Finanzmittel übrig behielten, um sich einen anspruchsvollen Lebensstil mit großen Häusern und Dienstpersonal leisten zu können. Aus vereinzelten Pionieren wurde nun eine breitere Schicht von Firmengründern. Von den alten Eliten oft als protzige „Neureiche“ belächelt oder gar verachtet, wurden solche Bürger dennoch stilprägend. Obwohl der Adel seinen Besitz und sein Ansehen relativ gut zu behaupten vermochte und das offizielle Deutschland unter den Hohenzollern vielfach adlige Leitbilder propagierte, gab es im Kaiserreich nach 1871 keine aristokratische „Leitkultur“, der sich die Bürger imitierend angepasst hätten. Bürger trugen die Selbstverwaltung der Kommunen. Sie waren die wichtigsten Mäzene und Nutznießer kultureller Einrichtungen wie Opernhäuser und Museen. Ihre Werte flossen in die Religionsausübung der christlichen Kirchen (und des Judentums) ein; vor allem die Bürgerinnen wurden zu Hüterinnen religiöser Traditionen, oft auch zu den treibenden Kräften karitativen Engagements. Bürger praktizierten selbstbewusst ihre Erziehungsideale. Ein neuer emotionaler Kult um das Kind war eher bürgerlich als aristokratisch. Ihm folgte bei Jungen der unvermeidliche Besuch des Gymnasiums (einschließlich seiner neuen, dem bürgerlichen Interesse an „Realien“ jenseits der klassischen Sprachen entsprechenden Spielarten), das zur klassischen Bürgerschule wurde. Die höhere Schule war auch ein Ort der Disziplinierung, an dem bürgerliche Tugenden wie Fleiß, Ordnung und eine langfristige Lebensplanung trainiert wurden. Im Gymnasium als bürgerlicher Einheitsschule – Internate spielten in Deutschland, anders als in Großbritannien, eine geringe Rolle – trafen sich die Lebenskreise von Wirtschaftsbürgertum und Bildungsbürgertum.
Bildungsbürger waren selbst häufig als Studienräte oder Professoren im staatlichen Erziehungsbereich tätig. Nie war das gesellschaftliche Ansehen dieser Berufe höher als im Kaiserreich. Die Verbesserung von Bildungschancen für Mädchen ging ebenfalls vorwiegend auf bürgerliche Anstöße zurück. Einerseits pflegte das Bürgertum das Ideal der auf die Privatheit des Hauses konzentrierten, bei ihren häuslichen Verrichtungen von Dienstmädchen unterstützten Frau und Mutter; andererseits besaßen die wichtigsten Aktivistinnen der frühen Frauenbewegung, die sich für Mädchenbildung und weibliche Erwerbschancen einsetzten, einen bürgerlichen Familienhintergrund.
Die deutsche Gesellschaft wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer bürgerlichen Gesellschaft mit aristokratischer Dekoration; Führungspositionen in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen, vor allem im Militär, waren allerdings für bürgerliche Schichten selbst im frühen 20. Jahrhundert kaum zu erreichen. Das Bürgertum bildete kein einheitliches Milieu. Allein schon die konfessionelle Kluft zwischen Protestanten und Katholiken konnte eine gemeinsame Geselligkeit behindern; „Mischehen“ standen ganz außer Frage. Man darf auch nicht übersehen, dass es neben der bürgerlichen Kultur zahlreiche ländlich-bäuerliche und proletarische Kulturformen gab, die sich gegenüber den Verlockungen der Bürgerlichkeit resistent zeigten. Andererseits suchten auch viele Arbeiter und Handwerker sozialen Aufstieg und persönliche Erfüllung in „Bildung“, dem bürgerlichen Leitbild schlechthin, und das Leben auf dem Dorfe „verbürgerlichte“ sich umso mehr, je leichter wohlhabenden Bauern die Güter städtischen Konsums erreichbar wurden.

QuellentextDas Bürgertum und seine Kinder

Mehr und mehr zentrierte sich das bürgerliche Familienleben um die Kinder. [...] Erziehung als absichtsvolle und von den Eltern geleitet Veranstaltung wurde mit Interesse verfolgt und mit Hoffnungen bedacht. Als Brücke zwischen Kinderwelt und Erwachsenenwelt sollte sie die jeweils notwendigen und erwünschten Charaktermerkmale und Persönlichkeitsstrukturen herstellen.
Je mehr Energie, Emotionalität und Erziehungsmühen auf die Kinder verwandt wurden, desto mehr wuchs der Wunsch, ihnen die optimalen mentalen wie materiellen Zuwendungen bieten zu können. Bei häufig begrenztem Budget hieß dies, die Kinderzahl überschaubar zu halten. Nachdem die Durchschnittskinderzahl in Bürgerfamilien bis zur Jahrhundertmitte bei etwa fünf bis sieben Kindern gelegen hatte, tummelten sich in den Kinderstuben des Kaiserreichs häufig nur noch zwei bis vier Kinder. [...]
Ein weiterer Grund für die Geburtenreduzierung war die im ausgehenden 19. Jahrhundert wachsende Chance, dass Kinder ihre Kindheit überlebten. Dank verbesserter Hygiene, neuer Erkenntnisse im Bereich der Säuglingspflege und medizinischer Fortschritte [...] überstanden ihre Kinder Krankheiten, die ihnen wenige Jahre zuvor noch fast zwangsläufig das Leben gekostet hätten. [...]
Doch bei aller Liebe zwischen Eltern und Kindern: Die bürgerliche Familienharmonie kannte auch Missklänge. Selbst wenn das Bürgertum bereit war, altersspezifischen Ansprüchen der Kinder in hohem Maße Rechnung zu tragen, wurde dabei nie die zukünftige gesellschaftliche und vor allem geschlechtsspezifische Rolle der Kinder aus den Augen verloren. Schon von den ersten Kinderjahren an hatten Bürgereltern sehr konkrete Vorstellungen, was Jungen mussten und Mädchen nicht durften – und umgekehrt.
Bürgersöhne konnten zwar ihre ersten Kinderjahre relativ unbeschwert genießen, mussten dann aber bald dafür gewappnet werden, in den Fußstapfen des Vaters den eingeschlagenen Bürgerweg weiter zu gehen. Mit dem Vater als Vorbild, dessen Beruf in dem Zusammenspiel von materiellem Erwerb und individueller Erfüllung als Maxime des männlichen Lebensentwurfs verklärt wurde, waren die kleinen Bürger schon von klein auf mit hohen Leistungserwartungen konfrontiert. Mehr noch als die Söhne aus dem Bildungsbürgertum hatten Unternehmersöhne, befand sich, wie noch lange im 19. Jahrhundert üblich, die Familienvilla auf dem Betriebsgelände, immer ihre berufliche Zukunft direkt vor Augen. [...]
Spätestens mit dem Eintritt ins Gymnasium [...] begann [...] der Ernst des Lebens. Der Stundenplan beherrschte nun den Alltag, der sich in einer methodischen Zeiteinteilung nach Schulschluss fortsetzte. [...]
Leistungsdruck und Selbstdisziplin lasteten vor allem auf Bürgersöhnen. Die Erwartungen, denen die Bürgertöchter unterstanden, waren anderer Art. Dass die Familie ihr Bestimmungsort sein würde, für den sie schon als Mädchen vorbereitet werden sollten, erfuhren sie früh und ebenso früh die damit verbundenen Einschränkungen. Anders als ihre Brüder [...] durften Bürgertöchter den schützenden Familienraum nur selten verlassen. Ihre „Berufung“ lebte ihnen die Mutter vor, vorbereitet darauf wurden sie mit Puppen, Puppenstuben und Küchenutensilien en miniature. Was sie als Kleinkinder noch im Spiel erproben sollten, wurde bald zu ernsthaften Verantwortlichkeiten für den Familienhaushalt. [...] Auch wenn es sich nicht alle Bürgereltern leisten konnten, ihre Töchter mit einer [...] Vielfalt „weiblicher“ Kenntnisse zu versorgen, war doch die Beschlagenheit auf dem gesellschaftlichen Parkett ein unhinterfragtes Muss der weiblichen Erziehung. Durch ihr geschliffenes Auftreten sollten sie jede Gesellschaft schmücken, die Aufmerksamkeit der Männerwelt auf sich ziehen und sich die besten Heiratschancen eröffnen. Das in der Schule erlernte Bildungswissen geriet dabei leicht in den Hintergrund. Erst im Kaiserreich, als die Bürgerängste wuchsen, nicht alle Töchter angemessen verheiraten zu können, entstanden, in der Regel auf Initiative ihrer Väter, höhere Töchterschulen, die jedoch im Lehrplan weiterhin andere Akzente setzten als die von den Söhnen besuchten Gymnasien. Drei Jahre früher als ihre Brüder kehrten Bürgertöchter auch jetzt noch der Schule den Rücken, um sich als „Wartemädchen“ die Zeit bis zur erwünschten Eheschließung zu vertreiben. Die Meisten gewannen dieser monotonen Zeit als „Haustochter“ wenig ab. [...]

Gunilla Budde, Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Darmstadt: WBG 2009, S. 33 ff.

Europa 1850-1880



Wohlstand

Die Jahre nach der Jahrhundertmitte erschienen bereits vielen Zeitgenossen als eine markante Wendezeit. Der Rückblick des Historikers bestätigt diesen Eindruck. In den 1870er- und 1880er-Jahren klare chronologische Einschnitte von gesamteuropäischer Bedeutung zu finden, ist schwieriger. Viele Tendenzen setzten sich von der Mitte des Jahrhunderts bis mindestens zum Ersten Weltkrieg fort. Doch um 1880 herum verdichteten sich Anzeichen der Veränderung auf vielen Gebieten. Gute Gründe sprechen dafür, diese Veränderungen als Übergänge zwischen unterschiedlichen historischen Epochen zu beschreiben. Nirgendwo waren während des dritten Viertels des 19. Jahrhunderts diese Veränderungen größer als im Bereich des materiellen Alltagslebens. Europa begann zu prosperieren. Für eine wachsende Zahl seiner Bewohner wurde das Leben luxuriös, für eine viel größere Zahl aber wurde nicht weniger Entscheidendes gewonnen: ein Minimum an materieller Sicherheit. Die späten 1840er-Jahre waren an vielen Orten, nirgendwo dramatischer als in Irland (wo der Hungersnot von 1846 bis 1852 ein Achtel der Bevölkerung zum Opfer fiel), eine Zeit des Hungers oder zumindest des nur prekären Überlebens gewesen. Im folgenden Jahrzehnt wurde die Macht des Hungers über europäische Gesellschaften gebrochen; nur noch vereinzelt kam es in Friedenszeiten zu akuten Krisen der Grundversorgung.
Ein alter Mechanismus wurde damit außer Kraft gesetzt: Wirtschaftliches Wachstum war früher in agrarischen Gesellschaften immer wieder durch die Zunahme der Bevölkerung eingeholt und aufgezehrt worden. Um die Jahrhundertmitte begann nun nicht nur in Deutschland, sondern auch in einer wachsenden Zahl von Wachstumskernen in anderen Ländern Europas ein, wie die Ökonomen sagen, wirtschaftliches Wachstum, „das sich selber trägt“. Mit anderen Worten: Die Wachstumsraten der Produktion waren langfristig und stabil höher als die der Bevölkerung. Damit konnte im Durchschnitt einer Volkswirtschaft das Einkommen pro Kopf steigen; der verfügbare, also für Konsumausgaben und Ersparnisse einzusetzende Verdienst nahm zu. Die konsumtive Verwendung von Einkommen schuf Nachfrage auf dem Markt, was wiederum eine Erweiterung der Produktion anregte. Ein Teil des Wachstums der industriellen Produktion in Europa war daher auf eine expandierende Nachfrage zurückzuführen. Ersparnisse wiederum wurden durch die Institutionen des Finanzsektors, besonders durch ein Bankwesen, das nach der Jahrhundertmitte einen großen Aufschwung nahm, zu Investitionen aufbereitet. So entstand ein spiralförmiger Aufwärtstrend, bei dem sich mehrere Faktoren zusammenwirkend steigerten. Derlei hatte es bis dahin in der Geschichte noch nie gegeben. Eine schnell steigende Produktion folgt aus einer zunehmenden Produktivität, also einer wachsenden Erzeugung von Waren und Dienstleistungen bei gleichem zeitlichem Arbeitsaufwand. Die steigende Produktivität ihrerseits erklärt sich durch die technologische Verbesserung von Werkzeugen und Maschinen, eine immer effizientere Energienutzung, die Vergrößerung der Umschlaggeschwindigkeit durch neue Verkehrsmittel wie Eisenbahn und Dampfschiff, die Expansion des nahen und fernen Handels und die Auswirkungen einer verbesserten Qualifizierung von Arbeitskräften. In dem Maße, wie auch Land- und Forstwirtschaft – zumeist langsamer als die Industrie – ihre Produktivität steigern konnten, setzten sie Arbeitskräfte für die anderen Wirtschaftssektoren frei, also für Industrie und Dienstleistungen.

