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Die USA: der müde Hegemon | bpb.de

Die USA: der müde Hegemon

Stephan Bierling

/ 13 Minuten zu lesen

Der Aufstieg neuer Mächte, langjährige Kriegseinsätze im Irak und in Afghanistan, eine schwere Wirtschaftskrise und die parteipolitische Polarisierung haben die globale Führungsposition der USA geschwächt. Das Interesse Amerikas richtet sich zunehmend auf den pazifischen Raum, Europa und der Mittlere Osten werden unwichtiger. Die Europäer werden künftig mehr sicherheitspolitische Aufgaben übernehmen müssen.

Gerade hat Präsident Obama die US-Kampftruppen aus dem Irak und Afghanistan zurückgeholt, da muss er schon über einen neuen Militäreinsatz gegen die Terrororganisation Islamischer Staat nachdenken. Besuch auf der Bagram Airbase, dem Hauptquartier der US-Streitkräfte in Afghanistan 2012. (© picture alliance / ZUMA Press / Pete Souza)

Am 28. Mai 2014 hielt US-Präsident Barack Obama, seit 2009 im Amt, an der Militärakademie in West Point eine außen- und sicherheitspolitische Grundsatzrede. In ihr betonte er, dass die USA zwar ihre weltpolitische Führungsrolle weiter wahrnähmen, aber künftig sehr viel seltener militärische Mittel einsetzen und vor allem über Partner und internationale Organisationen handeln würden. "Seit dem Zweiten Weltkrieg", sagte Obama, "entstanden einige unserer kostenträchtigsten Fehler nicht aus unserer Zurückhaltung, sondern aus unserer Bereitschaft, uns in militärische Abenteuer zu stürzen, ohne die Folgen zu durchdenken." Zwölf Jahre zuvor hatte sein Vorgänger George W. Bush, der von 2001 bis 2009 amtierte, an derselben Stelle noch betont, die USA würden als Antwort auf die Anschläge vom 11. September 2001 einen globalen "Krieg gegen den Terror" führen, notfalls mit Präventivschlägen und ohne Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. Wie konnte es dazu kommen, dass die USA, die zur Jahrhundertwende auf dem Zenit ihrer Macht standen, ihre Vormachtstellung in der Welt heute so zurückhaltend definieren?

Ursachen der Zurückhaltung in der Weltpolitik


Der "unipolare Moment" (so der US-Kolumnist Charles Krauthammer), den die USA nach dem Sieg im Kalten Krieg und dem Zerfall der Sowjetunion erlebten, ist zu Ende. Dafür gibt es mehrere Gründe: das veränderte internationale Umfeld, das außenpolitische Verhalten der USA nach 9/11 und die inneramerikanischen Entwicklungen.

Das veränderte internationale Umfeld


Unmittelbar nach dem Ende des Ost-West-Konflikts waren alle potenziellen Rivalen der USA um eine führende Rolle in der internationalen Politik – die EU, China oder Russland – ökonomisch und/oder militärisch zu schwach, um ein Gegengewicht zu Washington bilden zu können. Aber aufgrund der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung vieler Schwellenländer reduzierte sich der Machtvorsprung der USA im Laufe der Zeit. Die chinesische Wirtschaft zum Beispiel wuchs seit den frühen 1990er-Jahren mit mehr als zehn Prozent pro Jahr, nach 2000 lagen auch die Wachstumsraten Russlands, Indiens und Brasiliens deutlich über fünf Prozent. Die steigende ökonomische Prosperität erlaubte es diesen Staaten, ihre Verteidigungsbudgets zu erhöhen und ihren internationalen Einfluss auszubauen. Zugleich sind alte Partner der USA weniger bereit, Washingtons Führung zu folgen. Im Kalten Krieg beschützten die USA Westeuropa militärisch, und die Westeuropäer unterstützten Washington im Gegenzug politisch. Diesen "Deal" gibt es heute nur mehr eingeschränkt.

Hinzu kommt, dass kleinere Mächte, die der Ost-West-Konflikt diszipliniert hatte, ihre außenpolitischen Ziele seit seinem Ende aggressiver verfolgen. Der Irak marschierte 1990 in Kuwait ein, Serbien versuchte seit 1991, auf dem Balkan gewaltsam seine Interessen durchzusetzen, Nordkorea bedroht Südkorea und Japan mit seinen Atomwaffen, Iran verfolgt ebenfalls nukleare Ambitionen. Staaten mit Massenvernichtungswaffen können ihre Interessen rücksichtsloser durchsetzen, weil sie kaum mehr sanktionierbar sind. Das alles stellt die "pax americana", die von den USA garantierte Friedensordnung, in Frage.