Bevölkerungswachstum in Europa

Die Verwendung dieser Grafik ist honorarpflichtig.

Auch wenn ein solcher Prozess der Industrialisierung auf den britischen Inseln und in kleinen Regionen des Kontinents bereits vor 1850 begonnen hatte, prägte er erst danach den Kontinent insgesamt. Und sogar in Großbritannien wurde jetzt erst die extreme Verelendung der Fabrikarbeiter, wie sie für die Anfänge der Textilindustrie charakteristisch gewesen war, langsam überwunden. Freilich wirkte sich die Industrialisierung geografisch nicht gleichmäßig aus. Wie schon in ihren Anfängen, so blieb sie auch weiterhin regional konzentriert. Große Teile der europäischen Randzonen von Portugal und Spanien über das mediterrane Frankreich, Süditalien und den Balkan bis nach Russland waren noch um 1900 Agrargesellschaften, jedoch überall mit gewissen industriellen Einsprengseln. Wachstum und Umbau der Wirtschaft ließen kaum eine Ecke Europas ganz unberührt.
Sozial gesehen gab es selbstverständlich Gewinner und Verlierer. Landarbeiter hatten vom langsam steigenden Wohlstand weniger als höher qualifizierte Fachkräfte, die in den neuen Wachstumsbranchen Eisen und Stahl, Metallverarbeitung, Bergbau und Eisenbahn Beschäftigung fanden. Hunderttausende, die in niedergehenden Gewerben und Handwerken arbeiteten, machten die Erfahrung von Arbeitslosigkeit, Statusverlust und Entwurzelung. Am oberen Ende der sozialen Hierarchie verdrängten neue bürgerliche Unternehmereliten nicht in jedem Fall den alteingesessenen Adel, machten ihm aber die Symbole seiner kulturellen Überlegenheit streitig und übertrafen ihn nicht selten an Reichtum. In neu gegründeten Industriestädten fehlten ohnehin die überkommenen Strukturen einer von aristokratischem Landbesitz dominierten Sozialordnung. Erstmals in der europäischen Geschichte wurde der kapitalistische Unternehmensgründer, der „Industrielle“ oder „Industriekapitän“, zu einer gesellschaftlichen Leitfigur. Er trat an die Stelle der patrizischen Kaufleute früherer Zeiten.
Besonders deutlich sichtbar wurde der Wohlstandsgewinn in der Modernisierung vieler Städte, besonders der größten Metropolen. Die Reste mittelalterlicher Stadtbilder verschwanden. Stadtmauern und Tore wurden beseitigt. Öffentliche Hygiene und Seuchenprävention wurden erstmals zu wichtigen Themen der Lokalpolitik. Nach zwei oder drei Jahrzehnten infrastrukturellen Ausbaus waren viele Großstädte gesünder geworden. Die Architektur wurde nunmehr stärker von Repräsentationsbauten der Bürgergemeinde wie Rathäusern und Museen geprägt als von den Monumenten fürstlicher und kirchlicher Bautätigkeit. Die großzügige Neuanlage der Pariser Innenstadt unter Napoleon III. und seinem Stadtplaner, Baron Georges-Eugène Haussmann, wurde zum Vorbild für städtische Modernisierung in ganz Europa.

Durchschnittliches Monatseinkommen eines deutschen Arbeiterhaushaltes (beide Eltern und zwei Kinder arbeiten)

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Wirtschaftspotenziale in Europa 1840 bis 1880

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Nationalismus, Reform, Stabilisierung

Die „Achtundvierziger“-Revolution war, insgesamt gesehen, ein einziger, aber in viele Stränge und Schauplätze differenzierter Revolutionsprozess, der nicht nur die Länder des Deutschen Bundes, sondern ebenso weite Teile des übrigen Europa erfasste, vor allem Italien, nicht aber Großbritannien und Russland. Dieser Prozess begann im Februar 1848 mit der Ausrufung der Zweiten Republik in Frankreich. Er endete im August 1849 mit der brutalen Unterwerfung der letzten Aufständischen in Ungarn durch österreichische und russische Truppen.
Die Revolutionäre hatten ihre Ziele nur selten erreicht. Die Revolution führte nicht zur Parlamentarisierung Kontinentaleuropas und zur Ausbreitung der liberalen Demokratie. Die großen Dynastien blieben auf ihren Thronen. In Frankreich wurde ein kurzes republikanisches Intermezzo durch die Diktatur Louis-Napoleon Bonapartes (1808-1873) und sein darauf folgendes Kaisertum abgelöst. Die städtischen Unterschichten, die vielfach die radikalsten Strömungen getragen hatten, vermochten ihre Lage nicht zu verbessern. Dennoch blieb diese „gescheiterte“ Revolution nicht ohne konstruktive Wirkungen. Die Leibeigenschaft verschwand nun überall außerhalb des Zarenreiches und kleiner Enklaven in Ostmitteleuropa. Damit kam der lange Prozess der Bauernbefreiung, der mit der Französischen Revolution begonnen hatte, bis an die Grenzen des Zarenreichs zum Abschluss. Die rebellischen Bürger hatten zwar ihre Forderungen nach größerer politischer Mitsprache auf der Ebene der Zentralregierungen nicht durchsetzen können, doch wurde ihre Stellung auf Gemeindeebene vielfach gestärkt. Auch wenn die erhofften freiheitlichen Verfassungen einstweilen ausblieben, war der Verfassungsgedanke stillschweigend als legitim akzeptiert worden. Die staatlichen Bürokratien erkannten die Notwendigkeit weiterer rechtlicher und organisatorischer Reformen, die den Rahmen für wirtschaftsbürgerliche Aktivitäten verbessern würden. Nach 1848/49 hatte die hohe Beamtenschaft im Allgemeinen ein offeneres Ohr für die Anliegen von Unternehmern. Die politische und die wirtschaftliche Programmatik der vorherrschenden bürgerlichen Politikorientierung, des Liberalismus, traten fortan auseinander: eine Grundlage für die spätere Spaltung in „linksliberale“ und „rechtsliberale“ Strömungen, letztere die wirtschaftliche Freiheit, erstere die Freiheit des Denkens und politischen Handelns betonend.
Das dritte Quartal des 19. Jahrhunderts war insgesamt eine Zeit freiheitlicher Reformen „von oben“, vor allem des langsamen Ausbaus von Rechtsstaatlichkeit. Der Staat gewährte einen Teil von dem, was 1848/49 nicht erkämpft werden konnte. Das Wahlrecht wurde Schritt für Schritt auf breitere männliche Bevölkerungskreise – aber nirgendwo auf Frauen – ausgedehnt, indem die Besitzqualifikationen für den Eintrag ins Wählerregister gelockert wurden. Im Zarenreich wurde 1861 endlich die Leibeigenschaft beseitigt. Dies geschah als Teil einer direkt vom Zaren ausgehenden neuen Politik, Russland nach seiner Niederlage gegen Großbritannien und Frankreich im Krimkrieg 1856 international wettbewerbsfähig zu machen.
Dort, wo Nationalstaaten neu gegründet wurden, machte der Zusammenschluss kleinerer Einheiten Integrationspolitik und damit Reformen unerlässlich. So in Italien, das 1861 erstmals in seiner nachantiken Geschichte unter eine einheitliche Regierung kam (mit Ausnahme des Kirchenstaates). So zehn Jahre später in Deutschland. Doch auch in einem seit Jahrhunderten zentralistisch regierten Großstaat wie Frankreich waren riesige und langwierige Anstrengungen nötig, um aus Dorfbewohnern, die in engen Horizonten lebten, national denkende Franzosen zu machen. Der Nationalismus wurde nach der Jahrhundertmitte zur stärksten mobilisierenden Idee in Europa. Er war nach frühneuzeitlichen Anfängen in der Zeit der Französischen Revolution in Frankreich selbst ebenso wie unter seinen Gegnern entstanden. Was anfangs eine Denkströmung unter Intellektuellen gewesen war, verbreitete sich aber nur sehr langsam über das gesamte Gesellschaftsgefüge hinweg. Vor dem Aufkommen einer Massenpresse waren der Propagierung von politischen Ideen, die in den Metropolen entstanden, ohnehin enge Grenzen gesetzt.
Die Stärkung eines Wir-Gefühls unter Menschen, die sich nicht persönlich kennen, und die Wendung sowohl gegen Nachbargesellschaften als auch gegen nicht-konforme Minderheiten im eigenen Land waren (und sind) die beiden Hauptmerkmale des Nationalismus. Diese Kombination findet sich nach 1850 überall in Europa. Sie war aber nicht, wie nationalistische Geschichtsdeutungen häufig annehmen, die maßgebliche Ursache für Nationalstaatsbildung. Die beiden wichtigsten nationalen Einigungsprozesse, der italienische und der deutsche, wurden weniger von Massenbewegungen von unten als von sozial konservativen Machteliten von oben durchgesetzt. Überhaupt kann man das 19. Jahrhundert in Europa nur sehr bedingt als das Zeitalter des Nationalismus oder der Nationsbildung betrachten. Unabhängige Nationalstaaten entstehen zumeist durch den Zerfall von Imperien oder durch Abspaltung von ihnen – wie die USA. Da die Imperien ausnahmslos weiter bestanden, fehlte es an Gelegenheiten zur Nationalstaatsbildung. Nur Belgien und Griechenland kamen als neue Nationalstaaten auf die politische Landkarte. Ungarn erreichte durch den sogenannten Ausgleich von 1867 innerhalb der Habsburgermonarchie ein hohes Maß an Autonomie, die an die Schwelle nationaler Selbstständigkeit heranführte. Keine andere Nationalität im Reich des Kaisers zu Wien erhielt ähnliche Zugeständnisse. Irland blieb weiterhin ein Teil Großbritanniens. Polen existierte nicht als Nationalstaat, sondern war unter Russland, Preußen und Österreich aufgeteilt. Die politische Landkarte Europas wurde zwar zwischen 1861 und 1871 durch die Einigungen in Italien und Mitteleuropa verändert. Weitaus größere Verschiebungen sollten aber erst unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs mit der Auflösung der Habsburgermonarchie, des Zarenreiches und des Osmanischen Reiches vor sich gehen. Am Ende der 1870er-Jahre war in Europa ein höheres Maß an innen- wie außenpolitischer Stabilität erreicht als jemals zuvor im 19. Jahrhundert.

QuellentextWie Paris zur Weltstadt wurde

[…] Noch war Louis-Napoléon „nur“ Präsident, als er Georges-Eugène Haussmann im kalten Januar 1849 zum ersten Mal im Élysée-Palast empfing, der von den Verwüstungen der 48er-Revolution gezeichnet war. Doch der künftige Kaiser erkannte in dem fähigen Provinzpräfekten genau den Mann, den er suchte: den Planer seiner monumentalen Hauptstadt.
Das Viertel um den Bahnhof SaintLazare ist ein Musterbeispiel der „Haussmanisation“, der nicht nur urbanen und architektonischen, sondern zugleich auch der sozialen Umgestaltung von Paris. 1852 zum Präfekten des Départements Seine – also von Paris – ernannt, fand er eine in ihrer Struktur mittelalterliche Stadt vor, die an den Rändern in wilde Siedlungen, teils gar in Slums auslief. So auch um den Bahnhof Saint-Lazare. Westlich von ihm lag eine Gegend, die den bezeichnenden Namen „Klein-Polen“ trug, mehr oder minder eine Barackensiedlung von polnischen Immigranten. Die Bewohner ließ Haussmann vertreiben, das hügelige Gelände planieren, mit dem Lineal gezogene Straßen ziehen, die sich in spitzen Winkeln kreuzen.
Die Place de l’Europe, ein schon vor Haussmann angelegter Platz, wurde nun zu einer gewagten Brückenkonstruktion über den Gleisen des Bahnhofsvorfelds, auf die die Straßen sternförmig zulaufen. Doch erst die Weltausstellung von 1867 brachte einen ungeheuren Aufschwung der Bautätigkeit mit sich. In rascher Folge wurden bis in die 1870er Jahre hinein die fünfstöckigen Wohnhäuser hochgezogen, die dem neuen Stadtquartier ihr Gesicht geben. Diese neoklassischen Häuser mit ihren tiefgezogenen „Pariser“ Fenstern, schmiedeeisernen Balkonbrüstungen und maximaler Firsthöhe von 35 Metern bestimmen unverändert das Bild der Stadt. Nach Haussmanns Rezepten entstand das Paris, wie alle Welt es heute kennt. [...]
In das neue Quartier de l’Europe zogen die Verfechter des „modernen Lebens“, voran die Maler des Impressionismus, Edouard Manet, Claude Monet und Gustave Caillebotte, aber auch der Dichter Stéphane Mallarmé und der Romancier Maxime du Camp. Und natürlich hat Zolas Romanheld Jacques Lantier hier sein fiktives Zuhause. Die Kehrseite des Haussmann’schen Stadtumbaus sind die Enteignungen und Abrisse zahlloser Häuser, die beinahe gewaltsame Vertreibung ihrer Mieter, der „kleinen Leute“, und die Inbesitznahme der inneren Stadt durch die neureiche Bourgeoisie. Die heutige „Gentrification“ ist dagegen ausgesprochen harmlos.
Haussmanns Planungen blieben nach seinem Rücktritt 1870 auch für die nachfolgende Dritte Republik bestimmend. Das „Quartier de l’Europe“, nunmehr ganz und gar innerstädtisch, wurde zum bevorzugten Wohnort des gehobenen Bürgertums. Große Wohnungen in den typischen neoklassischen Häusern, dazu die Eisenbahn für den Sonntagsausflug an die Seine: Das ist das Leben der neuen Mittelklasse, das die Impressionisten in ihren Bildern festhielten. [...]

Bernhard Schulz, „Wie Paris zur Weltstadt wurde“, in: Der Tagesspiegel, Berlin, vom 21. November 2010

QuellentextRussland: Auf dem Weg in die Moderne?

Während der Alltag sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts kaum merklich änderte, wandelten sich die äußeren Bedingungen Rußlands nach 1848 schnell und auffallend. Die Übernahme der Ergebnisse der ersten industriellen Revolution in den westlichen Ländern des Kontinents verschärfte den überkommenen Rückstand. [...] [U]nd es gab keinen Zweifel, dass Reformen nach westeuropäischem Vorbild nötig waren. Kaiser Alexander II. (1855-81) machte sich zum Anführer der liberalen Bewegung: 1864 wurden Selbstverwaltungsorgane auf Kreis- und Gouvernementsebene (semstwo) geschaffen, die dem Provinzadel und dem Bürgertum gemeinnützige Tätigkeiten in der Volksbildung, dem Gesundheitwesen, dem Verkehrsausbau und der Armenfürsorge ermöglichten. Zugleich mit dieser Dezentralisierung von Verwaltung gab eine Justizreform durch die Einführung von Friedensrichtern und Geschworenengerichten mehr Rechtssicherheit. Die sechs Universitäten des Landes erhielten die akademische Selbstverwaltung zurück, die ihnen unter Nikolaus genommen worden war; 1863 wurde die Universität Warschau, allerdings mit russischer Unterrichtssprache, wiedereröffnet, zwei Jahre später die Universität Odessa gegründet.
Die wichtigste Reform war jedoch die Befreiung der Bauern von Fronen und Abgaben an die Gutsherren 1861. Der baltische Adel war auf seinen Gütern mit der Bauernbefreiung vorangegangen, hatte die Bauern jedoch ohne Land freigesetzt und damit ein ländliches Proletariat geschaffen. In Kernrußland wollte man diesen Fehler vermeiden, andererseits aber auch den Adel nicht ruinieren. Eigenwirtschaft der Güter machte in Rußland meist nur einen geringen Teil des adligen Landsbesitzes aus – der größere Teil wurde von den Gutsbauern zwar als Fron (Barschtschina), aber mit den Mitteln ihrer eigenen Höfe bewirtschaftet. Hätten die Bauern das Land erhalten, das sie bewirtschafteten, dann wären die Güter weithin als Wirtschaftseinheiten verschwunden und damit jene Institutionen, wo das Exportgetreide vor allem angesammelt wurde. Wären jene Bauern einfach freigesetzt worden, welche ihren Herren keine Fron leisteten, sondern Geld zahlten (Obrok), dann wäre auch dieser Adel ruiniert gewesen. Die Befreiung der Bauern wurde also in sehr unterschiedlichen Verfahren so durchgeführt, dass die Güter nicht nur große Ländereien behielten – die Landanteile der Bauern also kleiner waren, als was sie bewirtschafteten –, sondern die Gutsbesitzer auch Abzahlungen für ihre ehemaligen Leibeigenen bekamen. Das Geld streckte der Staat den Bauern vor; aber desto mehr hielt er daran fest, dass die Dorfgemeinden insgesamt für diese Schulden (wie auch für die Steuer) hafteten. [...] Die Gesamthaftung hielt die Bauern auf dem Lande fest, statt sie einem frühkapitalistischen Differenzierungsprozess auszusetzen, der die ärmeren dann in die Städte getrieben hätte.

Hans-Heinrich Nolte, Kleine Geschichte Rußlands, Stuttgart: Reclam 2003, S. 138 ff.



„Realismus“ und sozialistische Gesellschaftskritik

Nach 1850 veränderte sich das kulturelle Klima in Europa. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte in allen europäischen Nationalkulturen literarisch im Zeichen der Romantik gestanden. In der Musik setzte die Romantik etwas später ein als in der Literatur, etwa um 1830, sie erfuhr einen Höhepunkt im musikdramatischen Werk Richard Wagners (1813-1883) und hielt sich dann noch bis zum Ende des Jahrhunderts. In der Baukunst lässt sich, abgesehen von Anklängen an ein imaginiertes Mittelalter („Neo-Romanik“, „Neo-Gotik“), ein romantischer Stil weniger deutlich erkennen. Hier überwog in ganz Europa der Klassizismus, also eine Wiederbelebung altgriechischer Formen mit Säulen und Portiken. Romantische Malerei interessierte sich weniger als die Kunst des 18. Jahrhunderts für mythologische Motive und wandte sich Naturszenen und orientalischen Sujets zu.
Die literarische Romantik, die in Deutschland bis zum Tod Johann Wolfgang von Goethes 1832 in einer produktiven Spannung zum Kunstprogramm der „Klassik“ stand, sah die Welt als doppelbödig. Hinter der Oberfläche der wahrnehmbaren Erscheinungen verbarg sich eine Sphäre des Geheimnisvollen, die im Traum zugänglich war oder auch plötzlich und verstörend in die Realität des Alltags einbrechen konnte, so zum Beispiel bei E.T.A. Hoffmann (1776-1822) oder in den USA bei Edgar Allan Poe (1809-1849). Romantische Literatur erkannte ganzheitliche Zusammenhänge in der Natur; in Deutschland wurde erstmals der Wald zu einem bevorzugten Schauplatz. Im Unterschied zu Aufklärung und Klassik, die sich immer wieder auf die Antike bezogen, war die Romantik von Mittelalter und Renaissance fasziniert, etwa in Italien bei Alessandro Manzoni (1785-1873) oder in Frankreich beim jungen Victor Hugo (1802-1885). Zum letzten Mal wurde – besonders eindrücklich bei Joseph von Eichendorff (1788-1857) – eine vorindustrielle Welt beschworen, in der Energie nicht von Dampfmaschinen, sondern aus Mühlrädern stammte. Die europäische Romantik war jedoch keinesfalls nur rückwärtsgewandt und politisch konservativ. Die Stimmungen und Ängste, die sie künstlerisch gestaltete, waren die ihrer Gegenwart.
Es gab Figuren des Übergangs aus der Romantik in eine neue Zeit wie Victor Hugo und den im Pariser Exil lebenden Heinrich Heine. Aber es war doch eher eine neue Generation, die den Ton des „Realismus“ in die europäische Literatur trug. Die bevorzugte und charakteristische Form wurde nun der Roman, der erstmals Lyrik und Drama an Prestige überflügelte. Der realistische Roman wandte sich der Gegenwart zu. Auch wenn er Themen aus der jüngeren Vergangenheit behandelte wie Leo Tolstois (1828-1910) „Krieg und Frieden“ (1868/69) den russischen Abwehrkampf gegen Napoleon, tat er dies nicht in heroisierender Absicht, sondern als Analyse persönlicher Motivationen und politischer Kräfte. Der realistische Roman strebte psychologische Wahrheit ebenso wie wirklichkeitsnahe Detailtreue der oft ausführlichen Schilderungen an. Er war Gesellschaftsroman. Schon der große Pionier dieser literarischen Richtung, Honoré de Balzac (1799-1850), hatte in einer Serie von 91 Romanen die französische Gesellschaft seiner Zeit scharfsinnig durchleuchtet und bissig kommentiert. Er war ein Soziologe, bevor es die Wissenschaft der Soziologie überhaupt gab. In den Jahrzehnten nach Balzacs Tod entwarfen Autoren wie Charles Dickens (1812-1870), Gustave Flaubert (1821-1880; „Madame Bovary“, 1856), Tolstoi (vor allem in „Anna Karenina“, 1877/78), Iwan Turgenjew (1818-1883), Theodor Fontane (1819-1898) und Wilhelm Raabe (1831-1910) breit ausgeführte Porträts von Gesellschaften in schnellem Wandel. Ihre Romane sind bis heute unentbehrliche Quellen für die Sozial- und Mentalitätsgeschichte.
Auch in anderen Künsten machte sich eine postromantische Betrachtungsweise bemerkbar. Maler wie Gustave Courbet (1819-1877) oder Adolph Menzel (1815-1905) stellten Szenen aus der Arbeitswelt dar. In Opern wie Giuseppe Verdis (1813-1901) „La Traviata“ (1853) oder Georges Bizets (1838-1875) „Carmen“ (1875) wurden statt der üblichen historischen oder mythologischen Stoffe Szenen aus der französischen Halbwelt oder aus dem Milieu spanischer Tabakarbeiterinnen auf die Bühne gebracht. Eine epochal bedeutende Veränderung der Sichtweise zog die Erfindung und Verbreitung der Fotografie nach sich. Die technischen Grundlagen für dieses neue Medium waren bis 1840 geschaffen. Ab etwa 1850 verbreitete sich die Praxis der Atelieraufnahmen von Personen; neben das gemalte Porträt trat nun das künstlerisch gestaltete Lichtbild. Mit stetig verbesserter Technik und mobileren Kameras erschlossen sich Fotografen immerfort neue Motive: Landschaften, Architektur, Straßenszenen, Kriegsschauplätze, die „exotischen“ Bewohner der europäischen Kolonien. Am Ende des Jahrhunderts war Fotografie im Zeitungsdruck möglich. Wenngleich es Vielen klar war, dass auch die Fotografie eine subjektive Auswahl und Gestaltung erforderte, war durch dieses neue Medium dennoch ein Zugewinn an bildlicher Wirklichkeitsnähe erreicht, der im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts eine Revolution der menschlichen Wahrnehmung und zugleich der Dokumentation bedeutete. Nicht die realistische Malerei, sondern die Fotografie war das visuelle Gegenstück zu den großen Romanen der Epoche.
Eine soziologische Gesellschaftsanalyse, wie wir sie heute kennen, entstand erst gegen Ende des Jahrhunderts, zuerst in Frankreich bei Émile Durkheim (1858-1917). Bis dahin war die Politische Ökonomie die für den gesellschaftlichen Zusammenhang der Menschen zuständige Wissenschaft. Als sie 1776 von dem schottischen Philosophen Adam Smith (1723-1790) mit seinem Werk „Der Wohlstand der Nationen“ begründet wurde, standen ihr noch die vorindustriellen Verhältnisse einer hoch entwickelten Handwerks- und Handelswirtschaft vor Augen. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Politische Ökonomie zur wichtigsten wissenschaftlichen Begleiterin der Industrialisierung. Ihre zentrale Frage war die nach dem Zusammenwirken der Produktionsfaktoren Boden, Kapital und Arbeit bei der Schaffung von Werten. Um 1850 gab es ein komplettes Lehrgebäude der Politischen Ökonomie. Unmittelbar danach trat ihr schärfster und scharfsinnigster Kritiker auf: der aus Deutschland nach London geflohene Karl Marx, der seine Studien in dem dreibändigen Werk „Das Kapital“ (1867-1895, posthum veröffentlicht durch Friedrich Engels) zusammenfasste. Marx verfolgte den großen Plan, die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise zu entschleiern und sie, über die Politische Ökonomie hinausgehend, mit einer Interpretation der Geschichte als Folge von Klassenkämpfen zu verbinden. Seine politische Absicht war es nachzuweisen, dass von den drei Produktionsfaktoren allein die Arbeit Werte schaffe, die Machtverhältnisse in der „bürgerlichen Gesellschaft“ den Arbeitern aber eine gerechte Entlohnung vorenthielten. Marx‘ Lehre gehört trotz einiger utopischer Aspekte in den größeren Zusammenhang des neuen Realismus nach der Jahrhundertmitte. Sie wurde in vereinfachter Form zur Grundlage des Weltbildes der Arbeiterbewegung überall in Europa.