Schließlich veränderten sich auch im Bereich der Kriegführung seit 1990 die Spielregeln. Islamistische Terroristen scheuten nicht davor zurück, Selbstmordanschläge mit Bomben und am 11. September 2001 mit entführten Zivilflugzeugen auf die USA zu verüben. In den Kriegen im Irak und in Afghanistan mussten Washington und seine Verbündeten erfahren, welch katastrophale Attentate Aufständische mit versteckten, selbstgebauten Bomben, sogenannten Improvised Explosive Devices (IED), verüben konnten. In einer neuen Welt der asymmetrischen Kriegführung von zu allem entschlossenen Terroristen und Guerillakämpfern relativierte sich die amerikanische Überlegenheit bei Rüstungsausgaben und Waffentechnologie.

Diese Entwicklungen hätten die unipolare Stellung der USA über kurz oder lang unterminiert. Im Rückblick ist eher überraschend, wie lange die amerikanische Vorherrschaft andauerte und nicht herausgefordert wurde. Das hatte zum einen damit zu tun, dass die Unipolarität quasi über Nacht entstanden war, als die Sowjetunion 1991 unter der Last ihrer ungelösten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Probleme zusammenbrach. Angesichts der übergroßen Überlegenheit der USA schien jede Koalitionsbildung gegen sie aussichtslos. Zum anderen erschienen die Vereinigten Staaten in den 1990er-Jahren als gütiger Hegemon, der multilateral handelte, Bündnisse stärkte, Handelsabkommen vorantrieb und dabei die Interessen anderer Staaten berücksichtigte. Potenzielle Machtkonkurrenten sahen also weder eine Aussicht auf Erfolg noch eine Veranlassung, gegen die USA zu opponieren.

Die amerikanische Antwort auf 9/11


Das änderte sich mit den Anschlägen von al-Qaida-Terroristen auf das World Trade Center in New York und das Verteidigungsministerium (Pentagon) in Washington am 11. September 2001. Präsident Bush beendete die Phase der außenpolitischen Zurückhaltung der USA und führte sein Land mit geballtem Einsatz auf die Weltbühne zurück. Bei der Vertreibung der Taliban-Regierung, die al-Qaida in Afghanistan Unterschlupf und Trainingscamps geboten hatte, stand die internationale Gemeinschaft noch geschlossen hinter Washington. Als die Regierung Bush im Zuge ihres globalen "Kriegs gegen den Terror" 2002 jedoch den Irak ins Visier nahm und 2003 dort militärisch intervenierte, zerfiel diese Unterstützung. Viele Staaten, darunter Deutschland, Frankreich und Russland, betrachteten das unilaterale kriegerische Vorgehen Washingtons als Verstoß gegen etablierte Normen internationaler Zusammenarbeit.

Der Irakkrieg geriet für die USA zum Fiasko: Die Kriegsbegründung, der irakische Diktator Saddam Hussein verfüge über Massenvernichtungswaffen und arbeite mit al-Qaida zusammen, erwies sich als falsch; die US-Truppen fanden sich nach der schnellen Eroberung des Landes bald in einem aufreibenden Guerillakrieg wieder. Der Irak taumelte am Rande eines Bürgerkriegs; Menschenrechtsverletzungen wie das Gefangenenlager in Guantanamo, der Missbrauch irakischer Häftlinge im Gefängnis Abu Ghraib und Folterpraktiken wie das Waterboarding beschädigten das Ansehen der USA schwer. Der internationale "Goodwill", der den USA nach 9/11 entgegengeschlagen war, verkehrte sich ins Gegenteil. Zwar gelang es der Regierung Bush seit 2007, den Irak durch eine Truppenaufstockung und Strategieänderung bei der Aufstandsbekämpfung zu stabilisieren und ein Abkommen über den Abzug amerikanischer Kampftruppen bis Ende 2011 auszuhandeln. Aber zugleich attackierten neu formierte Taliban-Kämpfer seit 2006 die westlichen Streitkräfte in Afghanistan mit großer Vehemenz. Bushs Nachfolger Obama verdreifachte die Zahl der US-Truppen in Afghanistan auf 130 000 Soldaten, um das Land zu befrieden und die Bedingungen für ein Ende der Mission zu schaffen. Damit stiegen die Kosten für die USA jedoch weiter. Am Ende der beiden Kriege standen mehr als 6800 gefallene US-Soldaten, ein durch die jahrelangen schwierigen Einsätze überstrapaziertes Militär und fast vier Billionen US-Dollar an direkten Militärausgaben und Folgekosten.