Wissenschaft als Produktivkraft und Weltdeutungsmacht

Die etwa drei Jahrzehnte nach der Mitte des 19. Jahrhunderts standen wie keine andere Periode der neueren Geschichte im Zeichen der Fortschrittsidee. Erstmals hatten nicht nur wenige Intellektuelle, sondern Millionen von Menschen das Gefühl, dass sich die Lebensverhältnisse in Europa stetig verbesserten. Wirtschaftliches Wachstum und politische Stabilisierung bei allmählicher Demokratisierung und dem langsamen Abbau alter Hierarchien zugunsten größerer Gleichheit der Staatsbürger legten eine solche Weltsicht nahe. Für viele Menschen wurde Fortschritt unmittelbar erfahrbar: Postkutschen wurden durch Eisenbahnen abgelöst, Segelschiffe durch Dampfer; an die Stelle von Erzeugnissen des Handwerks traten zunehmend Produkte der Fabrikindustrie; Städte legten sich Kanalisation und zentrale Wasserversorgung zu. In zahlreichen Ländern Europas wurde in diesen Jahrzehnten das Elementarschulwesen ausgebaut. Der Anteil von Analphabeten an der Bevölkerung ging zurück, Mädchen kamen zum Teil erstmals in den Genuss staatlicher Bildungsangebote. Die Leserschaft von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern multiplizierte sich.
Auch die Wissenschaft erreichte in populärer Gestalt erstmals ein breiteres Publikum. Sie selbst erhielt eine neue öffentliche Bedeutung. Es wurde allgemein anerkannt, dass es kein besseres Symbol und keine wirksamere Ursache des Fortschritts gebe als die Wissenschaft. Sie schuf die Grundlagen für immer neue technische Innovationen. Niemals zuvor waren die Verbindungen zwischen der Gelehrtenstube und der Werkstatt so eng gewesen. Charakteristische Repräsentanten der Zeit waren weniger die reinen Theoretiker als wissenschaftlich geschulte Erfinder und Ingenieure, die manchmal auch als Unternehmer ihre eigenen Entdeckungen wirtschaftlich umsetzten. Werner (von) Siemens (1816-1892), der schon in den 1840er-Jahren seine ersten Erfindungen gemacht und 1847 seine eigene Firma gegründet hatte und der zu einem der Begründer der Elektrotechnik wurde, verkörperte diesen neuen Typ besonders gut. Universitäten, bis dahin auf Theologie, Jura, Medizin und Altertumswissenschaften konzentriert, interessierten sich nun viel mehr als früher für die angewandten Naturwissenschaften. Die Gründung eines „Polytechnikums“ in Zürich 1855, aus dem bald die berühmte Eidgenössische Technische Hochschule werden sollte, war ein viel beachtetes und bald imitiertes Signal.
Das Zusammenrücken von Wissenschaft, Technik und Industrie, das nach 1850 begann, setzte sich in den folgenden Jahrzehnten fort. Die dann aufkommende chemische Industrie zum Beispiel zog schon früh die Forschung in die Unternehmen herein und betrieb eigene Entwicklungslabors unabhängig von den Universitäten. Von nicht geringerer praktischer Bedeutung waren die Errungenschaften der medizinischen und mikrobiologischen Forschung. Sie dämmten Seuchen ein und schufen Behandlungsmöglichkeiten für Krankheiten, die bis dahin als unheilbar gegolten hatten. Wenige Naturforscher hatten größeren Einfluss auf das Leben von Millionen als Louis Pasteur (1822-1895) in Frankreich und Robert Koch (1843-1910) in Deutschland, die die Erreger zahlreicher Leiden identifizieren konnten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandelte sich die Medizin von Handwerk und Kunstlehre zur Wissenschaft. Hospitäler wurden von Pflege- und Versorgungseinrichtungen zu Orten der Therapie und der Forschung. Die neue Wissenschaft erreichte durch Popularisierung immer breitere Bevölkerungskreise. Ein großer Naturforscher aus einer früheren Epoche, Alexander von Humboldt (1769-1859), setzte sich am Ende seines Lebens besonders vehement und erfolgreich für eine solche Popularisierung ein.
Sie führte dazu, dass Elemente wissenschaftlichen Denkens mit Weltbildern anderer Art in Konflikt geraten konnten. Auch im 17. und 18. Jahrhundert hatte es vereinzelt schon Glaubenszweifler oder gar Atheisten gegeben. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts lieferten die Wissenschaften eine umfassende Welterklärung, die den Lehren der christlichen Kirchen in vielen Punkten widersprach. Wer als „Positivist“ die Wahrheit in beobachtbaren „Tatsachen“ und beweisbaren Naturgesetzen suchte, hatte leichtes Spiel mit Geschichten aus der Bibel, die sich dieser Nachweisbarkeit entzogen, zumal eine historische Bibelkritik die Heilige Schrift nunmehr als Dokument ihrer Entstehungszeit zu interpretieren begann. Materialistische Weltdeutungen wurden solchen idealistischer oder religiöser Natur selbstbewusst entgegengesetzt. Die größte Herausforderung eines bibeltreuen Weltbildes kam aus England: 1859 veröffentlichte dort der Naturforscher Charles Darwin (1809-1882) sein Werk „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“, in dem er eine seither vielfach bestätigte und verfeinerte Theorie der Evolution des Lebens aufstellte, die rein naturalistisch argumentierte und göttliche Initiative beim Schöpfungsprozess nicht vorsah. Weniger Darwin selbst als manche seiner Anhänger machten daraus eine aggressive Herausforderung der christlichen Religion, deren Vertreter zumeist ebenso kompromisslos antworteten. Niemals war die Alternative „Wissenschaft oder Religion“ schroffer gestellt worden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es mithin in Europa erstmals wissenschaftlich fundierte Alternativen zum Christentum. Freilich fanden sie nur unter einer Minderheit Anklang, und die früher beliebte Behauptung, die Zeit nach 1850 habe in Europa im Zeichen einer allgemeinen Entkirchlichung und „Säkularisierung“ gestanden, kann als widerlegt gelten. In katholischen ebenso wie protestantischen und orthodoxen Gegenden – und stets auf dem Lande mehr als in den Städten – blieb die Kirche eine einflussreiche Autorität. Außerhalb Frankreichs, das seit der Revolution von 1789 „laizistisch“ geprägt war, suchten die Dynastien überall die Nähe zwischen Thron und Altar.

Wichtige Innovationen und naturwissenschaftliche Entdeckungen

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Die Welt 1850-1880



Die großen Bürgerkriege und ihre Folgen: USA und China

Die europäischen Mächte hielten zwischen 1815 und 1854 untereinander Frieden, und die Kriege, die sie zwischen 1854 und 1914 führten, also der Krimkrieg und die drei deutschen Einigungskriege, waren kurz, regional begrenzt und in ihren Folgen überschaubar. Große Bürgerkriege wurden in dieser Zeit in Europa nicht geführt. Dies war in der Neuen Welt ebenso wie im ältesten überdauernden Staatsverband der Erde, dem Chinesischen Kaiserreich, anders. Der nordamerikanische Sezessionskrieg (1861-65) und die Taiping-Revolution in China (1850-64) waren mit großem Abstand die blutigsten Konflikte der Epoche. Der Amerikanische Bürgerkrieg forderte vermutlich 620 000 militärische Tote, die indirekten Opfer nicht gerechnet. Die Taiping-Revolution verwüstete ganze Landstriche auf Jahrzehnte hinaus; die Gesamtzahl der durch sie verursachten Todesfälle könnte – es sind nur grobe Schätzungen möglich – etwa 30 Millionen erreicht haben. Obwohl beide Großereignisse gleichzeitig stattfanden (übrigens nur wenige Jahre nach den europäischen Turbulenzen 1848/49), standen sie in keinem ursächlichen Verhältnis zueinander. Trotz aller Globalisierungsfortschritte der Zeit war es noch möglich, dass sich auf weit voneinander entfernten Schauplätzen politische Entwicklungen ganz unabhängig voneinander vollzogen.
Der Amerikanische Bürgerkrieg kam nicht überraschend. Er ergab sich aus der zunehmenden Entfremdung zwischen Nordstaaten und Südstaaten in der Sklavereifrage. Das politische System der USA war über diese Frage blockiert. Es lag in der Natur der Sache, dass ein Kompromiss unmöglich war: Sklaverei war entweder legal, oder sie war es nicht. Als im November 1860 der Republikaner Abraham Lincoln (1809-1865), ein Gegner der Sklaverei (wenngleich keiner der radikalsten), zum Präsidenten gewählt wurde, nahmen dies die Extremisten in den Sklavenstaaten zum Anlass, den Austritt des Südens aus der Union zu erklären (daher „Sezession“). Wenig später proklamierten sie einen eigenen souveränen Staat, die Confederate States of America. Der agrarische Süden war dem teilweise industrialisierten Norden an Ressourcen weit unterlegen. Niemals war es denkbar, dass er den Norden besiegt hätte. Die zuweilen brillante südliche Kriegführung hätte aber möglicherweise ein Patt erzwingen können und damit eine Teilung des nordamerikanischen Kontinents in drei Großstaaten herbeigeführt: Kanada (damals noch eine Ansammlung britischer Kolonien), die USA und die Konföderation. Dem stand Lincolns Wille entgegen, die Vereinigten Staaten in ihrer bestehenden Form um jeden Preis zu erhalten. Als während des Krieges im Norden die Stimmung gegen die Sklaverei stieg, setzte Lincoln seine moralische Ablehnung der Sklaverei in Politik um und proklamierte eine allgemeine Sklavenbefreiung zum 1. Januar 1863.
Nun wurde das Ende der Sklaverei zu einem offiziellen Kriegsziel des Nordens. Freie Schwarze und befreite Sklaven schlossen sich den Unionsarmeen an. Jedem, auch im Ausland, wurde klar, dass zwei unvereinbare Gesellschaftsordnungen gegeneinander kämpften. Die Kapitulation der Konföderation im Mai 1865 stärkte weltweit liberale und demokratische Strömungen. In Nordamerika selbst bekräftigte sie jene Einheit der Nation, die in Deutschland gleichzeitig mit militärischen Mitteln geschaffen wurde. Die Sklaverei wurde in den gesamten USA verboten. Die Lage der schwarzen Bevölkerung verbesserte sich jedoch nur allmählich und keineswegs kontinuierlich. Die Sklaverei wurde vielfach durch neue Formen der Abhängigkeit und Diskriminierung ersetzt; Schwarze hatten es weiterhin schwer, Eigentum zu erwerben; an der rassistischen Haltung der Weißen änderte sich wenig. Aus der Sicht schwarzer Amerikaner war der Bürgerkrieg nur ein Etappensieg. Ein zweites Problem, die Wiedereingliederung des Südens in die gesamte Nation, wurde nach einigen Jahren besser gelöst. Dies schuf den Rahmen für den Aufstieg der USA zur führenden Industriemacht. Dieser Aufstieg war mit der weiteren Binnenexpansion nach Westen verbunden. In den letzten Indianerkriegen wurde der Widerstand der Ureinwohner Nordamerikas gebrochen.