Entwicklungen innerhalb der USA


Die langen Kriege mit ihren hohen Kosten ließen den innenpolitischen Konsens für eine aktive Außenpolitik erodieren, der sich durch 9/11 herausgebildet hatte. Ende 2013 war die Zustimmung der Bevölkerung zu einer globalen Führungsrolle der USA so niedrig wie zu keinem anderen Zeitpunkt seit Umfragebeginn 1964. 52 Prozent der US-Bevölkerung meinten, ihr Land sollte sich um sich selbst kümmern und andere Staaten allein zurechtkommen lassen. 2002 waren nur 30 Prozent dieser Auffassung gewesen. Das hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass in den USA 2008 eine Immobilienblase platzte, das gesamte Finanzsystem ins Wanken geriet und das Land in seine schwerste Wirtschaftskrise seit der Großen Depression in den 1930er-Jahren stürzte. Arbeitslosenquote und Haushaltsdefizit schossen 2010 auf zehn Prozent in die Höhe. Wirtschafts- und sozialpolitische Themen rückten ins Zentrum der Debatten, die Außen- und Sicherheitspolitik verloren an Relevanz. Schließlich lähmt das Aufkommen der fundamentalistischen Tea Party-Bewegung in der Republikanischen Partei seit 2011 das politische System und lässt die USA handlungsunfähig erscheinen.

QuellentextBürde einer Supermacht

[…] Das Problem mit Obamas Außenpolitik ist, dass sie aus einer negativen Selbstbeschreibung erwächst. Er war angetreten, die Fehler von Bush nicht zu wiederholen, der Amerika in zwei lange Kriege verwickelt hat. Noch in seiner letzten außenpolitischen Grundsatzrede im Mai [2014] hat Obama all jene, die nach mehr Führung Amerikas in der Welt verlangten, implizit als interventionssüchtige Kriegstreiber beschrieben. Ganz so, als gäbe es in der Außenpolitik nur zwei Handlungsmuster – Überreaktion à la Bush im Irak oder weitgehend Raushalten à la Obama – und nichts dazwischen.

Alles, was nicht in das Narrativ dieser Regierung passte, wurde verdrängt. Im Jahr 2011 hatte Obama den endgültigen Abzug Amerikas aus dem Irak mit den Worten verkündet, man hinterlasse ein "souveränes, stabiles und selbstständiges Land" mit einer "repräsentativen Regierung". Als die New York Times 2012 einen Artikel veröffentlichte über steigende Opferzahlen, musste sich der Bagdad-Korrespondent des Blattes ein wütendes Dementi aus dem Büro von Vizepräsident Joe Biden anhören. Auch als immer deutlicher wurde, dass der schiitische Premier Militär und Verwaltung von Sunniten säuberte, wollte man im US-Außenministerium davon nichts wissen. Und als der IS Ende des vergangenen Jahres schon Falludscha eingenommen hatte, spielte der Präsident die Gefahr herunter. IS sei ein Nachwuchsteam, meinte er verächtlich. Inzwischen hält selbst sein Verteidigungsminister dieses "Nachwuchsteam" für die gefährlichste Terrorgruppe der Welt. Solche Realitätsverweigerung erinnert an Bushs Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, der nach der Invasion im Irak noch lange behauptete, es sei doch alles in Ordnung im Land. Da starben jeden Tag schon Dutzende von Menschen in den Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten.

Die Regierung Obama ist über die Jahre zu einer abgeschotteten Insel geworden. Am Anfang war das noch anders. Es gab Persönlichkeiten im Kabinett mit eigenen Ansichten. Es wurden sogar Vergleiche gezogen zu Abraham Lincolns berühmtem "Team von Rivalen". Inzwischen ist daraus ein Team weitgehend Gleichgesinnter geworden. Und selbst Obama zugeneigte Kommentatoren ziehen unvorteilhafte Vergleiche zu Bush. Der habe in seiner ersten Amtszeit zwar viele Fehler gemacht, habe diese aber dann wenigstens korrigiert mit einem neuen Team und persönlichem Engagement. Das sei bisher bei Obama anders. "Es ist schwer, sich an einen Präsidenten der jüngeren Geschichte zu erinnern, der im Amt so wenig gewachsen ist", stellt David Rothkopf, Chefredakteur des Außenpolitikmagazins "Foreign Policy" fest.

Mit dem erneuten militärischen Engagement im Nahen Osten verabschiedet sich Obama nun stillschweigend von der Obama-Doktrin. Die basierte auf der Annahme, dass Bush das grundlegende Problem amerikanischen Engagements in der Welt sei. Wenn Amerika sich nur zurücknähme und eine weniger aggressive Außenpolitik betriebe, dann würde es weniger Anstoß erregen, geringeren Widerstand gegen seine Politik erleben und einen Ausgleich finden können mit problematischen Akteuren in der Welt. Ein fast schon europäisch anmutendes Missverständnis.