Sklaven in den USA

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China war keine republikanische Föderation, sondern ein monarchisches Einheitsreich. Sklaverei gab es dort nicht. Dennoch finden sich gewisse Ähnlichkeiten mit Nordamerika. Auch in China erhob sich, geografisch gesehen, der Süden gegen den Norden. Die Rebellen kündigten der Regierung den Gehorsam auf und errichteten ihren eigenen Gegenstaat. Vorübergehend sah es so aus, als könnten sie die Dynastie in Beijing stürzen oder zumindest ihre Kontrolle über Süd- und Mittelchina dauerhaft festigen. Die Bewegung der Taiping, die ein „Himmlisches Reich des Großen Friedens“ (chin.: Taiping tianguo) errichten wollte, entstand aus der Anhängerschaft des religiösen Propheten Hong Xiuquan (1814-1864), der 1850 in entlegenen Gegenden Südchinas zu predigen begann. Hong war durch christliche Traktate beeinflusst, die illegal nach Südchina eingesickert waren. Nach Erleuchtungserfahrungen – er sah sich von Gott zum jüngeren Bruder Jesu erhoben – zimmerte er sich ein Weltbild, das christliche mit chinesischen, insbesondere konfuzianischen Elementen verband.
Hong konnte nur deshalb seine frühe Gefolgschaft zu einer riesigen Armee ausweiten, weil es damals in China viel Anlass für sozialen Protest gab, vor allem eine Wirtschaftskrise als Folge des Opiumkrieges (1840-42) und der beginnenden „Öffnung“ Chinas. Die Schuld für die Missstände wurde aber nicht den Europäern angelastet, sondern der Dynastie der Qing (sprich: „Tching“), die seit 1644 in Peking regierte. Die Taiping suchten sogar Unterstützung bei den christlichen Westmächten, allerdings vergeblich. Dass sie ihre militärischen Ziele nicht erreichen konnten und die Bewegung 1864 in ihrer Hauptstadt Nanjing in einem gigantischen Gemetzel unterging, lag teils an der Zerstrittenheit der verschiedenen Taiping-Führer (die sich „Könige“ nannten) untereinander, teils an der geschickten und nicht minder brutalen Gegenwehr der Qing-Dynastie, nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte. Die kaiserliche Ordnung überlebte, allerdings nachhaltig geschwächt. Reformen, die in der Nach-Taiping-Zeit eingeleitet wurden, blieben zaghaft und vermochten China gegenüber den imperialistischen Mächten nicht nachhaltig zu stärken. 1911 wurde die Monarchie durch eine Revolution gestürzt.

QuellentextGleiche Rechte bleiben vorerst ein Traum

Wie soll nach mehr als 600 000 Toten und unendlich viel Leid in Zukunft […] ein friedliches Zusammenleben möglich sein, nachdem schon vorher auf beiden Seiten so viel Hass herrschte. [Präsident Abraham] Lincoln […] spricht sich für Versöhnung und ein Wiederaufbauprogramm für den Süden aus […].
[…] In vielen Weißen im Süden schwelt ein unversöhnlicher Hass auf die Yankees, die Nordstaatler, und das wird auch noch bis weit ins 20. Jahrhundert so bleiben. Denn viele überzeugte Südstaatler impfen diesen Hass auch ihren Kindern ein. Eine Südstaatlerin berichtet, ihre Mutter habe ihr beigebracht, „Gott zu fürchten, den Süden zu lieben und dafür zu leben, dass er gerächt wird“. […]
Der Demokrat Andrew Johnson […] versucht, Lincolns Versöhnungskurs [nach dessen Ermordung durch einen Südstaatler – Anm. d. Red.] fortzusetzen. […] Bald wird klar, dass das nicht funktioniert. Innerhalb kürzester Zeit sind in den Regierungen der ehemaligen Rebellenstaaten wieder Rassisten an der Macht. Sie versuchen auf Umwegen an der Sklaverei festzuhalten und finden Mittel und Wege, die Schwarzen mit neuen Gesetzen zu unterdrücken. […] Viele Südstaatler wollen nicht akzeptieren, dass Schwarze […] Bürger sein sollen. Deshalb greifen sie zu Gewalt und Terror gegen Schwarze. Der Ku Klux Klan – der Name soll das Geräusch eines Gewehr imitieren, dessen Hahn gespannt wird – wird gegründet und beginnt im Süden mit brutalen Einschüchterungen, Auspeitschungen und Lynchmorden. Schwarze, die den Rassisten aus irgendeinem Grund auffallen, werden vom weißen Mob einfach am nächsten Ast aufgeknüpft oder mit Benzin übergossen und angezündet. [...]
[…] 1877 ziehen im Rahmen eines […] politischen Deals die letzten Unionstruppen aus dem Süden ab. Damit ist die Phase der Reconstruction, des Wiederaufbaus, offiziell beendet. Längst hat in den Südstaaten die romantische Verklärung des alten Südens begonnen, nach und nach wird er für viele zum Mythos.
Die Realität ist weniger schön. Im Süden hat sich eine neue Gesellschaft herauskristallisiert, in der der Rassismus fast ebenso tief verankert ist wie zuvor. „Sie haben nichts vergessen und nichts gelernt aus diesem schrecklichen Krieg“, sagte ein Zeitzeuge aus dem Norden über die ehemaligen weißen Sklavenhalter. Schwarze gelten als Bürger zweiter Klasse, besitzen nur selten Land und schuften unter harten Bedingungen für ihr Überleben. Zwar gibt es Einrichtungen des Bundes, die sie bei der Suche nach Arbeit und allen ihren Anliegen unterstützen sollen, aber wichtig ist für sie vor allem die gegenseitige Hilfe. Ihr gesellschaftliches Leben entwickelt sich oft um die schwarzen Kirchengemeinden herum. Sie müssen den Hass der Weißen ebenso fürchten wie die Armut. Es wird bis in die [1960er] Jahre dauern, bis Schwarze endlich auch im Süden gleiche Rechte haben.

Sylvia Englert, Cowboys, Gott und Coca-Cola, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2005, S. 82 ff.

QuellentextDer Aufstand der Taiping-Bewegung

Vorübergehend erweckte die große Volksbewegung, die das utopische Ziel eines „Himmlischen Reichs des ewigen Friedens“ (Taiping tianguo) anstrebte, den Eindruck, einen alternativen Weg für die Erneuerung Chinas aufzuzeigen. Ihre Ursprünge lagen in der sozialökonomischen Krise Südchinas, die von den Umständen der „Öffnung“ hervorgerufen worden war. Die Verlagerung des Schwerpunkts des Außenhandels von Kanton auf den 1843 geöffneten Hafen Shanghai hatte zu einer hohen Arbeitslosigkeit unter Bootsleuten, Packern und Lastträgern geführt. Die Qing-Regierung versuchte, den daraus resultierenden Einkommensausfall der Südprovinzen durch höhere Steuern zu kompensieren.
Vor diesem Hintergrund gelang es dem charismatischen Gründer der TaipingBewegung, Hong Xiuquan (1814-1864), Anhänger für seine Visionen einer neuen Weltordnung zu gewinnen. Mit seinem starken Sendungsbewusstsein und großen Organisationstalent verband er einen christlichen Egalitarismus, einen chinesischen Messianismus und einen sich erstmals artikulierenden Anti-Mandschurei-Nationalismus, der über eine nostalgische Loyalität gegenüber der Ming-Dynastie hinausreichte. Von seiner prophetischen Erwählung als „Gottes chinesischer Sohn“ überzeugt, scharte Hong Xiuquan als Wanderprediger in der relativ rückständigen Provinz Guangxi innerhalb kürzester Zeit zehntausende Anhänger um sich. Anders als die traditionellen Bauernaufstände verfügte die Taiping-Bewegung über eine breite gesellschaftliche Basis und fand ihren stärksten Rückhalt sogar in großen Städten. Sie stürzte das Qing-Reich im Grunde in einen Bürgerkrieg. Mit dem ersten Aufstand und Kämpfen gegen die lokalen Qing-Behörden im Süden Guangxis begann im Juni 1850 die Eskalation. Im folgenden Jahr erklärte Hong Xiuquan sich zum König des „Himmlischen Reiches des Großen Friedens“ und nahm den Kampf gegen die Qing-Dynastie auf. Die Organisation der Feldzüge überließ er den von ihm ernannten fünf weiteren Königen und konzentrierte sich ganz auf seine spirituelle Autorität. Die Massenheere der Taiping eroberten eine Stadt Südchinas nach der anderen. Überall entlud sich ihre revolutionäre Wut gegen die lokale Oberschicht. 1853 wurde in Nanjing, der frühen Hauptstadt der Ming-Dynastie, das Hauptquartier eingerichtet.
In der zweiten Phase der mittleren Jahre (1853-1859) gelang es der Taiping-Gegenregierung jedoch nicht, ihr Programm in die Tat umzusetzen. Dieses bestand aus einer einzigartigen, aber auch widersprüchlichen Mischung sozialer Revolutionen, kollektiver Heilssuche und eines gegen die Mandschu gerichteten Fremdenhasses. Es enthielt ebenso Elemente eines urkommunistischen Gleichheitsdenkens wie auch Pläne zu einer Modernisierung Chinas nach westlichem Vorbild. Nachdem die Taiping-Armeen zunächst auf dem Vormarsch nach Norden die Qing-Dynastie an den Rand des militärischen Zusammenbruchs getrieben hatten, wurde ihr Vorstoß 1856 am unteren Yangzi gestoppt. Die dortigen Provinzeliten organisierten einen sehr schlagkräftigen Widerstand, bei dem sie (allerdings nicht in entscheidender Weise) von den europäischen Mächten unterstützt wurden, die eine schwache Qing-Dynastie dem undurchsichtigen Taiping-Regime vorzogen. Gleichzeitig zerstörten die Machtkämpfe innerhalb der Taiping-Führung, die schon bald nach der Reichsgründung in Nanjing ausgebrochen waren, die Bewegung auch von innen her. Ihnen fielen 1856 einer der Unterkönige und 20 000 seiner Anhänger zum Opfer. Vergeblich versuchte 1859 Hong Rengan, der Cousin des immer weltfremder werdenden, geisteskranken Himmelskönigs, nach der Stagnation der letzten Jahre der Bewegung noch einen neuen Aufschwung zu verleihen. Da er jedoch über keine eigene Machtbasis verfügte, scheiterten seine Ansätze zur Zentralisierung und Rationalisierung des Taiping-Staates. In der dritten Phase der letzten Jahre (1860-1864) zog sich die Schlinge der Provinzarmeen unter Führung Zeng Guofans zu. Mitte 1862 begann die Einkesselung der Aufständischen in Nanjing, das im Juli 1864 gestürmt werden konnte.
Die extreme Grausamkeit, mit der die Taiping-Bewegung schließlich vernichtet wurde, zeigt die bürgerkriegsähnlichen Ausmaße des Konflikts, der nur mit dem vollständigen Sieg einer der beiden Parteien enden konnte. So gut wie keine Spuren überlebten von der Taiping-Gegenkultur. Die Rebellion und ihre brutale Bekämpfung hinterließen weite Teile Süd- und Mittelchinas – neben den Schauplätzen des amerikanischen Bürgerkriegs – als größtes Schlachtfeld des 19. Jahrhunderts. Einige der verwüsteten Regionen brauchten Jahrzehnte, um sich wieder zu erholen. Vor allem in den Provinzen am unteren Yangzi waren beträchtliche Teile der Oberschicht ausgelöscht worden. Nur Shanghai, das in jener Zeit zahlreiche Flüchtlinge aufnahm, ging gestärkt aus diesem Konflikt hervor und stieg in den folgenden Jahrzehnten zur unumstrittenen Metropole auf dem chinesischen Festland auf.