Denn die Schurken dieser Welt – von Assad in Syrien, Putin in Russland, dem neuen Kim in Nordkorea bis zum Kalifen von Mosul – haben eben keine Polit-Seminare bei Soft-Power-Guru Joseph Nye in Harvard belegt, sondern sie glauben weiter an die klassische Hard Power. Und wenn Amerika diesen Teil seines außenpolitischen Instrumentariums zurückfährt, dann testen sie aus, was geht. Die aus den Fugen geratene Ordnung wieder aufzurichten, ist in der Regel kostspieliger, als es frühzeitiges und beständiges Engagement gewesen wäre. Siehe Syrien und Irak.

Eine liberale und stabile Weltordnung zu bewahren, bedarf der ständigen Anstrengung, um sie gegen autoritäre und Unordnung säende Akteure zu verteidigen. Wenn Amerika das nicht übernimmt, dann wird es auch kein anderes Land tun. Es gehört zur Bürde einer Supermacht, dabei auch Fehler zu begehen, die kritisiert werden, und nicht einmal dort Lob zu ernten, wo man eine positive Rolle spielt. Aber wer hat schon behauptet, die Welt sei eine faire Veranstaltung? Obama muss nun im Irak und in Syrien mehr investieren. Nicht, weil er es gerne möchte, sondern weil es der Rolle entspricht, die Amerika spielen muss, wenn es das Feld nicht anderen, weniger gutartigen Spielern überlassen will.

Clemens Wergin, "Amerikas Auftrag", in: Die Welt vom 12. September 2014

Die Folgen: Rückzug aus der Weltpolitik


Obama trug dem Kräfteverschleiß der USA durch die Kriege im Irak und in Afghanistan und durch die Wirtschaftskrise Rechnung, indem er die außen- und sicherheitspolitischen Verpflichtungen reduzierte. Zwar war er nie ein Pazifist, der Krieg aus ethischen Erwägungen ablehnte, wie viele seiner Unterstützer hofften. Aber er stand unilateralen Militärinterventionen skeptisch gegenüber, vor allem, wenn sie sich nicht gegen direkte Bedrohungen für die Sicherheit der USA richteten. Er beendete deshalb den Irakkrieg und kündigte 2011 den Rückzug aller Kampftruppen aus Afghanistan bis Ende 2014 an. Zugleich wollte er keine neuen militärischen Verpflichtungen eingehen.

Gegenüber dem Iran setzte Obama auf eine diplomatische Lösung des Nuklearkonflikts, im libyschen Bürgerkrieg beschränkte er sich darauf, Frankreich und Großbritannien beim Schutz der Zivilbevölkerung zu unterstützen, in Mali und in der Zentralafrikanischen Republik überließ er Frankreich den Einsatz gegen islamistische Rebellen. Auch in den syrischen Bürgerkrieg griffen die USA nicht militärisch ein. Selbst als dort im Sommer 2013 Chemiewaffen eingesetzt wurden, hielt sich Obama zurück, obwohl er dies zu Beginn des Konflikts als "rote Linie" bezeichnet hatte.

Mit der Reduzierung des militärischen Engagements in der Welt, die der US-Präsident seinem Land verordnete, fand er sich im Einklang mit seiner Bevölkerung. Bis zu einem gewissen Maß war der Rückzug auch ohne Alternative – nach der "imperialen Überdehnung" beim Krieg gegen den Terror und angesichts der wirtschafts- und sozialpolitischen Probleme benötigen die USA eine Phase der Neuordnung ihrer außenpolitischen Prioritäten und der ökonomischen Genesung. Dieser militärische Rückzug birgt jedoch auch Risiken – für die USA und die übrige Welt.

Bei vielen Bündnispartnern wächst die Skepsis, ob Washington ihnen im Ernstfall zu Hilfe eilen und seine Beistandspflichten einhalten wird. Zugleich ermuntert der Rückzug globale und regionale Rivalen der USA, in das entstandene Vakuum vorzustoßen und zu testen, inwieweit sie ihre Interessen durchsetzen können. Dass Obama seinen Ankündigungen oft keine Taten folgen ließ und Fehlverhalten nicht bestrafte wie im Fall des syrischen Giftgaseinsatzes oder der russischen Annexionspolitik, schwächt das Vertrauen in die Handlungsbereitschaft der US-Regierung. Im Mittleren Osten, etwa bei Israel, Saudi-Arabien und den Golfscheichtümern, regen sich Zweifel an den Zusagen Washingtons, den Iran notfalls mit Waffengewalt am Bau von Nuklearwaffen zu hindern. In Ostasien, wo Peking seine Ansprüche auf umstrittene Inseln im ost- und südchinesischen Meer immer aggressiver vertritt, wachsen die Zweifel bei Japan, den Philippinen oder Indonesien, ob die USA dem chinesischen Bestreben, seinen Einfluss- und Herrschaftsbereich zu erweitern, entgegentreten werden.