Sabine Dabringhaus, Geschichte Chinas 1279-1949. Oldenbourg Grundriss der Geschichte Bd. 35, 2. Aufl., München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2009, S. 59 ff.



Defensive Modernisierung: Japan

Japan war seit dem frühen 17. Jahrhundert ein Land, das sich, begünstigt durch seine Insellage, von der Außenwelt noch viel gründlicher abschottete als China. Man war über Kontakte mit Niederländern, die als einzige Europäer in begrenztem Umfang Schiffe nach Japan schicken durften, im Groben über Europa und das Vordringen der europäischen Kolonialmächte in Asien unterrichtet. Die japanische Elite, bestehend aus dem obersten Militärherrn (dem Shogun), etwa 250 Territorialfürsten und deren Kriegern und Verwaltern (den Samurai), hatte jedoch keine Strategie zur Hand, als die USA 1853 auf der Öffnung Japans für westliche Diplomaten und Kaufleute beharrten. Während der folgenden 15 Jahre begannen Großbritannien und die USA mit dem Aufbau einer politischen und wirtschaftlichen Repräsentanz im Inselreich. Zugleich rang die japanische Elite um eine Antwort auf die westliche Herausforderung.
1868 beseitigte ein nahezu unblutiger Putsch von jungen Vertretern der Feudalaristokratie aus südlichen Landesteilen die seit einem Vierteljahrtausend bestehende Herrschaft der Shogune. Stattdessen wurde die längst zum Ornament degradierte Institution des Kaisers wiederbelebt. Fortan regierte eine kleine Oligarchie im Namen des Monarchen. Diese Meiji-Restauration oder Meiji-Erneuerung, wie sie in Japan genannt wird, war in Wirklichkeit eine Revolution „von oben“. Denn die neue Machtelite verteidigte nicht konservativ alte Positionen, sondern erkannte, dass Japan nur durch eine radikale Modernisierung in einer veränderten Welt würde bestehen können. In den Jahren nach 1868 wurde das Land dem radikalsten Sozialexperiment des 19. Jahrhunderts unterzogen. Die alte Statushierarchie wurde abgeschafft, darunter auch die privilegierte Gruppe der Samurai, aus der die Oligarchen selbst stammten. Auf diese Weise wurden die Voraussetzungen für größere soziale Mobilität geschaffen. Japan wurde politisch vollkommen umorganisiert. Es war bis dahin ein Flickenteppich halbautonomer Feudalfürstentümer gewesen, eine Art von Bundesstaat mit relativ starker Spitze. Die Fürsten wurden nun in Pension geschickt, das heißt aus der Staatskasse abgefunden. Dies war eine viel radikalere Lösung als die deutsche Reichsgründung 1871. Japan verwandelte sich in ein unitarisches Land ohne den in Deutschland bewahrten Föderalismus. Das Land wurde nach französischem Vorbild straff und zentralistisch durchorganisiert. Es erhielt eine moderne Bürokratie, die sich für zahlreiche Aspekte des Lebens zuständig fühlte. Militär, Polizei und das Bildungswesen wurden nach westlichen Vorbildern neu geordnet. Eine kaiserliche Universität entstand, die Keimzelle für ein rasch expandierendes Hochschul- und Forschungswesen. Die Staatsfinanzen und die Währung wurden nach den Gepflogenheiten moderner Industriegesellschaften organisiert. Der Staat gab sogar – was in Europa sehr selten geschah – den Anstoß zu Industrialisierungsprojekten. Da Japan sich davor hütete, durch Anleihen vom Ausland abhängig zu werden (wie es gleichzeitig in China und im Osmanischen Reich geschah), lag die Last der Finanzierung der neuen Industrie auf der Bauernschaft, der extrem harte Steuern aufgebürdet wurden.

Musterkolonie Indien und informeller Imperialismus in China

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war im Vergleich zur Situation 100 Jahre zuvor eine neue Geografie der europäischen Kolonialreiche entstanden. Vom kontinentalen Amerika, wo die Kolonisation nach Kolumbus begonnen hatte, war europäische Kolonialherrschaft weitgehend verschwunden. Sie hielt sich noch auf den karibischen Inseln (mit Ausnahme des seit 1804 unabhängigen Haiti), deren weltwirtschaftliche Bedeutung dank der Abschaffung der Sklaverei jedoch zurückgegangen war. Allein Kuba, wo Sklaverei bis 1886 legal blieb, war eine exportorientierte Plantagenökonomie. Das einzige andere Kolonialgebiet in der Neuen Welt war das riesige und dünn besiedelte Kanada, eine Ansammlung mehrerer britischer Kolonien, die sich 1867 zu einer Föderation zusammenschlossen.
Unter allen europäischen Imperien war das britische dadurch einzigartig, dass es in mehreren Kolonien Bevölkerungsmehrheiten europäischer Siedler gab, während die Einheimischen, ähnlich wie in den USA, militärisch besiegt, verfolgt und zurückgedrängt wurden. Dies galt außer für Kanada auch für Australien sowie Neuseeland, das seit 1840 zum British Empire gehörte. Diese Länder nannte man bald nicht mehr „Kolonien“, sondern Dominions, Herrschaftsgebiete, in denen die britische Krone ihre Kontrolle zunehmend auf Militär, Außenpolitik und (teilweise) Finanzen beschränkte. Ansonsten waren diese Länder nicht in die autoritäre Kommandostruktur der Kolonialverwaltung einbezogen. Sie regierten sich im Wesentlichen selbst und hatten Regierungen, die nach britischem Muster demokratisch gewählten Parlamenten verantwortlich waren. Die Gouverneure der Krone hatten nur ein Vetorecht gegen bestimmte Entscheidungen. Kanada, Australien und Neuseeland blieben Teile des British Empire, waren aber am Vorabend des Ersten Weltkriegs in vieler Hinsicht zu selbstständigen Nationalstaaten geworden.
Auch im französischen Kolonialreich verlagerte sich der geografische Schwerpunkt. Frankreichs Position in Amerika war auf einige unbedeutende Inseln reduziert. Napoleon, der große Imperienbauer auf dem europäischen Kontinent, hatte kolonialpolitisch geringe Interessen und fast keinen Erfolg. Ein Neuaufbau eines französischen Kolonialreichs begann erst 1830 mit der brutalen Eroberung Algeriens, die um die Mitte des Jahrhunderts abgeschlossen war. Infolge einer umfangreichen Einwanderung aus Frankreich, Spanien und Italien war Algerien um 1870 zu einer Siedlerkolonie geworden. Anders als etwa in Australien bildeten hier die Einheimischen aber weiterhin eine Bevölkerungsmehrheit, die von allen politischen Rechten ausgeschlossen war. Ein ungewöhnlich schroffer Religionsgegensatz zwischen Christentum und Islam kam hinzu. Algerien war fortan Frankreichs wichtigste Kolonie; es erhielt sogar den Sonderstatus, administrativ ein Teil des Mutterlandes zu sein. In Asien begann ein französisches Engagement 1862 mit der Eroberung von Saigon. Bis 1890 hatten die Franzosen ihre Kontrolle auf ganz Vietnam bis hoch zur chinesischen Grenze ausgedehnt.
Niederländisch-Ostindien (das heutige Indonesien) war ein Überrest aus Hollands goldenem Zeitalter als führende Welthandelsnation, die sich in Batavia (heute Jakarta) ihren wichtigsten asiatischen Stützpunkt geschaffen hatte. Im 19. Jahrhundert fehlten den Niederlanden die Machtmittel für eine aggressive Kolonialpolitik. Sie dehnten ihr Kolonialreich nicht weiter aus. Die Herrschaft über Indonesien wurde jedoch gefestigt und das Inselreich mit Methoden systematischer Ausbeutung zu einer der weltweit lukrativsten Kolonien ausgebaut.
Die bevölkerungsreichste und wirtschaftlich wie politisch wichtigste Kolonie von allen wurde Britisch-Indien. Es war das schiere Gegenteil einer Siedlungskolonie. Europäisch geführte Farmen oder Plantagen spielten hier (abgesehen von Teepflanzungen im nordöstlichen Assam) keine nennenswerte Rolle. Die Regierungsform kann man als despotisch-bürokratisch bezeichnen. Ein mächtiger Generalgouverneur bzw. Vizekönig stand an der Spitze einer bürokratischen Hie-rarchie, die aus gut ausgebildeten und sorgfältig rekrutierten Elitebeamten bestand. Die indische Verwaltung war im 19. Jahrhundert für viele europäische Beobachter das Modell einer „rationalen“ Verwaltung schlechthin. Inder waren von den politischen Entscheidungen über ihr eigenes Schicksal ausgeschlossen. In Nischen des riesigen Landes ließen die Briten weiterhin rund 500 Fürsten gewähren, sorgten aber in diesem „System indirekter Herrschaft“ dafür, dass sie zu keiner militärischen Gefahr für die Kolonialmacht werden konnten.
Indien war für die Briten in mehrfacher Hinsicht von größtem Interesse: Es war ein Prestigeprojekt, der führenden Weltmacht würdig. Es war ein großer Absatzmarkt für die Produkte der britischen Industrie, zuerst Baumwolltextilien, später Eisenbahnen. Es besaß eine bäuerliche Landwirtschaft, die sich derart besteuern ließ, dass sich die Kolonialherrschaft selbst finanzierte und zudem erhebliche Überschüsse in britische Kassen flossen. Und es konnte als ein gewaltiges Reservoir für tüchtige Soldaten dienen. Schon während der Eroberungsphase hatten diese die Mehrheit in der indischen Armee gebildet. Im späten 19. Jahrhundert wurden sie als imperiale Elitetruppen im gesamten Weltreich eingesetzt.
Genau diese indischen Truppen stürzten 1857 die britische Herrschaft in ihre größte Krise im 19. Jahrhundert. Eine lokale Meuterei gegen ihre britischen Offiziere breitete sich rasch aus; einige Fürsten schlossen sich ihr an. Es kam zu Gemetzeln und Massakern auf beiden Seiten. Vorübergehend stand die britische Herrschaft über Indien auf Messers Schneide. Schließlich konnten sich die Briten gegen die Aufständischen, die nicht einheitlich taktierten und keine Vision eines modernen Nationalstaats verfolgten, militärisch durchsetzen. In den Jahrzehnten nach diesem „Großen Aufstand“ war die britische Haltung gegenüber Indien von einem starken Misstrauen geprägt. Man verließ sich nunmehr auf besondere Truppenteile, etwa die loyalen Sikhs, und verzichtete darauf, durch modernisierende Reformen Unruhe in die indische Gesellschaft zu tragen. Die Kolonialherrschaft erstarrte, bis kurz nach der Jahrhundertwende eine neue indische Nationalbewegung das koloniale System herauszufordern begann.
Ein ganz anderes Modell der Expansion wurde in China angewendet. Obwohl der kaiserliche Staat seit dem frühen 19. Jahrhundert stark geschwächt war, den Opiumkrieg verloren und die Gefahr durch die Taiping nur knapp überstanden hatte, tat sich in China niemals ein Machtvakuum auf, in das die Ausländer hätten eindringen können. Zudem galt die chinesische Bevölkerung seit jeher als fremdenfeindlich und abwehrbereit. Schließlich zeigten schon früh mehrere Großmächte Interesse an der Erweiterung ihres Einflusses in China, sodass die Gefahr direkter Konflikte zwischen ihnen bestand. In China wurde daher ein System ausgebaut, dessen rechtliche Grundlagen 1842 am Ende des Opiumkrieges geschaffen worden waren. Die fremden Mächte sicherten sich das Recht der Niederlassung in den meisten von Chinas großen Städten (man nannte sie „Vertragshäfen“). Hongkong ganz im Süden und Shanghai an der mittelchinesischen Küste waren sogar regelrechte städtische Kolonien. Von diesen Stützpunkten aus konnten westliche Geschäftsleute den Handel mit dem Binnenland organisieren; Missionare schwärmten aus, um chinesische „Heiden“ zu bekehren. Ausländische Kanonenboote in den Küstengewässern und auf den großen Flüssen sorgten für den Schutz der ausländischen Interessen. Dieses System funktionierte bis 1895 so gut, dass eine Notwendigkeit von Kolonisierung indischen oder algerischen Typs nicht bestand.

QuellentextRevolte in Indien

[...] Als am 9. Mai 1857 in der Garnison von Meerut unweit Delhis einige Soldaten, die bei Schießübungen den Befehl verweigert hatten, degradiert und zu Gefängnis verurteilt wurden, meuterten tags darauf drei Regimenter, töteten ihre britischen Vorgesetzten, marschierten nach Delhi, brachten sämtliche Europäer, derer sie habhaft werden konnten, um und riefen den dort ansässigen greisen Badahur Shah als den letzten Nachkommen der entmachteten alten Mogul-Dynastie gegen dessen Willen zu ihrem Kaiser aus.
Rasch dehnte sich der Aufstand aus und erfaßte bald ein Gebiet von West-Bengalen bis hin zum Pandschab unter Einschluß des Nordwestens Zentral-Indiens. Neben einzelnen durch die Briten zuvor entmachteten Fürsten schlossen sich ihm auch Teile der ländlichen Bevölkerung und darunter sogar einige Großgrundbesitzer an. Erst nach mehr als einem Jahr erbitterter Kämpfe konnte der Aufstand niedergeschlagen und die Regierungsgewalt der Briten in vollem Umfang wiederhergestellt werden.
Wenn später indische Historiker das Ereignis als den ersten vergeblichen Kampf um die nationale Unabhängigkeit Indiens werteten, weil sich die Rebellen dabei ausdrücklich auf das alte Mogul-Reich bezogen hatten, so halten dem andere, vorwiegend britische Autoren entgegen, dass die große Mehrheit der Inder nicht die Erhebung unterstützte und selbst große Teile der Armee wie die bei Bombay und Madras stationierten Truppen bei ihrem Einsatz gegen die Aufständischen loyal zu den Briten standen.
Doch obwohl der Aufstand nicht von einer bestimmten sozialen Gruppe getragen wurde und es ihm an einem gemeinsamen Programm und einer einheitlichen Führung fehlte, hatte es sich andererseits dabei nicht um eine eher zufällig ausgebrochene Meuterei gehandelt. Vielmehr lassen sich die Ereignisse als Facetten einer Revolte des traditionellen Indien gegen die nun verstärkt einsetzende Politik einer forcierten Europäisierung bestimmen. Nicht zufällig war der Aufstand in der erst kürzlich annektierten Provinz Oudh ausgebrochen, und wenn die meuternden Rekruten zum Teil notleidenden Landgemeinden entstammten und darüber hinaus Angriffe auf Bankiers und Geldverleiher sowie Behördenarchive typische Momente einer sozialen Revolte waren, so handelte es sich hierbei in erster Linie um die Reaktion auf die Auswirkungen einer durch die britische Verwaltung verursachten sozialen Umbruchsituation.
Eindeutiger als die Ursachen lassen sich die Folgen des indischen Aufstands bestimmen, der vor allem das künftige Verhältnis zwischen britischen Kolonialherren und beherrschten Indern nachhaltig beeinflusste. Dabei spielte nicht so sehr die hohe Zahl der Opfer auf beiden Seiten die entscheidende Rolle, als vielmehr die exzessiven Grausamkeiten, die im Verlauf der Kämpfe begangen wurden. Zunächst waren es die Aufständischen, die im Verein mit dem städtischen Mob unterschiedslos alle Europäer, derer sie habhaft werden konnten, niedermetzelten. [...]
Die unmittelbare britische Reaktion auf die Exzesse der Aufständischen war, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Nach der Einnahme von Peshawar band man Gefangene vor die Mündung der Geschütze und gab Feuer; die Wiedereroberung von Delhi gipfelte in einem allgemeinen Blutbad, als jeder erwachsene Inder unterschiedslos niedergemacht wurde. [...]
Längerfristig trug der Aufstand dazu bei, dass vor allem in Indien ansässige Briten ihre Herrschaft nun erst recht auf die natürliche Überlegenheit ihrer angelsächsischen „Rasse“ gründeten, eine unsichtbare Schranke zwischen Indern und Briten errichtet wurde und das Konzept der Treuhandschaft mit dem Fernziel einer graduellen Assimilation in den Hintergrund trat.
Vielmehr war gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Mehrzahl der Briten entschlossen und bereit, die „Bürde des weißen Mannes“ noch auf unabsehbare Zeit hin zu tragen. Gleichzeitig wurden Konsequenzen für die politische Praxis gezogen. Mit der endgültigen Auflösung der East India Company übernahm jetzt mit der India Act des Jahres 1858 der britische Staat endgültig die unmittelbare Verantwortung für seine Herrschaft über 250 Millionen Inder. Die ehemaligen Besitzungen der Gesellschaft gingen an die Krone, in deren Auftrag fortan ein Minister mit seinem India Office und ein aus 15 Mitgliedern bestehender Rat (Council of India) die Geschäfte führten. In Indien erhielt der Generalgouverneur den Rang eines Vizekönigs, und das britische Parlament verlieh 1877 dem Antrag Disraelis folgend Königin Viktoria den Titel einer „Empress of India“. Gleichzeitig verstärkte man die Bemühungen um die Konsolidierung der Herrschaft. Da erst kürzlich unterworfene indische Fürsten wesentlich zu dem Aufstand beigetragen hatten, wurde künftig auf weitere Annexionen indischen Territoriums verzichtet. Stattdessen beließ man insgesamt 562 noch bestehenden indischen Fürstentümern formal ihre Unabhängigkeit. Und während sie, wie einst den Mogulkaiser, nun die britische Monarchin als ihr Oberhaupt anerkannten, übten an ihren Höfen britische Gesandte als „Berater“ de facto die Macht aus. Das Rückgrat der britischen Kolonialmacht blieb auch nach 1858 und nun erst recht die Armee. Hier zog man die Konsequenzen aus den Erfahrungen des Aufstands und verstärkte den Anteil des britischen Personals, sodass das Verhältnis von Engländern zu Indern nun 1:2 betrug (74 000 zu 150 000 im Jahr 1910) und das 2700 Mann starke Offizierskorps nur aus Briten bestand. Hinzu kamen noch Reserveeinheiten in einer Gesamtstärke von knapp 90 000. Damit bildete die indische Armee in Friedenszeiten die größte militärische britische Einheit im Empire und wurde mit der Zeit zunehmend auch außerhalb des indischen Territoriums eingesetzt: u. a. 1860 in China, 1868 in Abyssinien, 1878 in Afghanistan, 1882 in Ägypten und seit 1893 in verstärktem Maße auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen in Afrika, zuletzt besonders im Burenkrieg. Am Ende des Ersten Weltkrieges waren es schließlich 1,3 Mio. Soldaten, die in britischen Diensten ihre Heimat Indien verlassen hatten. [...]

Peter Wende, Das Britische Empire. Geschichte eines Weltreichs, München: C. H. Beck, 2012, S. 162 ff.