Ingram Pinn / Financial Times vom 14.4.2011; used under Licence from the Financial Times. All Rights Reserved. (© Ingram Pinn / Financial Times vom 14.4.2011; used under Licence from the Financial Times. All Rights Reserved.)

Damit stehen nicht nur die Interessen langjähriger Verbündeter und Partner der USA zur Disposition, sondern auch die gesamte internationale Ordnung. Ihr wesentliches Kennzeichen war seit Ende des Zweiten Weltkriegs, dass die USA einer Veränderung des Status quo entgegentraten und damit die Sicherheit ihrer Partner garantierten. Sollten diese Staaten ihren Glauben in die Schutzzusagen Washingtons verlieren, müssten sie ihre Sicherheitsinteressen zwangsläufig selbstständig wahrnehmen. Der Erwerb von Atomwaffen durch Japan, Saudi-Arabien und Ägypten wäre ein nicht unwahrscheinliches Szenario. Damit könnten Eckpunkte der internationalen Ordnung wie die Nichtverbreitung von Atomwaffen infrage gestellt werden, neue Rüstungswettläufe beginnen und sich die Sicherheitspolitik renationalisieren. Die Welt würde nach weit verbreiteter Ansicht chaotischer und gefährlicher. Für Deutschland und die EU, die auf stabile Absatzmärkte und offene Handelswege angewiesen sind und expansionistischer Machtpolitik militärisch wenig entgegenzusetzen haben, hätte eine solche Entwicklung äußerst negative Folgen.

Allerdings zeigte sich im Verlauf des Jahres 2014, dass die USA ihre weltpolitische Rolle wieder aktiver wahrnahmen. Angesichts Moskaus völkerrechtswidriger Annexion der Krim und seiner militärischen Destabilisierung der Ukraine wirkte Obama in enger Abstimmung mit Bundeskanzlerin Angela Merkel erfolgreich auf eine geschlossene Reaktion des Westens hin. Bei seinem Besuch in Estland im September 2014 versicherte er den baltischen Staaten, dass die NATO-Beistandsgarantie uneingeschränkt gelte. Als die Terrororganisation Islamischer Staat im Irak und in der Levante (ISIL, seit Juni 2014 IS) Mitte 2014 immer größere Gebiete des Irak unter ihre Kontrolle brachte, schmiedete der US-Präsident eine internationale Koalition aus 59 Staaten mit dem Ziel, den IS durch politische und/oder militärische Maßnahmen zurückzudrängen und zu zerstören. Die USA kamen als einzige Macht den vom IS im syrischen Kobane belagerten Kurden mit Kampfflugzeugen zu Hilfe. Zudem entsandte Washington 1500 Soldaten in den Irak, um dessen Armee im Kampf gegen den IS zu beraten und auszubilden. Schließlich kündigte Obama an, auch nach dem offiziellen Ende des NATO-Kampfeinsatzes 2015 in Afghanistan bis zu 10.800 US-Soldaten im Land zu belassen, um die afghanischen Sicherheitskräfte auszubilden und notfalls Anti-Terrormaßnahmen durchzuführen. All dies zeigte, dass sich die USA nach Jahren der Zurückhaltung angesichts massiver sicherheitspolitischer Herausforderungen wieder stärker in der Welt zu engagieren begannen.

Perspektiven für eine Führungsrolle


Der "unipolare Moment" der USA in der Weltpolitik, der von 1991 bis 2003 dauerte, war eine Anomalie im internationalen System und wird nicht zurückkehren. Gleichwohl werden die USA auf absehbare Zeit der zentrale globale Akteur bleiben. Dafür sprechen sieben Gründe:

Erstens verfügen die USA über eine einzigartige geografische Lage. Geschützt von zwei Ozeanen und mit zwei freundlich gesinnten, militärisch schwachen Nachbarn an ihrer Nord- und Südgrenze droht ihnen auf dem eigenen Kontinent keine Gefahr. Aus einer geopolitisch so vorteilhaften Lage können die USA freier als andere Mächte entscheiden, in welchen Regionen und Konflikten sie sich engagieren. Wenn hingegen China oder Russland ihren außenpolitischen Einfluss auszudehnen versuchen, müssen sie stets mit dem Widerstand ihrer vielen Nachbarn rechnen. Je stärker sie ihre Gebiets- oder Machtansprüche durchsetzen, desto stärker wird dieser Widerstand ausfallen.

Zweitens sind die USA nach wie vor die größte Militärmacht der Welt. 2014 kamen sie für 14 Prozent der globalen Verteidigungsausgaben auf. Zwar sinkt dieser Anteil im Zuge der Kürzungen in ihrem Militärhaushalt und der schnellen Aufrüstung Chinas und Russlands (Weltanteil 2013: 12 % bzw. 5 %) seit einigen Jahren. Aber die USA werden auf absehbare Zukunft die Nummer Eins bleiben und auch ihren technologischen Vorsprung bewahren. Gerade bei der Logistik, bei vom Radar nicht erfassbaren "Stealth"-Flugzeugen, bei Kampfdrohnen und beim Cyberkrieg (Cyber Warfare) sind die USA allen Rivalen bislang deutlich überlegen.

Drittens verfügen die USA über eine große Zahl von Verbündeten und Partnern. Nicht nur die NATO mit ihren 28 Mitgliedern, sondern auch bilaterale Verträge etwa mit Japan, Australien, Südkorea oder Israel stärken sie. Die Verbündeten bieten den Vereinigten Staaten Basen, militärische Unterstützung und politische Rückendeckung. Insgesamt kommen die USA mit ihren Partnern für zwei Drittel der weltweiten Verteidigungsausgaben auf. Dagegen haben die wichtigsten Konkurrenten Washingtons, China und Russland, keine erwähnenswerten Verbündeten. Trotz einer gewissen Kooperation gegen die USA stehen sich Peking und Moskau auch stets als Rivalen gegenüber. Schließlich treibt ihr zuletzt aggressives Verhalten weitere Länder wie Vietnam, Indonesien, Malaysia oder Schweden an die Seite der USA. Sie alle sehen in Washington die beste Garantie für die eigene Sicherheit.

Viertens gewinnen die USA an ökonomischer Stärke zurück. Sie bewältigten die schwere Wirtschaftskrise von 2008 besser als die EU-Staaten, in Zukunftsbranchen wie der Informations- oder Biotechnologie sind US-Unternehmen führend. Zugleich profitieren die Privathaushalte und Unternehmen von niedrigen Energiepreisen, weil die Fördermethode des Fracking riesige neue Gas- und Ölvorräte im Lande erschließt. Seit 2010 sind die USA der weltweit größte Produzent von Erdgas, seit 2014 auch von Erdöl. Dank der Forschungsstärke der Spitzenuniversitäten, der Zuwanderung von Fachkräften und der im Vergleich mit allen anderen Industriestaaten höchsten Geburtenrate sind die langfristigen Aussichten für die US-Wirtschaft positiv.

Fünftens verfügen die USA über ein Sendungsbewusstsein, das zu einer aktiven Außenpolitik verpflichtet. Es gibt kaum eine Rede eines US-Präsidenten, die nicht auf die besondere Verantwortung des Landes für die Ausbreitung von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten verweist. Das klingt bisweilen wie eine Floskel, bietet aber einen Ansatzpunkt, eine skeptische Bevölkerung für ein internationales Engagement zu gewinnen.

Sechstens bleibt der "American way of life" attraktiv. Obwohl das Ansehen der USA durch Guantanamo, Abu Ghraib, Folter und die NSA-Spionageaffäre gelitten hat, so hat die US-Gesellschaft immer wieder bewiesen, dass sie politische Fehlentwicklungen überwinden und sich reformieren kann. Nach wie vor sind Filme, TV-Serien und Popmusik Made in America weltweit erfolgreich. Individuelle Freiheit, Konsumkultur, Aufstiegschancen und Demokratie bleiben anziehungskräftige Markenzeichen der USA.

Siebtens gibt es auf absehbare Zeit keine Macht oder Gruppe von Mächten, die anstelle der USA treten könnten. Die EU, obwohl wirtschaftlich ähnlich stark wie die USA, ist außen- und sicherheitspolitisch nach wie vor uneinig und handlungsschwach. China erstarkt rasant, hat jedoch mit Japan, Indien, Vietnam oder Indonesien viele Nachbarn, die sich durch seinen Aufstieg bedroht fühlen und Peking eindämmen wollen. Russland kann vielleicht kleinere Nachbarn wie Georgien oder die Ukraine militärisch und energiepolitisch bedrängen, aber seine Wirtschaft ist völlig von Öl- und Gasexporten abhängig und nicht wettbewerbsfähig, seine Bevölkerung schrumpft und seine Annexionspolitik stößt weltweit auf Ablehnung. Brasilien, Indien und Südafrika, die drei demokratischen Mitglieder der BRICS-Gruppe, fallen entweder nach einem guten Jahrzehnt schnellen Wachstums derzeit wirtschaftlich wieder zurück oder haben massive innenpolitische Probleme und bisher nicht bewiesen, dass sie global Verantwortung übernehmen wollen.