Kommunikationsrevolution und Standardisierung

Im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts führten neue technische Systeme und neue länderübergreifende Institutionen dazu, dass die Welt zusammenrückte. Unter den technischen Systemen waren die wichtigsten die interkontinentale Dampfschifffahrt und die Telegrafie. Dampfgetriebene Schiffe waren im Binnenverkehr bereits ein paar Jahre vor dampfgetriebenen Schienenzügen eingesetzt worden. 1838 überquerte erstmals ein Schiff unter Dampf den Atlantik. Solche Schiffe für interkontinentale Passagen mussten groß genug sein, um die hohe See zu bewältigen und um die gewaltigen Kohlevorräte an Bord nehmen zu können, die für den Betrieb erforderlich waren. Anfangs waren die Transportkosten so hoch, dass nur wenige Passagiere sie aufzubringen vermochten und die Beförderung von Massengütern unerschwinglich war. Die frühen ozeanischen Dampfschifffahrtsgesellschaften erwirtschafteten einen großen Teil ihrer Gewinne mit der Beförderung von Post auf der Grundlage von Verträgen mit Postgesellschaften und nationalen Regierungen. In manchen Verwendungen hielten sich Segelschiffe noch mehrere Jahrzehnte lang. Die schnellsten Segelschiffe aller Zeiten, die tea clippers, die frisch gepflückten Tee von Asien nach Europa brachten, verkehrten noch in den 1860er-Jahren.
Die technische Entwicklung trug jedoch schnell zum Siegeszug des Dampfschiffes bei. Die Transportkosten fielen deutlich unter diejenigen von Segelschiffen. Mit der Eröffnung des Suez-Kanals, einem der umfangreichsten Ingenieurprojekte der Zeit, im Jahre 1869 verkürzte sich die Seeverbindung zwischen Europa und Asien mit einem Male auf ein Drittel der früheren Strecke um das Kap der Guten Hoffnung. Bis 1880 war ein Dampfernetz entstanden, das Häfen auf allen Kontinenten verlässlich erreichbar machte. Ozeandampfer waren sicherer als Segelschiffe. Die Gefahr für Menschenleben und Sachwerte war wesentlich geringer. Da sie vom Wind unabhängig waren, konnten sie regelmäßig verkehren. Erstmals gab es auch im Fernverkehr zu Wasser Fahrpläne. Das Dampfschiff war die wichtigste Globalisierungstechnologie der Epoche.
Auch die Telegrafie überwand ozeanische Distanzen, sobald es gelang, Kupferkabel gegen Salzwasser zu isolieren und solche Kabel mit Hilfe von Spezialschiffen über große Entfernungen hinweg auf dem Meeresgrund zu verlegen. Die Telegrafie hatte als landgestützte Technologie begonnen; auf optische Telegrafen folgte der elektrische Telegraf, an dem in den 1830er-Jahren Erfinder in mehreren Ländern gleichzeitig arbeiteten. Ab 1844 stand ein einsatzfähiger Prototyp zur Verfügung. In den 1850er-Jahren wurden die großen Städte Europas durch Telegrafenleitungen miteinander vernetzt. Mit Seekabeln wurde mehrere Jahre lang experimentiert. Ab etwa 1870 war die Technik der Unterwasserkabel ausgereift. Innerhalb weniger Jahre wurde ein Telegrafennetz geschaffen, das die großen Hafenstädte aller Kontinente erreichte. Die letzte wichtige Lücke im globalen Netz wurde geschlossen, als 1903 das Transpazifikkabel zwischen San Francisco und Manila seinen Betrieb aufnahm.
Damit wurde ein beispielloser Grad der globalen Informationsverdichtung erreicht. Noch am Vorabend des Telegrafenverkehrs waren Briefe aus New York 14, aus Kapstadt 30, aus Kalkutta 35, aus Shanghai 56 und aus Sydney 70 Tage nach London unterwegs gewesen. Nun erreichte eine Kabelbotschaft um die halbe Welt ihren Empfänger innerhalb eines einzigen Tages. Telegrafenkommunikation war jedoch sehr teuer. Privatleute konnten sie sich, insbesondere über große Entfernungen, nur selten leisten. Von großer Bedeutung wurde sie für die Übermittlung von Aufträgen und Preisen im Welthandel, für Börsengeschäfte, Diplomatie, Militär sowie für die Nachrichtenagenturen, von denen die großen Zeitungen ihre Neuigkeiten aus dem Ausland bezogen. Die Telegrafie war niemals imstande, große Datenmengen zu transportieren. Sie drang nicht – wie wenige Jahrzehnte später das Telefon – in Privathaushalte vor und bedurfte stets der Bedienung durch ausgebildete Telegrafisten. Die Nachrichtenübermittlung verlief entlang der Kabelleitungen; Botschaften konnten also nur schwer in die Breite gestreut werden wie beim World Wide Web. Insofern war die Telegrafie keine direkte Vorläuferin des Internet. Aber sie beeinflusste Wirtschaft, Politik und das allgemeine Lebensgefühl in geradezu revolutionärer Weise.
Telekommunikation verlangte Standardisierung. Zu Beginn existierten verschiedene technische Telegrafie-Standards nebeneinander, und es war fast unmöglich, grenzüberschreitende Tarife zu ermitteln. Schon seit der Jahrhundertmitte wurde auf verschiedenen Ebenen erfolgreich nach Vereinheitlichungen gesucht. Eine solche Bildung großer Kommunikationsräume durch ausgehandelte Standardisierung charakterisierte zur gleichen Zeit auch andere Bereiche. Die nationalen Eisenbahnfahrpläne wurden allmählich in einen Europa-Fahrplan integriert. Durch Absprachen zwischen den Nationen kam es zu großflächigen Vereinheitlichungen von Gewichten und Längenmaßen. Mitte der 1870er-Jahre hatte sich das metrische System weitgehend durchgesetzt; nur das British Empire betrachtete es mit Skepsis. Das Chaos regionaler und lokaler Zeitmessungen wurde 1884 auf der Internationalen Meridian-Konferenz in Washington beseitigt, als die Einteilung des Globus in Zeitzonen sowie eine internationale Datumsgrenze beschlossen wurden. Auf dem Gebiet des Rechts wurde es möglich, zu Übereinkünften zu gelangen, die Verträgen transnationale Gültigkeit verliehen, es also Gläubigern ermöglichten, ihre Schulden im Ausland einzutreiben. Auch für die Beförderung von Briefpost im Auslandsverkehr wurden Absprachen nötig. Viele der Normierungen und Vereinheitlichungen, die noch heute selbstverständlich sind, gehen auf das dritte Viertel des 19. Jahrhunderts zurück.
Sie waren eng verbunden mit der Schaffung übernationaler Institutionen. Besonders wichtig war dabei der Freihandel, von Großbritannien als Pionier angeregt, der nach 1860 innerhalb weniger Jahre in fast ganz Europa eingeführt wurde. Der Kontinent, der seit jeher durch Zollschranken aller Art zerschnitten gewesen war, verwandelte sich damit in eine einzige große Freihandelszone. Die Rückkehr zahlreicher Länder zu einem gemäßigten Protektionismus ab 1878 machte diese Errungenschaften nicht vollkommen rückgängig. Gegenüber asiatischen Staaten setzten die Briten den Freihandel mit Drohungen oder Waffengewalt durch und diktierten „ungleiche Verträge“, die einheimische Märkte ohne Zollschranken für westliche Produkte öffneten.
Eine weitere neuartige Institution in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen war der Goldstandard, ein Mechanismus zum Ausgleich von Währungsschwankungen. Damit war bis 1870 erstmals in der Geschichte ein umfassendes Weltwährungssystem geschaffen worden, dem sich vor dem Ende des Jahrhunderts mit Ausnahme Chinas alle großen Länder der Welt anschlossen.

QuellentextDer deutsche Erfinder des Telefons

[...] Die Franzosen haben Charles Bourseul, der 1854 ein Telefon beschrieb, aber nicht baute, die Italiener haben den Kerzenfabrikanten Antonio Meucci, der 1860 ein Telefon behauptete (wo ist es?), die Deutschen haben Philipp Reis, der 1861 tatsächlich etwas übertrug, die Welt aber kennt nur den aus Schottland nach Kanada emigrierten Taubstummenlehrer Alexander Graham Bell, der 1876 – anders als alle anderen – einen Apparat vorstellte, mit dem wirklich jeder telefonieren konnte.
Bell kommt 15 Jahre nach Reis und ist zwei Stunden früher auf dem Patentamt als der Amerikaner Elisha Gray. 600 Prozesse werden von Gray und anderen Telefonerfindern gegen das Bellsche Patent geführt, bis vor das höchste Gericht. In den USA hat die umwälzende Bedeutung der Erfindung jeder sofort begriffen, und viele wollen daran teilhaben. Bells Schwiegervater ist Patentanwalt. Er weiß alle Begehren abzuwenden.[...]
Im [Philipp-Reis-]Museum tritt uns Lehrer Reis nach einem Foto von 1860 als lebensgroße Pappfigur entgegen. Kleine Statur, dicker Kopf, jeder Hut eine Sonderanfertigung. [...] Seine Schüler nennen ihn „Schlosser“, weil er immer schwarze Fingernägel hat vom Schrauben und „Bosseln“.
In Friedrichsdorf [...] [i]n seinem Privatlabor an der Schule experimentiert er mit Strom, den er aus Voltasäulen bezieht, jenen grandiosen Ur-Batterien, die seit Anfang des 19. Jahrhunderts elektrische Energie erstmals verfügbar machen. Bekannt ist ihm das Galvanische Tönen: der Eigenresonanzton, den ein mit isoliertem Draht umwickelter Eisenstab von sich gibt, wenn der Stromkreis geschlossen oder geöffnet wird. Reis entdeckt beiläufig, dass der Eisenstab auch andere Töne von sich geben kann, und will dieses Phänomen nutzen, um Sprache und Musik zu übertragen. Fortan beschäftigt er sich mit der Frage: Wie könnte ein Ton einen Stromkreis so öffnen und wieder schließen, dass es am anderen Ende entsprechend tönt?
Er schnitzt ein übergroßes menschliches Ohr aus Holz; als Trommelfell dient ihm etwas Haut von einer Hasenblase, auf der er ein Stück Platin befestigt. Bewegt sich die Membran, bewegt sich auch das Metall und schließt und öffnet einen Stromkreis, an den eine drahtumwickelte Stricknadel angeschlossen ist, die nun zu tönen beginnt. [...]
Elektrisiert vom Erfolg, baut er immer neue „Geber“, bald sieht das Ohr aus wie eine Kaffeemühle mit seitlich angesetztem Trichter. Der „Nehmer“ hingegen nimmt die Form einer futuristisch verdrahteten Zigarrenschachtel an. Drähte spannen sich vom Wohnhaus in den Garten und zum Institut Garnier hin, ein paar Hundert Meter die Hauptstraße entlang.
„Telephon“ – der ferne Ton – nennt Reis den Sender, den Empfänger „Reproductionsapparat“. Er versteht den Empfänger also nicht als Teil des Telefons, hat noch keinen Begriff vom Ganzen, vom System. Auch hat seine Erfindung einen Makel, der ihren potenziellen Nutzen halbiert: Die Übertragung ist eine Einbahnstraße. Man kann nur etwas durchsagen, nichts erwidern.
Dies wird später das große Plus von Bell sein: Sein Telefon besteht aus einer Muschel, in die man spricht und aus der man hört, abwechselnd. Zudem kommt Bell ohne die plumpen und schnell erschöpften Batterien aus.
Bells Telefon wird noch einen Vorteil haben: Man kann tatsächlich etwas verstehen. Bei Reis ist das nicht immer der Fall. Selbst die berühmten ersten Sätze, die Musiklehrer Peter zu Testzwecken bewusst unsinnig gesprochen haben will, kommen nur verstümmelt an. [...]
Am 26. Oktober 1861 ist der große Moment gekommen. Reis präsentiert sein Gerät erstmals einer kritischen Öffentlichkeit, dem Physikalischen Verein in Frankfurt, dem er seit 1851 angehört: „Über die Fortpflanzung musikalischer Töne auf beliebige Entfernungen durch Vermittlung des galvanischen Stromes“. Aber warum rückt er Musik in den Titel und nicht Sprache? Weil die Sprachübertragung nicht immer klappt. Auch in Frankfurt wollen die Wörter nicht kommen. Die honorige Versammlung ordnet die Sache standesgemäß ein: Welch hübsche Spielerei dieses Lehrers!
[...] Hätten sich ein paar mehr kluge Köpfe über sein Telefon gebeugt, wäre der Grund der Unzuverlässigkeit schnell erkannt worden: Was Reis nämlich für das Wirkprinzip hielt – das Öffnen und Schließen des Stromkreises –, behinderte in Wahrheit die Funktion. Sein Telefon konnte nur etwas Detailliertes übertragen, wenn der Stromkreis geschlossen war. Dann schwankte der elektrische Widerstand am losen Platinkontakt im Takt der Sprache und modulierte so die Wiedergabe. Intuitiv hatte Reis deshalb bei jedem Gerät eine Stellschraube eingebaut. Sein Justieren war immer dann erfolgreich, wenn er das vermutete Wirkprinzip durch seine Fummelei außer Kraft setzte.
1864 zeigt er seinen Apparat vor der illustren Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte in Gießen – weiter kommt er nicht mehr. Dem Erfinder fehlen das Echo, die Energie und letztlich auch das kommerzielle Ziel: Trotz seiner Kaufmannslehre strebt er nie das große Geschäft an, sondern immer nur die wissenschaftliche Anerkennung. Die bleibt ihm versagt.
[...] Alexander Graham Bell wird in einem der vielen Patentprozesse später zugeben, das deutsche Telefon gekannt zu haben. Aber da ist es für Reis längst zu spät. Unheilbar erkrankt er an der Lungenschwindsucht. Er stirbt, kurz nach seinem 40. Geburtstag, am 14. Januar 1874 in Friedrichsdorf. [...]
Als die ersten Bellschen Apparate am 26. Oktober 1877 in Berlin getestet werden, ist Generalpostmeister Heinrich von Stephan enthusiasmiert. Sofort beginnt er mit dem Aufbau eines Netzes. Siemens fertigt Nachbauten zu Tausenden an, ohne sich um das amerikanische Patent zu scheren. Schnell wird klar, welche Chance man im Jahr 1861 verpasst hat. Das hindert die Reichspost nicht, Reis auch noch den Namen seiner Erfindung zu nehmen. Von Amts wegen heißt es fortan „Fernsprecher“. Klingt deutscher! Einzig wir, das Volk, sprechen bis heute respektvoll vom Telefon.

Ulrich Stock, „Das Reis-Phone“, in: Die Zeit, Nr. 42 vom 13. Oktober 2011

Prof. Dr. Jürgen Osterhammel ist seit 1999 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die neuere Geschichte Chinas, die Geschichte internationaler und interkultureller Beziehungen, Kolonialismus, Imperialismus sowie Ideengeschichte, Historiographiegeschichte und Geschichtstheorie. Sein Buch Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (München 2009, 5. Aufl. 2010) wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Gemeinsam mit Akira Iriye (Harvard) ist er Herausgeber einer sechsbändigen Geschichte der Welt (München 2012 ff.).
Derzeitiges Forschungsgebiet: Raum- und Zeitstrukturen historischer Prozesse, vor allem am Beispiel des 19. Jahrhunderts. Jüngste Buchveröffentlichungen: mit Jan C. Jansen: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, 7., neubearb. Aufl., München 2012;
mit Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen – Prozesse – Epochen, 5. Aufl., München 2012 (amerikanische Ausgabe 2005);
mit Fritz Stern (als Hg.): Moderne Historiker. Klassische Texte von Voltaire bis zur Gegenwart, München 2011.