Fazit: die unverzichtbare Nation


Die USA werden im 21. Jahrhundert nicht mehr so selbstverständlich als globale Führungsmacht auftreten, wie sie dies im Kalten Krieg und in den beiden Jahrzehnten danach noch taten. Das hat seine Ursachen in der Verschiebung der weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Gewichte sowie im wachsenden Isolationismus ihrer Gesellschaft. Aber nur die Vereinigten Staaten verfügen über die Kombination aus militärischer und ökonomischer Macht, aus gesellschaftlicher Attraktivität und Sendungsbewusstsein, um dem Zerfall der internationalen Ordnung wirkungsvoll entgegenzuwirken.

Die USA werden diese Aufgaben am ehesten dann annehmen, wenn sie die Lasten stärker als in der Vergangenheit mit ihren Partnern teilen können. Diese sollten sich deshalb konzeptionell, politisch und militärisch auf ein Zeitalter vorbereiten, in welchem sie Washington ihren Wert als Bündnispartner nachweisen müssen, wollen sie die USA für eine gemeinsame Sicherheitspolitik gewinnen. Es wird wohl nie wieder wie im Kosovo-Krieg sein, in dem das US-Militär 85 Prozent der Angriffe gegen die serbischen Stellungen flog, oder wie in Afghanistan, wo die USA zwei Drittel der ISAF-Truppe stellten und die Kämpfe gegen die Taliban zu großen Teilen allein führten. Das Kooperationsmodell der Zukunft dürfte sich am Libyen-Einsatz orientieren, in dem Frankreich und Großbritannien die Führung übernahmen und die USA Logistik und Munition stellten. Für Europa heißt das, sich intensiver über Operationen Gedanken zu machen, bei denen es mit eingeschränkter oder ohne US-Beteiligung operieren muss, etwa bei der Sicherung von Seehandelsrouten oder beim Kampf gegen islamistische Rebellen in Nordafrika.

Europa wird auch deshalb öfter allein handeln müssen, weil sich die USA verstärkt auf die zentrale außenpolitische Herausforderung des 21. Jahrhunderts konzentrieren werden: den Aufstieg Chinas. Die Hinwendung (pivot) zum pazifischen Raum, genauer Ostasien, verfolgt die Obama-Regierung systematisch. Botschaften in der Region werden aufgestockt, Militärstützpunkte wie in Guam ausgebaut, Basen bei befreundeten Nationen wie Australien errichtet, alte Partnerschaften wie mit Japan, Australien, den Philippinen oder Indonesien intensiviert, neue wie mit Indien, Malaysia oder Vietnam vorbereitet. Aber auch die asiatischen Partner werden nicht umhinkommen, den USA zu demonstrieren, dass sie ihren eigenen Beitrag leisten, um die Sicherheit in der Region zu erhalten. Die Debatte in Japan über eine Reform der Verfassung, die der Verteidigungspolitik bisher enge Grenzen setzt, ist ein Schritt in diese Richtung. Die USA dürften im 21. Jahrhundert die einzige Macht mit globalem Führungsanspruch bleiben, allerdings werden verbündete, wohlhabende Mittelmächte wie Japan, Großbritannien, Deutschland und Frankreich gefragt sein, einen größeren Anteil an der Stabilisierung ihrer jeweiligen Weltregionen zu übernehmen.

QuellentextCodewort "Pazifisches Jahrhundert"

[…] Robert D. Kaplan: […] Das "pazifische Jahrhundert" ist so etwas wie ein Codewort. In Wirklichkeit handelt es sich um den Indo-Pazifik, also um das Gebiet zwischen Indien und Japan. Den Begriff "Indo-Pazifik" würde allerdings niemand verstehen. Man könnte auch sagen, es ist eine Verlagerung weg vom Nahen und Mittleren Osten.

IP: Warum ist der Indische Ozean oder der Indo-Pazifik so wichtig?

Kaplan: Der Indische Ozean ist die wichtigste Energieautobahn der Welt, über die das Erdöl und das Erdgas des Mittleren Ostens zu den hunderten Millionen Konsumenten in Ostasien transportiert wird, die nach dem Status einer Mittelschicht streben. Der Indische Ozean verbindet den Mittleren Osten mit Asien. Der Indo-Pazifik ist das maritime Ordnungsprinzip Eurasiens.

IP: Welche strategischen Folgen hat diese Verlagerung?

Kaplan: Nun, ich glaube, im Moment ist der Schwenk in Richtung Asien noch mehr ein Bestreben als eine tatsächliche Entwicklung […]. […] Die Rede vom "pazifischen Jahrhundert" dient […] als Rückversicherung für die asiatischen Verbündeten, offizielle wie Japan und Südkorea sowie inoffizielle wie Vietnam, Malaysia und natürlich Indien. Die Botschaft für sie lautet: Trotz gekürzter Rüstungsausgaben wird es in der Region auch weiterhin eine gleichwertige Militärpräsenz der USA geben.

IP: Wie wird das amerikanische Engagement in der Region aufgenommen?

Kaplan: Die Vereinigten Staaten sind in Asien schon immer beliebter gewesen als im Nahen Osten oder in Europa. […] Die Vereinigten Staaten haben dort […] kein Imageproblem. In Südasien spielt eher ein anderes Problem eine Rolle: die Angst vor dem Machtverlust der USA. Die asiatischen Partner fürchten, Amerika könnte sich zurückziehen, und sie wären dann China ausgeliefert, ihrem größten Handelspartner, der direkt nebenan wohnt.

IP: Sie haben außerdem von einem "New Great Game" in der Region geschrieben […]

Kaplan: […] das zwischen Indien und China ausgetragen wird, die sich in einem heftigen Konkurrenzkampf um Einfluss in Ländern wie Sri Lanka, Bangladesch oder Nepal befinden. Es hat etwas von "wie du mir, so ich dir": Die Chinesen bauen einen Hochseehafen in Gwadar in Pakistan, also bauen die Inder Hochseehäfen entlang ihrer Ostküste. Manche Länder sind sehr geschickt darin, beide Seiten gegeneinander auszuspielen. Bangladesch hat es geschafft, in beachtlichem Maße sowohl chinesische als auch indische Entwicklungshilfen zu beziehen, Birma auch.

IP: Spielen die USA auch eine Rolle in diesem "New Great Game"?

Kaplan: Die amerikanischen Interessen stimmen mit denen der Inder völlig überein. Die bloße Existenz Indiens ist ein strategischer Glücksfall für die USA. Allein der Platz, den die Inder auf der Landkarte einnehmen, beschert Indien eine Schlüsselrolle. […]

IP: Wie wichtig ist der Faktor "Furcht vor China"?

Kaplan: Aus amerikanischer Perspektive betrachtet ist "Furcht" nicht das richtige Wort. Der Aufstieg Chinas ist normal und legitim. China ist kein "Schurkenstaat" wie der Iran, der die Existenz anderer bedroht. In vielerlei Hinsicht ähnelt Chinas Aufschwung dem der Vereinigten Staaten nach Ende des Bürgerkriegs 1865. Das Problem ist nur, dass neue Großmächte das System internationaler Beziehungen durcheinander bringen können. Es sollte also vor allem darum gehen, das aufstrebende China friedlich in das internationale System zu integrieren. Einige Länder in der Region, insbesondere die unmittelbaren Nachbarn, fürchten jedoch Chinas Aufstieg. Sie haben Angst vor einer "Finnlandisierung", also einem Szenario, in dem die Chinesen eine Vetomacht über die Außen- und Sicherheitspolitik ihrer Nachbarstaaten erlangen.

IP: Spielt Europa eine Rolle in diesen Entwicklungen?

Kaplan: Vergessen Sie nicht, dass Europa Chinas größter Handelspartner ist. Europa spielt also eine wichtige Rolle, jedoch nur in wirtschaftlicher Hinsicht. […]

Interview von Henning Hoff mit Robert D. Kaplan, einem der renommiertesten US-Auslandsreporter und Korrespondent von Atlantic Monthly und Fellow am Center for a New American Security, in: Internationale Politik 2., März /April 2012, S. 52 ff.

Fussnoten

Prof. Dr. Stephan Bierling ist Professor für Internationale Politik unter besonderer Berücksichtigung der transatlantischen Beziehungen an der Universität Regensburg. Seine Hauptarbeitsgebiete sind die deutsche und amerikanische Außenpolitik, das transatlantische Verhältnis sowie die Innen- und Wirtschaftspolitik der USA. 2013 wurde er in einem bundesweiten Wettbewerb der Zeitschrift UNICUM zum "Professor des Jahres" gewählt.
Kontakt: E-Mail Link: stephan.bierling@ur.de